Bücherwurmloch

„In dem Moment, wo ich was tun will, was mir Spaß macht, werde ich entführt“

„Niemand hat mehr Zeit, um uns Bettler anzusehen, verstehst du, oder Mitleid mit unseren von Zeit und Hunger entstellten Gesichtern zu haben, mit unseren verbundenen Beinen, die an den Knien enden, mit den rotznasigen Babys, die wir in den Armen halten wie Blumensträuße.“

Jai kann sie sehen, die Reichen, die HiFi-Familien, aber selbst gehört er nicht dazu. Im Gegenteil: Er lebt in einer illegalen Blechhüttensiedlung am Rand einer indischen Stadt, in Armut, im Dreck. Jai hat nichts und meistens sehr großen Hunger. Die Menschen hier haben keine Rechte und niemanden, der sie beschützt. Beständig sind sie der Bedrohung ausgesetzt, dass der Ort, an dem sie hausen, von Bulldozern plattgemacht werden.

„Wenn uns was passiert, sind wir selber schuld. Wenn ein Fernseher aus unserem Haus verschwindet, haben wir ihn selbst gestohlen. Wenn wir ermordet werden, haben wir uns selbst das Leben genommen.“

Als plötzlich Kinder verschwinden, beschließen Jai und seine Freunde, wie die Detektive im Fernsehen nach Spuren zu suchen, Leute zu befragen und den Fall zu lösen. Doch es stellt sich schnell heraus, dass dieses Unterfangen schwieriger ist als gedacht – und vor allem auch viel gefährlicher.

Deepa Anappara stammt selbst aus Indien und hat die Atmosphäre dieses Landes großartig eingefangen: den Smog, den Müll, den Gestank, den Schmutz – und die unfassbare, bittere Armut. So viele Menschen, so wenig zu essen. Die Kinder, die arbeiten müssen. Die Erwachsenen, die verzweifelt versuchen, ihre Familien zu versorgen. Dieses Buch ist brutal. Es ist schmerzhaft, traurig, und Deepa Anappara hat gut daran getan, aus der Sicht eines Kindes zu erzählen: Das macht die ganze Geschichte noch härter, gibt ihr eine bittersüße Note. Für diese Kinder ist das die harte Realität, der sie ausgesetzt sind, sie kennen es nicht anders, und wie sie damit umgehen, ist großartig beschrieben – und setzt einem beim Lesen wirklich zu. Besonders das Ende konnte ich nur schwer verdauen. Trotzdem oder gerade deshalb ist dies ein Buch, das ihr lesen solltet. Es erweitert den Horizont, bringt uns eine fremde Lebenswelt näher, öffnet uns die Augen.

Die Detektive vom Bhoot-Basar von Deepa Anappara ist erschienen im Rowohlt Verlag.

Bücherwurmloch

„Es gibt das Erzählen, und es gibt das Schweigen. Und es gibt das Fragen dazwischen“

„Meine gesamte Kindheit über war ich von Exilanten umgeben gewesen, die unsere alte Heimat romantisierten, sodass ich gar nicht umhinkam zu glauben, unser Meer sei das schönste, unser Licht das weichste, unsere Berge die imposantesten und unsere Kultur die reichste von allen. Weshalb jedoch keiner von ihnen in dieses Land zurückkehren wollte, konnte mir niemand erklären.“

Amins Großmutter ist 1981 mit ihm aus dem Libanon nach Deutschland geflohen, 1994 sind sie zurück nach Beirut gegangen, da war Amin ein Jugendlicher. Seine Eltern waren lange zuvor gestorben, und der Libanon war ihm fremd. Der einzige Freund, den er fand, war Jafar. Die beiden streiften durch die halbzerstörte und immer noch gefährliche Stadt, ohne zu merken, dass die eigentliche Gefahr viel näher war als gedacht. In der dritten Zeitebene befindet Amin sich im Jahr 2011, als der Arabische Frühling losbricht, und erinnert sich. An seinen Freund, dessen Verlust er nie verwunden hat, an den Tod seiner Großmutter und alle Geheimnisse, die mit ihr gestorben sind, und an die Zerrissenheit eines Landes, die sich in ihren Bewohnern spiegelt – von denen so viele bis heute vermisst werden.

