Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

IMG_7910„Wir erkennen den Moment nicht, in dem der Verlust beginnt“

„Alles ist geschenkt auf Zeit. Wenn man glücklich ist, wenn das Glück einen blendet, meint man zu spüren, dass alles bleibt. Hinter dem Glück wohnt die Zeit.“

Zwei Männer töten ein Reh und schlagen Franz’ Vater brutal zusammen. So brutal, dass im Krankenhaus klar wird: Der alte Mann wird das nicht überleben. Franz, der als Kriegsfotograf in aller Welt unterwegs war und die schlimmsten Gräueltaten gesehen hat, weiß, dass er den Vater wird rächen müssen. Dass er mit seinem Freund Noeten wird herausfinden müssen, wer dafür verantwortlich ist, um die Täter zu finden und zu bestrafen. Darüber zerwirft er sich mit seiner Freundin Karen, der Frau, die er liebt. Und über allem liegt sein größter Verlust: Er vermisst seinen Sohn, der nicht mehr bei ihm ist. Und dann kommt Franz an einen Punkt, an dem es gefährlich wird: Er hat nichts mehr zu verlieren.

Willi Achten hat eine Höllenfahrt von einem Roman geschrieben. Man braucht gute Nerven und auch einen starken Magen, um Nichts bleibt aushalten zu können. Das liegt zum einen an den Ausflügen in die Vergangenheit des Protagonisten, der als Kriegsfotograf viele Jahre lang das Grausamste, zu dem die Menschheit in der Lage ist, auf Bildern festgehalten hat. Es liegt aber auch an der Gegenwart, in der es um Tierquälerei geht und Rache, blutige Rache. Willi Achten spricht dabei eine sparsame Sprache, die mich an Sven Heuchert erinnert. Starke, schnörkellose Sätze, die ihre eigene Wucht entfalten, sehr straight und gnadenlos. Viele Sätze bohren sich in die Haut des Lesers, ob man will oder nicht. Unaufhaltsam marschiert Franz auf das Ende zu, das man so oder ähnlich natürlich kommen sieht, und man möchte eigentlich nicht mitgehen, hat jedoch keine Wahl.

Nichts bleibt ist ein sehr eindrucksvolles, hartes Buch, das von Bosheit und Sadismus handelt, von Liebe und Verlust, von Tod und Trauer. Die großen Themen sind das, die hier ihren Platz finden, und doch fühlt es sich an wie eine kleine, feine Geschichte in einem Wald, an einem See, mit einem Vater, der sich um seinen Jungen sorgt. Das ist eine geschickte Täuschung, die mich tatsächlich beeindruckt hat. Ein Buch wie ein Faustschlag.

Nichts bleibt von Willi Achten ist erschienen bei Pendragon (ISBN 978-3-86532-568-6, 367 Seiten, 17 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

IMG_7909„Alles Gute, das einem widerfuhr, war nichts als eine Leihgabe, nur das Schlechte war einem auf ewig sicher“

„Der Dschungel, notierte Berns in seinem Tagebuch, ist eine Bestandsaufnahme, eine Prüfung, eine Wägung. Was man an Ausrüstung und Charakter nicht mit hineinnimmt, kann man dort nicht erwerben.“

Als er noch ein Junge war, hat Rudolph August Berns am Rhein Gold gewaschen und davon geträumt, ein großer Forscher zu werden. Es dauert lange, bis dieser Traum sich erfüllt, sein Weg ist verschlungen und fordert viel Kraft, doch Rudolph – der sich später Augusto Berns nennt – gibt nicht auf. Geradezu besessen ist er von der Vorstellung, die verlorene Stadt der Inka zu entdecken, Peru ist sein Ziel. Im Jahr 1887 scheint es ihm endlich gelungen zu sein: Alle reden von seinem großen Fund. Doch warum ist Berns aus den Geschichtsbüchern verschwunden, warum gilt Hiram Bingham als Entdecker von Macchu Picchu? Davon erzählt Sabrina Janesch in diesem bemerkenswerten Buch.

