Bücherwurmloch

Heute geht es munter weiter mit den Backlist-Titeln meines diesjährigen Sommers, voilà:

„Blasmusikpop“ von Vea Kaiser: Endlich habe ich den Erstling einer von Österreichs erfolgreichsten Autorinnen gelesen und war begeistert. Fantasievoll, klug, mit pfiffigen Wendungen und österreichischem Schmäh entführt das Buch in die Alpen in ein kurios-liebenswertes Dorf.

„Das Herz ist ein einsamer Jäger“ von Carson McCullers, die mich mit der Ballade vom traurigen Café zu Tränen gerührt hat: Sie ist eine der großen amerikanischen Erzählerinnen, unverblümt, nah an den Menschen dran, sie liebt die Andersartigen, die Ankaputteten, die Verstörten. Ihre Romane sind einzigartige Klassiker.

„Schweigend steht der Wald“ von Wolfram Fleischhauer hab ich gelesen, weil ich durch ein spannendes Interview mit ihm (er arbeitet als Dolmetscher in Brüssel und bekommt dort die krassesten Dinge mit) auf „Das Meer“ aufmerksam wurde. Der Wald-Thriller ist ruhig, angenehm zu lesen, nette Geschichte, das Ende klassischerweise ein wenig an den Haaren herbeigezogen, aber okay.

„Monsieur Linh und die Gabe der Hoffnung“ von Philippe Claudel wurde mir mal hier auf Instagram empfohlen (ich weiß leider nicht mehr, von wem) und ist ein stilles, schönes Büchlein über zwei einsame Männer, die keine gemeinsame Sprache haben und doch so viel miteinander teilen. Eine rührende Geschichte über Toleranz und Nächstenliebe.

„The storied life of A. J. Fikry” von Gabrielle Zevin hab ich ebenfalls wegen Instagram gelesen: Natürlich hab ich auch hier vergessen, wer es mir nahegelegt hat (ja, so bin ich). Cover und Titel erscheinen mir in dem Fall abartig unpassend, denn das Buch ist eine leichte Sommerlektüre, eine Liebesgeschichte zwischen einem Buchhändler und einer Verlagsvertreterin, ein kleines Mädchen wird auch adoptiert, sehr rührselig alles.

„Supper Club“ von Lara Williams erzählt von jungen Frauen, die sich regelmäßig zu wahren Festgelagen treffen, um sich zu wehren gegen das, was die Gesellschaft ihnen auferlegt: dünn zu sein, still zu sein. Sie wollen bewusst mehr „Raum einnehmen“, auch körperlich. Sehr geniale Idee, es geht auch viel um Feminismus, Sexismus und toxische Beziehungen.

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Jedes Jahr im Sommer, sobald ich alle Frühjahrsrezensionsexemplare gelesen habe und bevor ich mich den Herbsttiteln widme, lese ich Backlist. Das ist für mich Entschleunigung pur. Und das ist der erste Backlist-Schwung:

„Wolfsegg“ von Peter Keglevic: Ein aufwühlendes Buch über ein 15-jähriges Mädchen, das in den 70er-Jahren mit sexualisierter Gewalt, dem Verlust der Eltern und dem harten Leben in den Bergen zu kämpfen hat. Sehr krass, sehr gut!

„Die Lektionen“ von Naomi Alderman erzählt vom reichen College-Studenten Marc, einer schillernden, exzentrischen Persönlichkeit, von der alle sich angezogen fühlen. Gut lesbar und unterhaltsam, ihr Buch „The Power“ hat mich jedoch wesentlich mehr beeindruckt.

„Ein anständiger Mensch“ von Jan Christophersen ist nett, mehr auch nicht. Aus der Geschichte über zwei Paare, Sex und giftige Pilze hätte der Autor, von dem ich „Schneetage“ sehr mochte, mehr rausholen können, ich fand es langatmig und das Ende zu unspektakulär.