„Die Tradition der Hakawati ist sehr alt. Früher, vor langer, langer Zeit, war der Hakawati der zweitwichtigste Mann im Land, gleich nach dem König oder Präsidenten.“

Der Hakawati beherrschte die Kunst des Geschichtenerzählens, und diese Kunst steht im Zentrum von Pierre Jarawans zweitem Roman. Er hat ihn einer vom Krieg zerstörten Kultur gewidmet, einem Land, das es in dieser Form nicht mehr gibt, das er durch dieses Buch, durch das Erzählen, wieder lebendig wird. „Das Erzählen kann nichts von dem, was verloren ist, zurückholen. Aber es kann das Verlorene erfahrbar machen.“ Ein Lied für die Vermissten ist in Buchform gegossene Wehmut, das legt schon der Titel nahe. Ein zutiefst trauriger, sentimentaler und dadurch still melancholischer Roman, der uns ein Gebiet näherbringt, über das wir wenig wissen. Sinnlich, emotional, bewegend – absolut lesenswert, denn Pierre Jarawan, der mich bereits mit Am Ende bleiben die Zedern begeistert hat, ist selbst ein Hakawati.

Ein Lied für die Vermissten von Pierre Jarawan ist erschienen im Berlin Verlag.

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„Du bist meine Liebe. Ich bin verrückt nach dir“

„Ich glaube, es lag eine riesige Kiste voll Liebe irgendwo in mir verborgen. Vergessen, unbenutzt, von der Zeit, dem Wind, dem Regen beschädigt. Du hast es geschafft, so tief zu graben, dass sie wieder zum Vorschein gekommen ist.“

So klingt eine der Nachrichten, die zwei Verliebte einander schreiben – und aus denen dieser gesamte Roman besteht. Er ist aufgebaut wie ein einziger langer SMS- oder Whatsapp-Dialog, auch im Layout. Das bedeutet: Man hat beim Lesen das Gefühl, hautnah dabei zu sein – man ist aber auch nach ungefähr einer Stunde mit dem Buch durch. Die Szenerie ist klassisch: Zwei lernen sich kennen, einer ist gefühlsmäßig noch nicht ganz frei, hängt an seiner Ex-Beziehung, verliebt sich dann aber trotzdem – und ein rauschendes Fest der Gefühle beginnt. Das jäh unterbrochen wird, was ich ein wenig schade finde, weil ich so im Liebestaumel der beiden gefangen war, dass ich mir gewünscht hätte, es würde einfach so weitergehen und alles könnte ausnahmsweise mal gut bleiben. Es ist also ein wahres Auf und Ab, das man mit den zwei Nachrichtenschreibern erlebt, eine leichte, nette, unterhaltsame Lektüre für einen Sonntagnachmittag auf der Couch.

Ein wenig zwiegespalten stehe ich dem Buch gegenüber, weil alle diese Nachrichten echt sind. Dazu muss man wissen: Morgane Ortin hat einen überaus berühmten Instagram-Account namens @amours_solitaires, auf dem sie Liebesbotschaften veröffentlicht, die die Leute einander tatsächlich geschickt haben – und ihr zukommen ließen. Soweit ich das mit meinem rudimentären Schulfranzösisch verstanden habe, wurde sogar eine Art Minifernsehserie draus gemacht. Nun denke ich einerseits: Wow, Respekt, das muss man erst mal schaffen, echte Nachrichten so zu kombinieren und aneinanderzureihen, dass daraus eine verständliche, sinnvolle Geschichte entsteht. Andererseits denke ich aber: Nunja, einfach ein paar reale Messages zu klauen und hintereinander abzudrucken, ist jetzt auch nicht so eine Leistung. Ihr seht also, ich kann mich nicht entscheiden. Am schönsten finde ich an diesem Buch den Titel und das von Kat Menschik gestaltete Cover – und den tröstlichen Gedanken, dass es sie offenbar sehr wohl irgendwo da draußen noch gibt, die Liebe.

Du wirst mein Herz verwüsten von Morgane Ortin ist erschienen im Aufbau Verlag.