Ich kenne die Autorin von ihrem grandiosen Debüt Katzenberge, für das sie zu Recht von der Kritik bejubelt wurde. Mit ihrem neuen Werk hat sie eine Wandlungsfähigkeit bewiesen, für die ich sie zutiefst bewundere. Im Vorwort berichtet sie, wie sie auf die Idee gekommen ist, über Berns zu schreiben, wie schwierig es war, an Informationen zu kommen, wie lange sie recherchiert hat und wie getrieben sie war. Umso mehr hat mich dieser Roman fasziniert, weil ich es immer beeindruckend finde, wenn sich jemand einer Figur, die tatsächlich existiert hat, mit fiktiven Mitteln nähert. Die Kombination aus Realität und Fantasie ist ihr ausgezeichnet gelungen. Das Buch erinnert an jene Abenteuerromane, die man als Kind geliebt hat, mit mutigen Männern und undurchdringbaren Dschungeln, an diesen Rauschzustand, den man dann manchmal hatte beim Lesen, als man noch jung und naiv war und sich so herrlich schnell für etwas begeistern konnte.

Die goldene Stadt ist notgedrungen ein historischer Roman, der – ich möchte fast sagen: auch notgedrungen – durchaus seine Längen hat, aber das machen die gut platzierten Wendungen und das fantastische Ende wieder wett. Perfekt getroffen hat Sabrina Janesch auch den Ton, heiter und jovial, wie man sich die Stimmung dieser damaligen Entdecker vorstellt, die ein Leben voller Entbehrungen führten, ein Leben der Obsession, aber mit Optimismus und unerschütterlicher Zuversicht. Ein wahrer Schmöker von einem Buch, das es mir sehr angetan hat, weil ich es liebe, wenn ich beim Lesen etwas Neues lerne – und von Augusto Berns hatte ich tatsächlich noch nie gehört. Falls es euch ebenso geht, solltet ihr das dringend ändern!

Die goldene Stadt von Sabrina Janesch ist erschienen im Rowohlt Verlag (ISBN 978-3-87134-838-9, 528 Seiten, 22,95) und hat ja, das muss ich noch kurz erwähnen, ein wirklich schönes Cover.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

IMG_7911„Always do what you are afraid to do“

„Welcome to the beautiful Sinclair family. No one is a criminal. No one is an addict. No one is a failure. The Sinclairs are athletic, tall, and handsome.“

Dass das so nicht ganz stimmen kann, ist gleich zu Beginn dieses Romans klar. Wie es aber wirklich ist, verrät E. Lockart erst ganz am Ende, als alle Stränge zusammenkommen. Das ist das Großartige an diesem Buch: Ich habe es sehr lange nicht durchschaut. Eigentlich überhaupt nicht. Seine Wendung hat mich völlig überrascht. Aber erst mal der Reihe nach: Die Ich-Erzählerin ist ein junges Mädchen namens Cadence, das aus einer reichen Familie stammt. Jeden Sommer verbringt sie auf einer Privatinsel, auf der vier Villen stehen, die ihrer Großeltern, die ihrer Mutter und die ihrer zwei Schwestern, man schwimmt im Geld, streitet aber in erster Linie darum. Alle Cousins und Cousinen treffen dort aufeinander, Cadence verbringt am meisten Zeit mit Johnny und Mirren. Außerdem gibt es noch Gat, mit dem sie nicht verwandt ist, der aber auch jeden Sommer hier ist – und in den Cadence sich verliebt. Doch dann geschieht ein Unfall, Cadence verliert ihre Erinnerung, und es dauert zwei Sommer, bis sie herausfindet, was geschehen ist.

Wenn ihr jetzt denkt, aha, das hab ich doch irgendwo schon mal gelesen, kann ich euch nur sagen: sicher nicht. Denn E. Lockhart schreibt derart ungewöhnlich, dass man das Buch nicht einmal einem Genre zuordnen kann. Young adult, ja, natürlich, weil die Protagonistin erst siebzehn ist, ein Thriller irgendwie auch, aber eigentlich nicht, einem Geheimnis muss sie auf die Spur kommen, ihre Erinnerung wiederfinden – aber da ist diese Sprache. Eine Sprache mit einer fantastischen Sogwirkung, nicht jugendlich-kindisch, dennoch simpel, schnörkellos, schon nach wenigen Seiten war ich absolut gefesselt und mit dem Buch in wenigen Stunden durch. Es hat mich, und das will was heißen, aus meiner Lese-Lethargie gerissen, ich habe es in einem Happs verschlungen. Gut, es hat nur 220 Seiten, okay, aber die haben es in sich: Cadence ist eine schonungslose, sarkastische Erzählerin, ihre Stimme ist geheimnisvoll, mysteriös, dennoch offen, ehrlich – sie sagt dem Leser alles, was sie weiß, das Problem ist nur, sie weiß nicht viel. Das ändert sich, und man mag das Ende ein wenig zu dramatisch finden. Dennoch ist dieses Buch in meinen Augen sehr gut gemacht und deshalb auf jeden Fall lesenswert. Man sollte einfach viel öfter über den Tellerrand schauen – auch über den literarischen.