„Eisnattern“ von Simone Buchholz: Wer die Hamburg-Krimis von Simone kennt, liebt sie eh, und wer sie nicht kennt, muss das schleunigst ändern. Sie sind Kult! Und das zu Recht. Ich lese gerade die gesamte Reihe von vorn, das ist Band vier – und wie immer großartig.

„Rückwärtssalto“ von Eva Simeoni hat mich sehr beschäftigt: Wie in „Schlagmann“ (unbedingt lesen!) zeigt die Sportjournalistin, was Extremsport mit Körper und Geist anrichtet, dieses Mal geht es um ein Mädchen, Antonia, das verbissen um den Erfolg als Turnerin kämpft.

„In einer Nacht, woanders“ von Katerina Poladjan habe ich gelesen, weil mir „Hier sind Löwen“ so gut gefallen hat. Das schmale Buch kommt nicht so recht über das Klischee hinaus: Eine junge Russin kehrt heim, um nach dem Tod der Großmutter deren Haus auszuräumen, und erinnert sich. Gut geschrieben, schöne Bilder, Familiengeheimnisse werden auch aufgedeckt, aber kein Muss.

 

 

 

 

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„Kindheit ist kostbar, und es gibt keine zweiten Versuche“

„Das Leiden ihrer Mutter war so groß, dass es fast eine eigenständige Person war, die man ernähren und pflegen musste. Ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre, wenn ich mit einer solchen Mutter aufgewachsen wäre.“

Das sagt Charlie, ein junger Mann, der Edie und ihre Mutter kennenlernt – Edie, die nach dem Selbstmordversuch der Mutter mit ihrer Schwester Mae zu ihrem Vater nach New York ziehen muss, und die Mutter, die vielleicht, das weiß man nicht so genau, von ebenjenem Vater in jungen Jahren in den Wahnsinn getrieben wurde. Er ist ein berühmter Schriftsteller, die Mädchen kennen ihn nicht. Und während Edie, knapp sechzehn Jahre alt, nichts mit ihm zu tun haben will, verfällt Mae, die Vierzehnjährige, dem Charme des Vaters komplett. Sie tut Dinge, die sie nicht tun sollte. Und plötzlich geraten alle Beteiligten in einen Strudel, aus dem es kein Entkommen gibt.

Je tiefer das Wasser von Katya Apekina ist ein Buch, das überrascht: die labile Mutter, die Kinder, die zum ihnen fremden Vater müssen – das kennt man, das hat man schon oft gelesen. Nicht aber in dieser Form: Die Autorin lässt jeden zu Wort kommen, erzählt in sehr kurzen Kapiteln aus der Sicht der Töchter, der Tante, der Freundin des Vaters, bindet alte Briefe ein und entwirft so ein vielstimmiges, sehr eindrückliches Bild. Die Kernperson, der Schriftsteller Dennis Lomack, ist der Einzige, der stumm bleibt, ihn lernen wir nur durch die Augen der anderen kennen. Er ist ein egozentrischer, manipulativer Mann, aber nicht nur, das wäre zu schwarz-weiß gesagt, er ist auch liebevoll und kümmert sich um die Mädchen, gibt sich Mühe. Ist er wirklich schuld am geistigen Verfall seiner Ex-Frau? Und warum hat er seine Kinder bei ihr zurückgelassen? Dies ist ein harter, intensiver, sehr verstörender Roman mit einem wogenden Sound, einem Stimmengewirr, einem unheimlichen Flüstern, man spitzt die Ohren, will alles genau hören, will unbedingt erfahren, was geschehen ist – und wieso. Sehr virtuos geschrieben, fesselnd und irritierend erzählt Je tiefer das Wasser von kaputten, verzweifelten Menschen, von unergründlichen Seelen und den entsetzlichen Folgen, die manche Entscheidungen haben. Aus der 08/15-Ausgangssituation hat Katya Apekina einen verblüffend guten Roman gemacht, der alles andere als gewöhnlich ist.

Je tiefer das Wasser von Katya Apekina ist erschienen bei Suhrkamp.