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„Seither hatte er seine innere Persönlichkeit zunehmend im Vorwurfston sprechen gehört“
Tanja hat ein Buch geschrieben, das ihr zu ausreichend Ruhm verholfen hat, Jerome designt Websites. Sie lebt in Berlin, er wohnt im ehemaligen Bungalow seiner Eltern im Maintal. Die beiden sehen sich ab und an, schreiben sich zwischendrin Messages in einem unaufgeregten Rhythmus, denn:

„Jerome und Tanja hatten keine Policies der Informationsvergabe vereinbart.“

Tanja ist Ende zwanzig, Jerome ein wenig älter. Sie gehen gern aus, sie genießen mit einer aufgeräumten Selbstverständlichkeit Drogentrips, Restaurantbesuche, Sex. Sie gehören einer Generation an, die viel über sich nachdenkt, sie haben ein gutes Gefühl für sich selbst, sie wissen, was sie mögen und was nicht, darüber sprechen sie mit Vorliebe. Sie setzen sich in Beziehung zur Welt, vergleichen sich mit anderen und mit dem eigenen Ich von früher.

„Jerome mochte den Gedanken, dass er sich selbst gegebenenfalls unerträglich finden würde, könnte er sich hier in der U4 von außen sehen.“

Die große Liebe ist das zwischen Tanja und Jerome vermutlich nicht, oder sagen wir so: An die große Liebe glauben Tanja und Jerome vermutlich nicht. Es gibt viele mögliche Partner, viele mögliche Lebensentwürfe. Sie wollen sich nicht festlegen. Sie sind ungeduldig, intolerant, sie wollen es mühelos. In dem Moment, in dem etwas nicht reibungslos ist, geben sie den Kontakt auf. Sie verlieren einander, und im Verlieren liegt ein süßer Schmerz, der ebenso kuratiert wirkt wie alles andere. Sie agieren stets verhalten, als stammten alle ihre Gefühle aus der zweiten Reihe.

„Fair wäre gewesen, einfach zu tolerieren, dass andere Menschen andere Bedürfnisse hatten, Tanja hingegen unterstellte denjenigen, die verglichen mit ihr entweder mehr Lust hatten oder deutlich gehemmter waren, ein tiefer liegendes Problem. Als wäre sie, Tanja Arnheim, die einzig emotional gesunde Person auf der Welt.“

Tanja und Jerome sind arrogant. Man möchte ihnen, während man dieses Buch liest, ins Gesicht schlagen, weil sie so nerven. Sie sind zögerlich, weinerlich, von sich überzeugt, bindungsunfähig, weiß, privilegiert. Man hat den Eindruck, dass sie keine Ahnung haben, was wahre Probleme sind. Damit hat Leif Randt geradezu meisterhaft aufgezeigt, wie diese Generation (zum Teil, man kann natürlich nicht pauschalisieren) tickt, wie sie sich selbst sieht. Große Gesten der Liebe gibt es nicht mehr. Stattdessen viel Gleichgültigkeit. Das Leben, Freundschaften, Beziehungen, sind eher etwas, das ihnen zustößt, während sie damit beschäftigt sind, über Entscheidungen nachzudenken, die sie letztlich nicht treffen. In einem ganz eigenen Sound, jeder Satz durchkomponiert bis ins kleinste Detail, erzählt Leif Randt von Menschen, die so auf sich konzentriert sind, dass andere zu reinen Statisten verkommen. Was ihnen hinterher bleibt, ist Reue. Aber auch die ist ihnen letztlich gleichgültig.

„Es stimmte schon, sie war selten hingerissen von Werken bildender oder darstellender Kunst, und von Literatur schon gar nicht. Aber sie sah darin kein Problem, im Gegenteil, es beruhigte sie viel eher, dass nichts wirklich toll war. Das wirklich gelungene Artefakt – vielleicht ein Video, wahrscheinlich ein Buch –, das würde sie, Tanja, eines Tages selbst herstellen.“

Allegro Pastell von Leif Randt ist erschienen bei Kiepenheuer & Witsch.