We were liars von E. Lockhart ist auf Deutsch unter dem Titel Solange wir lügen bei Ravensburger erschienen (mit einem absurd hässlichen Cover, mit dem ich es niemals gekauft hätte, ähem).

Bücherwurmloch

IMG_7892Wie Sie hier sehen, sehen Sie nichts. Das ist mein Nachttischerl, das neben meinem Bett steht, und es ist leer. Schaut nicht spektakulär aus, ich weiß, aber: Das bedeutet, dass ich alle Bücher, die da drauflagen, weggelesen habe. Seit ich vor Kurzem diesen Beitrag über mein momentanes Leseverhalten und meine Probleme damit geschrieben habe, habe ich ein bisschen was geändert. Weil ich nichts davon halte, nur rumzujammern, wenn es um Dinge geht, die man ändern KANN. Auf die äußeren Umstände habe ich keinen Einfluss, ich habe beruflich mit Lesen und Schreiben zu tun, ich habe zwei Kinder, die fordernde Zeitfresser sind, aber das mit der Ablenkung, das kann ich vielleicht in den Griff bekommen. Ich habe deshalb mit dem Parallellesen aufgehört, weil es mich anstrengt, unruhig macht, irgendwie auch verwirrt. Wenn da mehrere Bücher liegen, die ich alle angefangen habe, die alle meine Aufmerksamkeit wollen, führt es dazu, dass ich mich auf gar keins mehr richtig konzentrieren kann. Außerdem lasse ich keine Serien mehr auf dem Tablet laufen, während ich lese, was ich vorher in meinem Multitasking-Wahn durchaus gemacht habe (manchmal noch mit dem Handy in der Hand, imagine the madness). Eigentlich schaue ich im Moment überhaupt keine Serien mehr. Das werde ich bestimmt nicht beibehalten, ich will Netflix nicht verteufeln, ich finde viele Stoffe dort sehr interessant, neu und originell, aber: Das Lesen ist mir wichtig, so wichtig, dass ich ihm wieder mehr Platz einräumen muss bzw. möchte.

Auch der andere Zeitfresser, das Handy, bleibt in einem anderen Zimmer. Das fällt mir insofern schwer, weil ich am Abend meist endlich Zeit habe, um Nachrichten zu beantworten und Storys anzuschauen, aber auch hier gilt: Prioritäten setzen. Und ich bin nun mal in erster Linie ein Bücherwurm. Ich werde mit Sicherheit weiterhin extrem kritisch bleiben, das lässt sich nicht abstellen. Ich werde immer noch Bücher abbrechen, vielleicht sogar schneller als zuvor, weil ich ja kein zweites anfangen will, wenn mich das erste nicht packt, ich werde mich langweilen und nur querlesen. Das macht jedoch nichts, denn ich werde trotzdem noch jene Perlen finden, für die sich das Ganze lohnt.

Ein Buch hat es gegeben vor ein paar Tagen, das mich ganz unerwartet aus meiner Leselethargie gerissen hat, ein englisches Buch, von dem ich das gar nicht gedacht hätte. Ich habe danach gegriffen, weil es manchmal hilft, die ausgetretenen Pfade zu verlassen, ein fremdsprachiges Buch zu lesen oder was Seichtes, irgendwas, das man sonst nicht oft liest, und siehe da, es hat funktioniert. Ich war von den ersten Seiten an total gefesselt und nach wenigen Stunden mit dem Roman durch: We were liars von E. Lockhart. Auch noch ein Jugendbuch bzw. für young adults, was ich sonst nicht mal mit der Kneifzange angreife. Stattdessen fand ich das Buch großartig und dachte: Schau, Mariki, du kannst es noch!