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„Der Campingplatz hatte seine eigenen Gesetze. Zwei Wochen Ferien, das war ein ganzes Leben“

„Ich schlug die Augen auf und war bereits wütend. Ab acht Uhr morgens wurde die Hitze im Zelt unerträglich. Die Sonne knallte auf den Stoff, um uns zu zwingen, herauszukommen, damit sie uns noch besser treffen konnte.“

Okay, es ist heiß, und man kann sich als Siebzehnjähriger ja wirklich Schöneres vorstellen, als mit seinen Eltern und kleinen Geschwistern Campingurlaub zu machen. Léonard hat es aber fast geschafft: Heute ist der letzte Tag, morgen fahren sie nachhause. Er will so schnell wie möglich weg, nicht nur wegen der Ereignislosigkeit all der verschwitzten Stunden, sondern weil er etwas Schreckliches gesehen und getan hat: Oscar, ein gleichaltriger Junge, hat sich langsam erdrosselt, und Léonard hat einfach nur zugesehen. Mit diesem Wissen, mit dieser Schuld läuft er also durch die Hitze, über den Campingplatz, versucht sich abzulenken und kann doch an nichts anderes denken. Was, wenn jemand die Leiche entdeckt? Was, wenn er sich rechtfertigen muss? Er ist (natürlich) ein Außenseiter, ein einsamer Voyeur. Zwischen erstem Sex, grenzenloser Langeweile und massiver Panik bewegt sich Léonard diesen einen Tag lang, von dem Victor Jestin auf 150 recht kleinen Seiten erzählt.

Hitze ist mehr Kurzgeschichte als Roman, man hat es in kurzer Zeit durch. Das liegt auch an dem Sog, den es erzeugt, an der ungewöhnlichen Ausgangssituation, in die der junge französische Autor seinen Protagonisten wirft: Er lässt ihn einen Selbstmord vertuschen, lässt ihn bewegungslos bleiben, wo er agieren müsste. Und richtet dann ein kleines Schlachtfeld moralischer Fragen in ihm an, die ihn beschäftigen, ohne dass er sie beantworten kann. Was war falsch an seinem Verhalten, und gibt es eine Möglichkeit, es wiedergutzumachen? Ermattet von der Hitze und aufgewühlt von seinem pubertären Begehren, quält Léonard sich durch diese 24 Stunden – zu einem überraschenden Ende. Ein kleines, gut lesbares, sehr eigenwilliges Buch in einer klaren Sprache, das ruhig noch weiter ausgearbeitet hätte sein dürfen, weil das – wirklich gut gewählte – Thema mehr Tiefe hergegeben hätte.

Hitze von Victor Jestin ist erschienen bei Kein & Aber.

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„Ich war noch ein Kind, als du geboren wurdest“
Ach, wie großartig ist Daniel Woodrell! Kaum einer kann die absurde Traurigkeit des Lebens so gut einfangen wie er: Von Kindern, die keiner will, erzählt er, von Gewalt und Missbrauch, Drogen und Alkohol, von Orten, an denen niemand leben möchte, während zugleich so viele es aber tun. Über Winters Knochen habe ich geschrieben, es sei „ein Buch der Extreme, trocken wie ein Bachbett, an dessen Ufer man verdurstet, und lieblos wie ein Schlag ins Gesicht“. Es geht darin um Meth-Köche, Verrat und das nackte Überleben in einer Gegend, die sich in Amerika befindet – aber genauso gut in der Dritten Welt sein könnte. Daniel Woodrell schreibt knallharte Geschichten, und er findet dafür knallharte Worte. Das gilt auch für Der Tod von Sweet Mister, in dem der 13-jährige Shug ein ungesundes Verhältnis zu seiner Mutter Glenda hat. Er ist ein dickes Kind, das von seinem Stiefvater Red genötigt wird, in Häuser einzubrechen und die Medikamente kranker Menschen zu stehlen. Red schlägt Shug, schlägt Glenda, verschwindet für Wochen, taucht plötzlich wieder auf. Nichts ist gut in diesem kleinen Haus, das mitten auf einem Friedhof steht, den Glenda und Shug pflegen. Als Glenda Jimmy Vin Pearce kennenlernt, einen Mann mit einem schimmernden Thunderbird, wirkt er auf sie wie ein Ticket in die Freiheit. Doch in Wahrheit fangen die Probleme erst an.