Bücherwurmloch

„Paris war hässlich, verdorben und ungesund, wie eine syphilitische Nutte“

„Als Aurélie am Bahnsteig C der Gare de Lyon aus dem Zug stieg, hatte sie nicht die geringste Lust, Paris zu erobern.“

Und Paris würde sich sowieso nicht von ihr erobern lassen. Die junge Frau, knapp zwanzig Jahre alt, entflieht ihrem langweiligen Elternhaus in Grenoble, wo sie zwei Semester mehr als lustlos Jura studiert hat, um in Paris ihr Glück zu suchen. Allein: Dieses Glück lässt sich nicht finden. Aurélie nimmt einen Job als unterbezahlte Empfangsdame an, bei dem sie jeden Tag woanders hingeschickt wird, schläft in einem Mehrbettschlafsaal, sitzt Stunden über Stunden in öffentlichen Verkehrsmitteln. Sie hat keine Freunde, und Alejandro aus Kolumbien, in den sie in Grenoble verliebt war, ist weitergezogen. Aurélie ist einsam, zutiefst frustriert, am Beginn ihres beruflichen Lebens schon am Ende ihrer Kräfte.

„Sie hatte keine Angst vor geistiger Arbeit, auch nicht vor körperlicher Anstrengung. Sie wollte nur irgendwas erreichen und wartete darauf, dass etwas passierte. Aber es passierte nichts.“

Fehlstart ist ein Buch voller Hass. Es gibt kaum einen positiven Satz darin, kaum ein schönes Gefühl. Glückliche Menschen schon gar nicht. Es erzählt von Geldnot und Perspektivenlosigkeit, von Alleinsein und der Unmöglichkeit, Beziehungen aufzubauen. Marion Messina, selbst in Grenoble geboren, erzählt vom miesen Bildungssystem, der Langeweile an den Schulen und Universitäten, der Verzweiflung all jener, die versuchen, sich in einer völlig überteuerten Großstadt etwas aufzubauen. Von jeder Seite schreit einem die Wut entgegen, die irgendwann in Resignation kippt. Aurélie gelingt es nicht einmal, eine Wohnung zu finden, sie kommt bei einem fünfundzwanzig Jahre älteren Mann unter und schläft mit ihm, nur um ein Dach über dem Kopf zu haben. Man sieht sie und die anderen Figuren des Romans so deutlich vor sich. Wie ereignislos ihr Leben ist, wie müde sie sind. Wie anders sie sich das alles vorgestellt haben.

„Für Familien gab es keinen Platz mehr, die Lebensorte waren trostlos geworden, Paris zu verlassen, dauerte eine Stunde; Bahngleise, Postverteilzentren, Kläranlagen und Gewerbegebiete hatten die Parks und Felder von einst ersetzt, die Flüsse waren Kloaken, die Luft konnte man kaum atmen. Die Stadt hatte weder Charme noch Kultur.“

Stellenweise ist mir das zu überspitzt. Aurélie ist ein gar so graues Mäuschen, sie bemüht sich, tut alles, scheitert immer nur, die Männer nutzen sie aus, die Eltern verstehen sie nicht, jeder Charakter wirkt wie ein Abziehbild. Alles ist schlecht, alles ist elendig. Sie ist ein wenig puppenhaft, macht sich abhängig von einem Mann, hat ihm nichts entgegenzusetzen. Aurélie und die anderen haben in diesem Buch die Wahl zwischen dem Übel der Großstadt und dem Übel des Landlebens, was auch immer sie tun, ist falsch und macht sie unglücklich. Ein zutiefst deprimierender, vermutlich aber leider arg realistischer Roman über Glückssuchende, die nur eine große Leere finden.

Fehlstart von Marion Messina ist erschienen bei Hanser.

 

 

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„Als die Sonne hinter den Gipfeln verschwand, wurde sofort das ganze Gewicht der Berge spürbar“
Es sind Beobachtungen, die so oder ähnlich jeder von uns schon gemacht hat, von denen Andreas Bernard da berichtet. Der Unterschied ist nur: Während unsereins vermutlich nicht einmal innegehalten hat, um den Moment zu registrieren, hat er sogar die richtigen Worte dafür gefunden. Wer jemals versucht hat, etwas zu schreiben, der weiß: Je kürzer, desto schwieriger. Alles, was pointiert sein muss, alles, was komprimiert sein muss, ist ungleich schwerer zu formulieren als ausführliches Geschwafel. Andreas Bernard scheint der Meister seines Fachs zu sein: Seine Kurzbeschreibungen sind so treffend, dass sie Augenblicke lebhaft heraufbeschwören und uns verständnisvoll nicken lassen, oft mit einem Schmunzeln im Gesicht. Weil wir uns erkannt fühlen, weil wir eine Art Verbundenheit spüren, weil wir wissen, wovon er spricht.