Bücherwurmloch

IMG_7858Eigentlich, müsst ihr wissen, ist mein Buch schon sehr lange nicht mehr in meiner Hand, seit über einem Jahr, um genau zu sein. Das liegt daran, dass die Verlage ihre Programmplätze natürlich weit im Voraus besetzen, für Dunkelgrün fast schwarz war im Frühjahr 2018 einer frei. Das war weit weg damals, jetzt ist es das nicht mehr. Jetzt ist der Moment gekommen. Da das Manuskript bereits so lange fertig war, ist es uns gelungen, sehr früh ein Leseexemplar auf den Weg zu bringen, mit dem wir Ende Dezember den Buchhandel, die Presse und meine Blogger versorgt haben. Das ist der Grund, warum ihr es schon überall gesehen habt – und trotzdem noch zweieinhalb Monate warten musstet, bis es erscheint. Aber DAS WARTEN HAT EIN ENDE! Ab heute ist Dunkelgrün fast schwarz überall erhältlich (und ihr wisst ja, im lokalen Buchhandel kaufen, ist am besten, gell)!

IMG_7803Was ich heute sagen möchte und muss, ist: Danke. In den letzten Wochen hat mich eine derart besondere Welle der Wertschätzung überrollt, dass ich völlig überrascht bin. Ich habe mich Ende Oktober nach langem Überlegen doch bei Instagram angemeldet, obwohl ich viele Vorbehalte gegen diese Plattform hatte – und bin sehr froh darüber. Ich dachte, dort gebe es nur oberflächliches Influencer-Lifestyle-Food-Models-Getue (und das gibt es bestimmt auch, aber ich bekomme nichts davon mit, weil ich mich in einem illustren Kreis von Gleichgesinnten bewege), und war verblüfft vom freundlichen Umgang und dem motivierenden Feedback. Außerdem hätte ich sonst verpasst, wie schön viele Blogger #dunkelgrünfastschwarz inszeniert haben. Als absolute Bereicherung empfinde ich auch den direkten Kontakt und den Austausch über meinen Roman – dafür liebe ich das Internet. So viele Leute haben mir geschrieben, nicht nur Blogger auf Instagram, auch Buchhändler via Mail oder Facebook. Ich weiß es sehr zu schätzen, wenn jemand sich die Mühe macht,  mir seine Gedanken mitzuteilen, mir Rückmeldung zu geben. Wunderbare positive Kommentare habe ich erhalten, zu meinen Lesungsterminen, zu meinen Berichten über Neuigkeiten. Allein das hat mich sehr bestärkt und motiviert.

Meinem großartigen Verlag gebührt ebenfalls ein Danke, für all das Engagement, das Fingerspitzengefühl, das Herzblut. Ich fühle mich bei der Frankfurter Verlagsanstalt sehr gut aufgehoben, bin wahnsinnig stolz, dass ich mich zu ihren Autorinnen zählen darf, und freue mich auf alles, was da kommen mag. Natürlich kann es sein, dass das Buch und ich nun einfach sang- und klanglos in der Masse der Neuerscheinungen untergehen. Wir wissen alle, wie kurzlebig Bücher heute sind, wie schnell sie von denen, die nachkommen, begraben werden. Aber vielleicht hab ich ja Glück, jenes Quäntchen Glück, das den Unterschied macht.

IMG_7901Heute also gehen Dunkelgrün fast schwarz und ich auf die Reise. Das Buch erscheint, ich steige morgen in den Zug nach Berlin, zu meiner Premiere bei ocelot. Am Donnerstag lese ich in München bei den Wortspielen, nächste Woche im Literaturhaus Salzburg und bei der Leipziger Buchmesse. Uns beide erwarten spannende Zeiten mit vielen Erlebnissen, Begegnungen, neuen Erfahrungen. Wir setzen uns der Kritik von euch allen aus, das Buch und ich, und wagen uns sehr weit aus unserer Komfortzone heraus. Und das ist ja das Beste, was man im Leben tun kann. Auf geht’s!