Die Bücher von Daniel Woodrell sind so düster, wie ihre Cover vermuten lassen: Es gibt darin nichts Schönes. Keine Zufriedenheit, kein gutes Leben, keine Perspektiven, keinen Familienzusammenhalt. Vielmehr kämpfen die Menschen – um Geld, um ein wenig Zuneigung, um ein Ende der lebensbedrohlichen Gewalt, denen sie tagtäglich ausgesetzt sind. Nicht selten werden sie dabei selbst gewalttätig. Daniel Woodrell schreibt über die, für die alles beschissen ist. Meisterhaft seziert er die Gesellschaftsschicht der Kleinkriminellen, der Drogendealer, Frauenschläger und Trinker, geradezu poetisch ist seine Sprache des Elends. Das Ende des Romans ist erstaunlich fies, es hat mich überrascht – und war gleichzeitig das einzig Logische. So muss das sein in einem Buch: Alles fällt am Ende zusammen, aber nichts fällt aus dem Takt. Aufwühlend, klug, lesenswert.

Der Tod von Sweet Mister von Daniel Woodrell ist erschienen bei Liebeskind.

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„Aber deine Seele gehört dir und steht nicht zum Verkauf. Auch wenn du’s versuchst, sie wird trotzdem da sein und darauf warten, dass du dich an sie erinnerst“
Ich muss euch was gestehen: Ich hab dieses Buch im Mai gelesen – und bis heute nicht darüber geschrieben. Weil ich in der aufgeheizten Jeder-kritisiert-jeden-Stimmung Schiss bekommen habe, was Falsches zu sagen, einen Ausdruck zu gebrauchen, den ich nicht verwenden darf, und abgewatscht zu werden für meinen vermeintlich unsensiblen Umgang mit dem Thema Rassismus. Also bin ich um dieses grandiose Buch von Nana Kwame Adjei-Brenyah herumgeschlichen und hatte schon überlegt, einfach zu schweigen. Aber das kann nicht Sinn der Sache sein, Leute. Ich weiß, dass ich weiß und privilegiert und – auch wenn es mir nicht bewusst ist – rassistisch bin, das sind wir alle, wir wurden so sozialisiert, und genau darum geht es: Es soll sich endlich was ändern. Und wenn ich auf Fehler hingewiesen werde, dann ist das gut so, dann kann ich daraus lernen. Bücher bringen uns weiter, Bücher lehren uns, was wir nicht wissen, eröffnen uns neue Perspektiven, machen uns toleranter und sanfter. Wir müssen sie vorstellen und empfehlen und kaufen und verschenken, damit sie gelesen werden. Friday Black ist ein solches Buch: Nana Kwame Adjei-Brenyah erzählt darin Geschichten, die ebenso brutal wie augenöffnend sind. Weil ein weißer Mann fünf schwarze Jugendliche ermordet und damit durchkommt, weil in einer Art Virtual-Reality-Spiel schwarze Menschen erschossen werden, weil Gewalt so normal ist, dass man denkt: Zum Glück ist das in der Realität nicht so, und gleichzeitig merkt: Natürlich ist das in der Realität so. Das ist hart, das tut weh, und es soll auch wehtun, unbedingt. Ein stechender Schmerz soll dieses Buch für alle sein, die sich lieber taub stellen würden. Der New Yorker Autor feierte mit dieser Short-Story-Kollektion einen Sensationserfolg. Zu Recht, kann ich nur sagen, denn die Kurzgeschichten sind heftig, intelligent, schonungslos und originell. Sie sind Botschaften aus einer Lebenswelt, die direkt vor unseren Augen existiert, sie machen atemlos und sie schocken. Deshalb sind sie genau das, was wir brauchen. Jetzt und in Zukunft und immer.

Friday Black von Nana Kwame Adjei-Brenyah ist erschienen im Penguin Verlag.