Laufende Ermittlungen besteht aus lauter solchen Momentaufnahmen, die Andreas für das ZEITmagazin geschrieben und gesammelt hat. Man kann das Buch immer mal wieder in die Hand nehmen, ein paar Seiten lesen und es wieder weglegen, es spielt keine Rolle, an welcher Stelle man es öffnet, die „Notizen aus dem Alltag“ haben eine angenehme Allgemeingültigkeit. Sie schaffen außerdem etwas Schönes: dass man selbst auch wieder aufmerksamer wird für das, was einem begegnet, die Geräusche, Gesichter, das Verhalten der Menschen, die vermeintlichen Zufälle, die kleinen Zwischenmomente. Dies ist ein Buch, das wie eine freundliche Aufforderung wirkt, die Augen zu öffnen und all das, wovon Andreas Bernard erzählt, zu bemerken. Auch wenn wir es garantiert nicht so treffend formulieren können wie er.

Lieblingsnotiz:
„Der Schriftsteller, der in Depressionen verfiel, als er einmal beim Gang durch ein Möbelhaus seinen Roman im Regal eines Musterzimmers fand.“

Laufende Ermittlungen von Andreas Bernard ist erschienen bei Klett-Cotta/Tropen.

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„Werde ich jemals die Sprache der Liebe kennen. Werde ich je wieder irgendwo zu Hause sein“
Maryam ist noch ein junges Mädchen, als sie von Boko Haram aus der Schule entführt und an einen entlegenen Ort gebracht wird, an dem sie die Hölle auf Erden erwartet. Zwischen Schlägen, Gebeten und systematischen Vergewaltigungen versucht Maryam, irgendwie zu überleben, auch wenn sie nach einer Weile nicht mehr weiß, wozu es sich noch lohnen sollte zu leben. Viele Frauen sind mit ihr eingesperrt und gefangen, manchmal gibt es ein wenig Zusammenhalt unter ihnen, meist jedoch nicht. Gegen ihren Willen wird Maryam verheiratet und bekommt ein Kind. Als ihr die Flucht gelingt, nimmt sie dieses Kind, das sie Babby genannt hat, mit und schlägt sich mit ihm gemeinsam durch bis nachhause. Doch als sie dort ankommt, wird sie alles andere als herzlich empfangen.

Edna O’Brien ist einerseits eine Schriftstellerin von Weltruhm, andererseits eine betagte Dame: Sie ist 90 Jahre alt. Das hat sie aber nicht davon abgehalten, nach Nigeria zu reisen, zu recherchieren, Fragen zu stellen, Spuren zu verfolgen. Sie hat sich von betroffenen Mädchen und Frauen erzählen lassen, was ihnen geschehen ist, und sie gibt deren Geschichten in diesem Buch wieder. Vielleicht hat sie die Berichte in literarische Form gegossen, ja, aber ansonsten hat sie nichts daran verändert, und das gibt diesem Buch so viel Wahrheit, macht es ehrlich, authentisch und unglaublich schmerzhaft. So viel Hass, so viel Leid und Schmerz liegen darin, dass man immer nur wenige Seiten am Stück lesen kann. Das Mädchen ist ungemein intensiv, heftig, unverstellt, es ist wahnsinnig traurig und bedrückend. Zugleich ist es aber auch ein Zeugnis, ein Sprachrohr. Es verleiht jenen eine Stimme, die keine haben, weil ihnen niemand zuhört. Ich bin schwer beeindruckt von Edna O’Brien und ihrem Mut.

„Es liegt nicht in unserer Macht, etwas zu ändern“, sagte sie.
„Warum nicht?“, fragte ich.
„Weil wir Frauen sind.“

Das Mädchen von Edna O’Brien ist erschienen bei Hoffmann und Campe.