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Gerk

  1. Es macht so großen Spaß, dieses Buch zu lesen!
  2. Andrea Gerk ist die Beste, wenn es darum geht, Wissen mit Unterhaltung zu vereinen, ihre Bücher sind hervorragendes Infotainment. Sie schreibt flüssig, amüsant, serviert einem die Informationen auf so elegante Art, dass man sie versteht, sich das Meiste merkt und sich nicht, wie bei manch anderen Sachbüchern, von dem vielen Wissen erschlagen fühlt.
  3. Uns Österreichern ist sogar ein eigenes Kapitel gewidmet. Kein Wunder, unser Grant ist auch wirklich legendär. Kulturgut sozusagen.
  4. Sie bringt alle großen Dichter, Denker, Theaterschreiber, Autoren, Schauspieler zusammen, die eines eint: ihre berühmt gewordene schlechte Laune. „Schreibende Kotzbrocken, singende Ekelpakete“ nennt sie das entsprechende Kapitel. Mit dabei sind Namen wie Schopenhauer und Jarosinski, Reed und Kinski, Jelinek und Doderer. Ein absolutes Vergnügen!
  5. Weil darin Zitate wie „Alles hat zwei Seiten, eine schlechtere und eine noch schlechtere“ stehen und: „Ein jeder intelligente Mensch ist ein Pessimist.“
  6. Weil wir neuerdings alle nur noch gut gelaunt sein sollen. Selbstoptimiert, selbstliebend, motiviert, optimistisch. Da ist es eine Wohltat, dass Andrea Gerk der schlechten Laune ein solches Loblied schreibt.
  7. Sie nimmt das Thema sehr gründlich durch, zeigt, was im Gehirn geschieht, wenn man missmutig ist, und wie Unmut als Schutzschild funktioniert, geht auf die Kunst des Schimpfens ein, widmet sich grantigen Kommissaren und kreativen Cholerikern, außerdem dem Dienstleistungssektor und der Gastronomie, wo man schlechte Laune am besten beobachten kann.
  8. Es ist das perfekte Buch nach einem langen Arbeitstag, der einen wirklich grantig gemacht hat. Man muss bei dieser Lektüre nämlich garantiert früher oder später schmunzeln.

Lob der schlechten Laune von Andrea Gerk ist erschienen bei Kein & Aber (ISBN 978-3-0369-5770-8, 304 Seiten, 24,70 Euro). Sehr angetan davon war auch Sophie von Literaturen.

 

 

 

Bücherwurmloch

FlasarMilena Michiko Flašar: Herr Katō spielt Familie
„Ohne Schmerz gibt es keine Erinnerung“
Herr Katō ist in Pension, und er kann sich noch so sehr einreden, dass er Pläne hat – das Radio reparieren, laufen gehen, vielleicht nach Paris fahren mit seiner Frau, vielleicht –, in Wahrheit ist ihm schrecklich langweilig. Das ändert sich, als er eines Tages die junge Mie trifft. Sie spielt gegen Geld das, was verlangt wird, zum Beispiel eine Tochter, eine Schwester, eine Cousine, lässt sich buchen für Hochzeiten und Beerdigungen, für kurze Treffen, die anderen aus verschiedenen Gründen wichtig sind. Sie erzählt Herrn Katō von ihrer Agentur und bietet ihm einen Job an, den er natürlich, eh klar, fad wie ihm ist, annimmt. Zu kurz währt jedoch dieses Glück, und richtig bereichernd ist es nicht, die allgemeine Langeweile überwiegt, das ewig gleiche Zusammenleben mit seiner Frau, die Abwesenheit seiner Kinder, die, längst erwachsen geworden, kaum noch Kontakt halten, die große Fadesse des Lebens. Genau so erging es mir mit diesem Buch. Es kann gut sein, dass es mich in der falschen Phase erwischt hat, in jener der Ablenkung und des Lese-Überdrusses, als ich etwas Mitreißendes gebraucht hätte. Dabei habe ich Sie nannten ihn Krawatte von Milena Michiko Flašar geliebt! Und ich habe nichts gegen ruhige, zurückhaltende Bücher, im Gegenteil, ich fand Herr Origami großartig, genauso wie die Romane von Yoko Ogawa. Aber dieses hier? Ich weiß nicht. Ich habe mich gemeinsam mit Herrn Katō in seinem Leben sehr gelangweilt.