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„One foot after the other. There is no other way to get through this“
„Things would have turned out better if she had lived“, heißt es im ersten Kapitel von Donna Tartts vielgelobtem und mit dem Pulitzer Preis 2014 ausgezeichneten Roman, und wahrscheinlich stimmt das auch. Theo ist ein Kind, als seine Mutter ums Leben kommt, er war mit ihr unterwegs, er wurde selbst verletzt, und dann ist er allein, denn der Vater hat sich schon davor aus dem Staub gemacht. Theo kommt zuerst bei einem Schulfreund unter, und von da an, man muss es so sagen, geht es steil bergab: Früh macht er Erfahrungen mit Alkohol und Drogen, er vernachlässigt seine Schulbildung, ist orientierungslos und tief verwundet. Der Schritt zu kriminellen Machenschaften ist nicht weit, Theo wird ein charmanter junger Mann, der vielleicht nicht unbedingt ein Fiesling ist, der nur nicht gelernt hat, ehrlich zu sein. Er hat die falschen Menschen kennengelernt, und etwas, das er beim Tod seiner Mutter getan hat, verfolgt ihn viele Jahre lang – bis zum fulminanten Showdown in Amsterdam.

Was für ein Mammutprojekt: es zu schreiben, aber auch, es zu lesen. Sehr lange hab ich mich vor The Goldfinch gedrückt, obwohl ich Die geheime Geschichte damals sehr mochte. Es war mir schlicht zu dick, die schiere Menge an Seiten hat mich abgeschreckt. Dann hab ich auf Instagram die Aktion #derdickedistelfink ausgerufen und gefragt, wer mitlesen möchte, und siehe da: Einige Leute haben den Distelfink ebenfalls aus dem Regal befreit und sich in die Geschichte gestürzt. Die ist wild und traurig und stellenweise arg zäh, man hat schon zu kämpfen mit diesem Buch. Donna Tartt schafft es aber doch, einen bei der Stange zu halten, indem sie jedes Mal gerade rechtzeitig eine Wendung präsentiert, die das Interesse neu weckt. Ja, sie schweift ab. Ja, sie arbeitet manches über Seiten aus, das auch in zwei Sätzen gesagt werden könnte. Aber trotzdem ist da etwas: ein ganz feiner, melodischer Stil. Ein unsagbar tragischer Plot. Ein Protagonist, der einem ans Herz wächst. Ich habe also durchgehalten und es nicht bereut, ich hab tatsächlich mit Theo gelitten, gelacht, geweint, der Roman hat mich erreicht. Ich weiß, er ist wirklich dick. Und anstrengend. Aber ich möchte ihn euch trotzdem empfehlen.

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„Niemand kennt mich hier, hier kann ich alles sein“
Raffiq und Younes sind Freunde, seit sie sich geprügelt haben. Heute schlägt sich niemand mehr mit Younes, er ist groß und kräftig, er gibt den Ton an – er ist wachsam. Weil über seine Mutter geredet wird und er als ihr Sohn mit hineingezogen wird in das Gerede. Auch Raffiq ist fasziniert von Shahira, sie ist schön und kurvig und hat knallrote Fingernägel, sie lädt die Männer zu sich ein, und die Männer kommen. Younes hat viele „Onkel“, nur Vater hat er keinen, der wohnt in Frankfurt, hat sich bei seinem Sohn nie mehr blicken lassen. Bald machen Raffiq und Younes Abi, und was dann? Die Möglichkeiten breiten sich in einer solchen Vielzahl vor Raffiq aus, dass er vor Ratlosigkeit erstarrt. Auch Amal steht kurz vor dem Abitur, auch sie ist mit Younes befreundet. In ihrer Geschichte hat sie ihn verprügelt, in ihrer Geschichte gehört Raffiq nicht zum Freundeskreis. Sondern zu denen, die sich lustig gemacht haben über Younes, als er jeden Tag vor der Siedlung saß und auf seinen Vater wartete, die sich das Maul zerreißen über seine Mutter, die Younes kein eigenes, von ihr unabhängiges Leben zugestehen. Amal möchte weg aus der Siedlung, weg von den verurteilenden Blicken, weg von dem Stempel, den sie trägt, seit sie – ein Mädchen! – stärker war als ein Junge. Auch vor ihr breiten sich die Möglichkeiten aus, doch im Gegensatz zu Raffiq weiß Amal genau, was sie will.