Bücherwurmloch

„Manchmal kann ich ein Kitzeln ganz unten am Steiß spüren: das Alte Wissen“
Wir sind im Norden Kanadas, am Rand des Eismeers. Es ist nicht nur kalt, vielmehr herrschen Temperaturen, bei denen man sich fragt, wie Menschen überhaupt überleben können. Und warum sie sich ausgerechnet hier angesiedelt haben. Die Ich-Erzählerin ist elf, später ein Teenager, eine junge Frau. Im Frühling ist sie mit ihren Freunden in der Tundra unterwegs, auf der Suche nach Abenteuern. Nicht selten begeben sie sich dabei in Lebensgefahr, auf dem Eis, auf dem Wasser. Sie schnüffeln Kleber und andere Stoffe, die high machen, Hauptsache dem kargen Leben entfliehen. Die Erwachsenen nutzen dazu andere Möglichkeiten, sie saufen.

„In diesem Haus herrschen die Kinder. In einer kalten Sommernacht rotten wir uns zusammen. Aluminiumfolie gegen die Sonne vor den Fenstern, eine Socke im Loch, in dem einmal ein Türknauf war, damit die Kleinen nicht spionieren können. Es ist unser Schutzhaus, in dem niemand trinkt. Keine Erwachsenen, keine Vorschriften.“

Tanya Tagaq, selbst in Kanada geboren, hat sich als Sängerin einen Namen gemacht. Für uns mutet ihr Gesang vielleicht seltsam an, und ihr Buch tut es auch. Das macht es aber so faszinierend. Es ist unergründlich, mystisch, verwirrend, es ist poetisch und schwarz und bitter. Prosa wechselt sich ab mit lyrischen Passagen, manche Metaphern scheinen für etwas Großes zu stehen, das man nicht so recht fassen kann. Beim Lesen hat man das Gefühl, nichts zu verstehen und doch gleichzeitig alles. Auch wenn es nie konkret gesagt wird, behandelt der – angeblich teilweise autobiografisch unterlegte Roman – sexuellen Missbrauch. Es geht ums Aufwachsen und ums Entkommen, um die Hilflosigkeit von Kindern angesichts Erwachsener und um die Hilflosigkeit der Menschen angesichts der so viel mächtigeren Natur.

„Fuchs ist schöner als der schönste Mensch, den ich je gesehen habe. Ich kann ihn spüren. Stark und rein, für ihn geht es nur ums Überleben, er ist unbeschwert von all den Lügen, die Menschen sich unbewusst aufbürden. Klarheit. Würde. Was wir Menschen verloren haben, ist für den, der in der Natur lebt, offensichtlich.“

Eisfuchs von Tanya Tagaq ist erschienen im Verlag Antje Kunstmann.

 

 

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„I was young then, it was a wonderful time“
Er ist ein Lehrer aus Amerika und lebt lange genug in Bulgarien, um die Sprache zu verstehen, um sich den Menschen nah zu fühlen. Nah kommt er vor allem den Männern, mit denen er Sex hat, sie unterscheiden sich stark voneinander, die Spielarten tun es auch. Er verabredet sich online, trifft sich mit ihnen, bereut das hinterher manchmal und manchmal nicht. Bulgarien ist ein Land der Hoffnung, in dem man sich gefreut hat über den Aufbruch, der letztlich doch nicht kam. Wie sieht so ein Land aus, betrachtet durch die Augen von einem, der hier nicht geboren ist? Freunde hat der Lehrer in Sofia kaum, und wenn er an Demonstrationen teilnimmt, wenn er politisch wird, dann eher unabsichtlich. In einen der Männer, die er hier kennengelernt hat, hat er sich verliebt, das Ende dieser Liebe hat er nie überwunden.