Herr Katō spielt Familie von Milena Michiko Flašar ist erschienen im Wagenbach Verlag (ISBN 978-3-8031-3292-5, 176 Seiten, 20 Euro).

IMG_7913Katie Kitamura: A separation
Christopher ist verschwunden, und seine Frau soll ihn suchen. Das wäre nicht so ungewöhnlich, wären die beiden nicht seit Längerem getrennt und fast schon geschieden, was nur niemand weiß. Christophers Mutter fordert die namenlose Protagonistin auf, nach Griechenland zu reisen, wo er sich aufhalten soll, und sie tut es. Sie lebt mit einem neuen Mann zusammen, hat ihren untreuen Gatten verlassen, alles ist noch unklar, keine Papiere unterschrieben. Sie kommt im Hotel an, und Christopher ist nicht da. Also tut sie erst einmal nichts, was sehr langweilig ist, und dann kommt des Rätsels Lösung eh schon ans Licht, ohne dass sie was tut, was auch langweilig ist. Ich habe mir viel von Katie Kitamura erwartet, deren Name seit einer Weile immer wieder dort auftaucht, wo von den Guten die Rede ist, die mit vielen Preisen bedacht wurde und deren Romane auch auf Deutsch erschienen sind. Letztlich war A separation aber eine herbe Enttäuschung, eine ganz und gar uninteressante Geschichte ohne einen einzigen Höhepunkt, ohne Konflikt, ohne Botschaft, die ich hätte hören können. Vielleicht habe ich mich für das falsche ihrer Bücher entschieden, die anderen werde ich jetzt jedoch sicher nicht mehr lesen.

Trennung von Katie Kitamura ist auf Deutsch erschienen bei Hanser (ISBN  978-3-446-25445-9, 256 Seiten, 22 Euro).

 

 

Bücherwurmloch

Bildschirmfoto 2017-10-22 um 14.03.57Ich habe in letzter Zeit viele Stunden damit zugebracht, Leseproben zu sichten, Manuskripte zu lesen, konstruktives Feedback zu geben, zu überlegen, mit welchem Roman ich ins Rennen gehen könnte, zu grübeln und noch mehr zu grübeln. Das Problem ist, dass ich in manchen Manuskripten Potenzial sehe, sie aber einfach noch nicht so weit sind. Sie sind wie Rohentwürfe, wie erste Skizzen, die noch viel Arbeit brauchen, nicht im Lektorat, nein, sondern in ihrer Konzeption, ihrem Aufbau, ihrer Balance. Da fehlen ganze Perspektiven, da sind Figuren in ihrer Gesamtheit in Frage zu stellen, weil sie nicht funktionieren, lauter Dinge, die man nicht in kurzer Zeit bereinigen kann. Genau das haben wir aber beim Blogbuster: wenig Zeit. Was schade ist, aber nicht zu ändern, und deshalb ist meine Entscheidung gefallen: Ich werde mit gar keinem Roman teilnehmen. Das Blogbuster-Finale findet 2018 ohne mich statt.

Ich weiß, dass meine Autoren enttäuscht sind, und ich bin es auch. Es ist frustrierend, wenn man so viel Arbeit und Zeit investiert und am Ende nichts dabei herauskommt, das gilt in dem Fall für uns alle. Ich kann es aber auch nicht vertreten, mit einem Manuskript ins Rennen zu gehen, wenn ich zu hundert Prozent sicher bin, dass es sofort wieder rausfliegt. Wie könnte ich dem Autor falsche Hoffnungen machen und uns beiden verlorene Liebesmüh bereiten? Wie könnte ich die Werbetrommel rühren für ein Buch, von dem ich nicht überzeugt bin? Wie soll ich etwas als gut verkaufen, wenn es nicht gut ist? Das mache ich nicht, dafür bin ich zu ehrlich und zu geradlinig, selbst wenn es nun bedeutet, dass für mich alles umsonst war.

Aber well, shit happens, das ist nicht das Ende der Welt, und ich bin sicher, dass auch ohne mich ein Spitzenbuch bei Kein & Aber erscheinen wird. Welches das sein wird, darauf bin ich schon sehr gespannt, und wünsche den anderen Kandidaten viel Glück!