Wie viele Seiten hat die Wahrheit? Mindestens zwei, in den meisten Fällen sogar mehr. Das hat Karosh Taha, die bereits mit ihrem großartigen Roman Beschreibung einer Krabbenwanderung beeindruckt hat, sich zunutze gemacht: Sie erzählt zwei Wahrheiten, die nicht gleichzeitig stimmen können. Zwei Geschichten, die miteinander verbunden sind, die von denselben Figuren handeln, aber nicht den gleichen Inhalt haben. Ihr Roman ist ein Wendebuch, das man von vorne und von hinten jeweils bis zur Mitte lesen kann – auf der einen Seite spricht Amal, auf der anderen Raffiq. Doch ihre Perspektiven sind nicht zwei Blickweisen auf dasselbe, Karosh Tahas Herangehensweise ist raffinierter und vielschichtiger. Wie nimmt die kurdische Gemeinschaft ein Mädchen wahr, wie einen Jungen? Wie geht sie mit einer selbstbestimmten, unverheirateten Frau um? Welche Zukunftsaussichten haben kurdische Jugendliche, die in Deutschland geboren sind, die besser Deutsch sprechen als Kurdisch, im Gegensatz zu ihren Eltern, die vielleicht doch wieder zurück möchten in die alte Heimat? Karosh Taha hat ein feines Gespür für innere Zerrissenheit, für zwischenmenschliche Beziehungen, für die Nuancen von Gefühlen. Sie erzählt von Integration und Kulturunterschieden, vom Jungsein und Genderstereotypen, vom Abnabeln und der Suche nach dem einen Ort, an dem man Wurzeln schlagen kann. Im Bauch der Königin ist ein sehr besonderer, kluger, moderner Familienroman, eines jener Bücher, von denen wir mehr brauchen. Weil sie etwas zu sagen haben.

Im Bauch der Königin von Karosh Taha ist erschienen bei Dumont.

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„Beruhigend, endlich mit dem Himmel in Kontakt zu sein“
Der Vater von David Vann hat sich das Leben genommen, als David ein Kind war. Der Schriftsteller, der in Alaska geboren wurde und heute in Neuseeland lebt, widmet sich in all seinen Büchern dem Konstrukt Familie – und schreibt darüber so aufwühlend, dass man es nicht mehr vergessen kann. Zwei Bücher hab ich bisher von ihm gelesen, Dreck und Aquarium, und beide hallen heute noch, Jahre später, in mir nach. Weil sie so hart und brutal sind, so verstörend, grenzwertig und schmerzhaft. David Vann fragt in seinen Romanen nach Schuld, nach den Konsequenzen für unsere Taten, nach der Verantwortung, die wir für jene haben, die wir lieben. Auf diese Fragen findet er ungewöhnliche Antworten. David Vann haut einem mitten ins Gesicht. Wo andere wegschauen würden, blickt er umso genauer hin. Und was er da findet, ist bei aller Grausamkeit unerträglich realistisch.

Das gilt besonders für sein neuestes Werk: Momentum ist wohl so realistisch, wie es nur sein kann, denn darin schreibt David Vann aus der Sicht seines Vaters über dessen Selbstmord. Er hat die letzten Wochen, in denen sein Vater noch gelebt hat, zum Inhalt eines Romans gemacht: den inneren Kampf, die Therapiestunden, die Gespräche mit dem Bruder, also Davids Onkel, das bittere Ende.