Garth Greenwell, der mit seinem vielgelobten Roman Was zu dir gehört geglänzt hat, hat einen ganz eigenen Stil: Er schreibt introvertierte Männer, er schreibt Melancholie und tiefgehende Ausgegrenztheit, er schildert Distanz, Nachdenklichkeit, Traurigkeit. Sein Protagonist, der versucht hat, in Sofia eine zweite Heimat zu finden, zumindest eine Heimat auf Zeit, ist ein sensibler Mann, der sich mit den Begegnungen und Dates auseinandersetzt, die seinen Aufenthalt in Sofia geprägt haben. Dabei geht es um Sex und Politik, in erster Linie um heftigen, intensiven, schmerzhaften Sex, der meist keinen Spaß macht, der zumindest einem der Beteiligten ernsthaft wehtut, es geht um Befriedigung und die Suche danach, um den Sex von Fremden und den Sex von Liebenden. Greenwell lässt kein Detail, keine Körperstelle, keine Regung aus, und trotzdem: Dieses Buch ist kein heiterer Mitmachporno, dazu ist es viel zu bedrückend. Im Gegensatz zu Greenwells Erstling hat es keine zusammenhängende Romanhandlung, die Kapitel sind vielmehr einzelne Geschichten, deren Klammer Sofia als gemeinsamer Ort ist. Interessant finde ich, dass ein Mann, der auf diese Weise Sex hat wie der amerikanische Lehrer im Buch, frei bleibt von den Urteilen, mit denen eine Frau sich konfrontiert sähe, dass er zu keiner Zeit einer Wertung ausgesetzt ist, nicht einmal im inneren Monolog. Ein gut geschriebenes, stellenweise verstörendes, insgesamt seltsames Buch, bei dem ich auf eure Meinungen gespannt bin, sobald es auf Deutsch erscheint.

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„Wie absurd das eigentlich war, dachte ich: zu leben, während andere tot waren“
Inas Mutter war eine sehr bekannte Schauspielerin, dann eine weniger bekannte Schauspielerin, und jetzt ist sie tot. Ina ist nicht sicher, ob ihre Mutter absichtlich gegen den Baum gefahren ist oder ob es ein Unfall war, und jetzt hat Ina nur noch Falk. Mit ihm wohnt sie zusammen in einer WG in Hamburg, die beiden verbindet eine Freundschaft, aus der vielleicht Liebe hätte werden können und die deshalb seltsam schief ist. Die Fächer, die Ina studiert hat, haben sie geradewegs in die Arbeitslosigkeit geführt, und so beginnt Ina am Theater in der Kantine zu arbeiten. Dort haben ihre Eltern sich kennengelernt. Dort wird ihr Vater, der vermutlich gar nicht weiß, dass es Ina gibt, in Kürze den Sommernachtstraum inszenieren. Und dort trifft Ina auf Paula.

Zuerst hab ich gedacht, das ist wieder so ein Buch, in dem ein junger Mensch einen Elternteil verliert und sich selber sucht. Ein bisschen ist das auch so, aber Janna Stennfatt hat genug unerwartete Wendungen eingebaut, um mit ihrem Roman einigermaßen sicher die Klischees zu umschiffen. Vor allem mag ich ihre Protagonistin Ina, die kratzbürstig und distanziert ist und Menschen nicht leiden kann:

„Ich schlief schlecht, wenn ein Mensch in der Nähe war, der atmete und sich bewegte und am Morgen einen unfrischen Geruch verströmte.“

Und ich mag den Ton, der angenehm melancholisch ist, stellenweise fast poetisch, dann wieder hanseatisch kühl. Die Überflüssigkeit der Dinge ist ein leises Buch, das von Begegnungen erzählt, von Gefühlen, die nicht ausgesprochen werden, von Menschen, die aneinander vorbei lieben. Es enthält klug formulierte Sätze, die mich lächeln lassen, zum Beispiel:

„Die Mutter meiner Mutter war früh gestorben, und wenn ich fragte woran, erhielt ich immer die gleiche Antwort: am Leben.“

„Die Selbstsicherheit in die Jahre gekommener Männer müsste man haben, dachte ich.“

Das Gute an diesem Roman liegt in seiner Unaufgeregtheit und seiner Unberechenbarkeit. Ein wenig zu unzugänglich sind mir die Menschen, von denen ich mir dann doch ab und zu gewünscht hätte, sie würden sich mehr mitteilen. Aber genau das macht natürlich das Karge, Schweigsame, Traurige aus. Ein leicht lesbares, schönes Buch.

Die Überflüssigkeit der Dinge von Janna Stennfatt ist erschienen bei Hoffmann und Campe.