„Ich weiß nie, ob die Wellen schon da sind. Man kann sie nicht hören, bis sie auf einmal ganz nah sind. Man kann sie nicht sehen, weil es Nacht ist. Die Stürme kommen immer nachts.“

Wie schafft man es, das zu Papier zu bringen? Wie kann es einem gelingen, sich in den eigenen Vater hineinzuversetzen, der einen alleingelassen hat? Wie rekonstruiert man die Dialoge, wie seziert man diese Gefühle? Besonders intensiv sind in dieser Hinsicht für mich die Szenen, in denen Jim, der Vater, etwas mit seinen Kindern unternimmt. Wie er sie liebt, wie sie ihm aber auch eine Last sind. Wie er, sogar während er mit ihnen zusammen ist, ständig nur an die Pistole denkt, die sein Elend beenden soll.

„Wir fahren jetzt zu deinen Kindern. Denk an sie in der Nacht. Stell sie dir ohne Vater vor, für den Rest ihres Lebens.“

Momentum ist ein heftiges, ein mutiges Buch. Ein Buch über Depressionen und psychische Erkrankungen, über Hilflosigkeit, über Schmerz. Es ist ein Roman und zugleich ein Tatsachenbericht, der aufzeigt, welche Wunden die eine Generation in der nächsten schlägt. Es ist ein Buch, wie nur David Vann es schreiben kann.

Momentum von David Vann ist erschienen bei Hanser.

 

 

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„Die Langeweile ist wie der Hunger. Beide werden von Tag zu Tag größer“
Es hat einmal einen Krieg gegeben, und vielleicht gibt es bald wieder einen. Die Erwachsenen sind gegangen, um Geld zu verdienen, um Arbeit zu finden, aber die Kinder sind noch da. Die Kinder sind allein. Die Kinder sind auf sich gestellt. Die Schule ist geschlossen, das Wirtshaus auch. Der Laden macht zu, es gibt kein Essen mehr zu kaufen, auch Geld haben sie nicht. Was übrig ist, ist das Dorf mit seinen leeren Häusern, mit seinen wispernden Erinnerungen, mit seinen enttäuschenden Geschichten. Mila lebt hier mit ihren kleinen Schwestern, sie versucht, sich um sie zu kümmern, doch viel hat sie nicht zur Verfügung. Denn den verlassenen Kindern gehen nicht nur die Lebensmittel aus, sondern auch die Perspektiven.

In einer sehr eigenwilligen, schnörkellosen Sprache, die sich dem Leser regelrecht ins Hirn hämmert, erzählt die österreichische Autorin Lucia Leidenfrost, die mich bereits mit ihrem Erzählband Mir ist die Zunge so schwer beeindruckt hat, von Hoffnungslosigkeit und Anarchie. Was geschieht, wenn Kinder keine Regeln befolgen, weil keine Regeln mehr aufgestellt werden. Wie verhalten sie sich dann? Wer führt sie an und wohin? Warum wenden sie sich gegeneinander? Ist das die eine logische Konsequenz? Kurioserweise hatte ich kurz zuvor einen Artikel gelesen über Kinder in Ostblockstaaten, die tatsächlich so leben wie die Protagonist*innen in Lucia Leidenfrosts Roman. Sie bleiben bei den Großeltern, weil die Eltern zum Arbeiten woanders hingehen müssen, manchmal sterben diese Großeltern, und die Eltern können trotzdem nicht heimkommen. Das ist also nur bedingt Fiktion, für viele Menschen auf dieser Welt ist das Realität. Natürlich hat Lucia Leidenfrost die Lage mehr und mehr zugespitzt, sie treibt alles auf ein Ende, einen Höhepunkt zu, den es so in Wahrheit (hoffentlich) nicht geben muss. Dieses Buch ist eine ebenso bittere wie wichtige Lektüre, die rigorose Umsetzung einer großartigen Idee. Es geht um zerrüttete Familien, um den Druck des Kapitalismus, um die Unmöglichkeit, Zusammenhalt zu finden, weil immer das Recht des Stärkeren greift und jeder nur auf sich selbst schaut. Eine anstrengende, aber lohnenswerte Lektüre.

Wir verlassenen Kinder von Lucia Leidenfrost ist erschienen bei Kremayr & Scheriau.