Bücherwurmloch

thumb_IMG_6320_1024Liest du noch oder switcht du schon?
Hätte man mich vor zehn Jahren gefragt, hätte ich gesagt, dass ich ein sehr ungeduldiger Mensch bin. Doch dann hab ich Kinder bekommen, und es hat sich herausgestellt: Das ist nicht wahr. Ich bin unendlich geduldig. Ich kann 67 Mal „Bitte zieh dich an“ sagen und immer noch freundlich bleiben, ich kann 36 Mal hintereinander das Titellied von Frozen ertragen, ohne auszurasten, ich beantworte absurde Warum-Fragen, ich höre zu, ich koche Lieblingsspeisen, die dann an dem Tag doch keiner mag, ich wache in Fiebernächten an den Betten, wieder und wieder. Sicher flippe ich ab und zu auch aus und schreie rum, aber es dauert erstaunlich lange, bis das passiert.

Hätte man mich vor zehn Jahren gefragt, hätte ich gesagt, dass ich ein sehr geduldiger Leser bin. Was habe ich die dicken Schinken geliebt! Die Schmöker, die ausufernden Geschichten. Ich habe nie ein Buch abgebrochen, ich hab mich durchgebissen, auch wenn es mir nicht gefiel. Ich hatte ja Zeit, ich hab studiert und nebenbei gearbeitet, aber die Abende gehörten mir und die Wochenenden auch, ich wusste ja nicht, dass das später nie wieder so sein würde. Dass mich später beim Anblick der vielen Instagram-Posts mit Captions wie „Endlich Lesezeit“ oder „So gemütlich, wenn es draußen regnet und ich drinnen im Bett lesen kann“ der Neid in den Nacken beißen würde, weil man mit Kindern kein Wochenende hat und Lesezeit auch kaum.

Jetzt ist alles umgekehrt. Ich bin zwar eine geduldige Mama, aber ein ungeduldiger Leser. So ungeduldig bin ich, dass ich mich im Moment frage, warum ich überhaupt noch lese. Hat das denn noch einen Sinn? Ehrlich, an einem solchen Punkt war ich noch nie, auch wenn das Thema für mich nicht neu ist und ich hier vor 1,5 Jahren schon mal drüber geschrieben habe. Ich finde 70 Prozent aller Bücher, die ich in die Hand nehme, langweilig. 20 Prozent sind okay. Und zehn Prozent reißen mich so richtig vom Hocker. Immer öfter breche ich Bücher ab. Ist es das alles wert? Vergeude ich da nicht Lebenszeit, die ich besser investieren könnte?

Diese Ungeduld hat fünf Gründe:

  1. Ich bin übersättigt. Manchmal denke ich, ich habe alles, was es gibt, schon mal gelesen. Das ist natürlich Blödsinn, vor allem wegen der zigtausend Neuerscheinungen jedes Jahr, aber es fühlt sich so an. Die meisten Settings und Konstellationen sind mir schon mal untergekommen, bei manchen Formulierungen kommt mir das Kotzen, so satt habe ich sie. Ja, das ist ein Luxusproblem. Eines, das mit den achtzig bis hundert Büchern, die ich jährlich lese, von Jahr zu Jahr schlimmer wird.
  2. Ich bin der schrecklichste Leser, den ein Buch haben kann, weil ich das auch beruflich mache: lesen und schreiben. Mein Anspruch ist zu hoch. Ein Bücherwurm bin ich seit 26 Jahren, eine freie Lektorin seit fast zwölf, und ich habe in meinem Leben schon Hunderte Bücher redigiert. Wenn ich dann lese, privat, zum Vergnügen, lässt sich die Stimme in meinem Hinterkopf nicht abstellen, die sagt: Da hätte man straffen können, das ist nicht ausbalanciert, das hätte man nicht auserzählen müssen … und so weiter. Was rein subjektiv und total unnötig ist, unsympathisch und verschroben, wer bin ich, meinen eigenen Maßstab an diese Romane anzulegen? Ein Buch kann und muss nicht perfekt sein, auch mein eigenes Buch ist alles andere als perfekt. Aber ich lasse einem Roman nichts mehr durchgehen, ich habe jegliche Geduld mit Unstimmigkeiten und Unsauberkeiten verloren, ich ertrage das alles nicht mehr. Ich bin wie ein Dauersingle mit dem Tinder-Syndrom, der sich nicht mehr festlegen kann und will, weil das alles den eigenen Ansprüchen nicht genügt, weil es da draußen sicher noch was Besseres gibt. Ein Supernerd bin ich, ein Grantler, und das ist mir selbst unerträglich, ich will nicht so sein. Nicht umsonst hab ich die letzten Bücher hier im Blog nur kurz angebraten, ich halte mein Gemotze schon selbst nicht mehr aus.
  3. Ich habe keine Zeit mehr. Mein Tag ist derart ausgefüllt, dass ich immer nur knapp am klassischen Berufstätige-Mutter-Burn-out vorbeischramme und bloß lachen kann, wenn Vorschläge kommen wie „Versuchen Sie es wenigstens mal mit zehn Minuten nur für sich“. Da hat ein Buch es schwer mit mir. Es muss mich packen und begeistern, damit ich die spärlichen Minuten, die ich fürs Lesen zusammenkratzen kann, in es investieren will. Wenn es das nicht tut, ist es raus.
  4. Ich weiß nicht mehr, wie man stillsitzt. Absurd, nicht wahr? Ich bin rastlos und ruhelos, ich stehe permanent unter Strom. Dass ich mal an einem Tag eine halbe Stunde auf der Couch sitze, das kommt nicht vor. Entweder arbeite ich, und dann schon mal zwölf Stunden am Stück, weil ich Deadlines einhalten muss und nicht jeden Tag zur Verfügung stehe, oder ich bin mit den Kindern unterwegs, kaufe ein, koche, räume auf, helfe bei der Hausübung, trage Wäscheberge ab und lese vor. Mir bleibt abends ein Zeitfenster von 1,5 bis zwei Stunden, bevor ich völlig erschöpft einschlafe. Nachts wecken die Kinder mich mehrmals, und oft bleibe ich dann wach, weil es in meinem Kopf rattert, was ich noch besorgen muss, was ich erledigen muss, wie es bei dem Roman, an dem ich schreibe, weitergehen könnte, welche Headlines ich für den Job morgen finden könnte, und dann muss ich um 6 Uhr aufstehen, auch am Wochenende. Ich bin deshalb ständig müde, eine Hürde, die ein Buch erst mal überwinden muss. Ich bin außerdem derart daran gewöhnt, dass Dutzende Multitasking-Tabs in meinem Kopf geöffnet sind, dass ich es kaum noch schaffe, nur eine einzige Sache zu machen, nämlich lesen. Tausend andere wichtige Dinge fallen mir dann ein, die ich organisieren muss, und mit meiner Konzentration ist es nicht weit her. Wie kann ein Buch derart viele Hindernisse aus dem Weg räumen, wie kann es so interessant, herausfordernd und spannend sein, dass ich ihm, und nur ihm meine Aufmerksamkeit schenke? Richtig. Das kann es nicht.
  5. Die Konkurrenz ist groß. Und damit meine ich nicht nur die ungelesenen Bücher, die mir vom Regal aus zurufen: Nimm mich, nimm mich, ich bin viel besser, versuch es mit mir! Weshalb ich neuerdings plötzlich andauernd drei, vier Titel parallel lese, was ich früher nie getan hätte. Ein paar Seiten, mhm aha, na gut, dann das nächste. Dieses Verhalten gefällt mir nicht, weil nur noch switche. Denn neben diesen „Konkurrenztiteln“ gibt es außerdem Netflix und sauviele Serien, die mir zuflüstern: Lass das anstrengende Lesen, wir berieseln dich, wir eröffnen dir neue Welten, wir sind originell und anders, komm schon. Jaha, und dann gibt es noch mein Handy, das irgendwo rumliegt und mich lockt mit: Guck doch mal, was deine Freunde so treiben, vielleicht hat jemand eine nette Story gemacht, oh, und du wolltest doch deiner Familie auf WhatsApp zurückschreiben … Die Möglichkeiten zur Ablenkung sind groß und permanent vorhanden. Ich lese immer noch viel, aber ich stelle auch an mir das fest, was ein Problem unserer Zeit zu sein scheint: Wir verweilen nicht mehr, wir hetzen weiter, greifen zum nächsten Buch/Film/Zeitvertreib. Ich will das nicht. Nur weiß ich grade nicht, wie ich es ändern kann.

IMG_6391Die eigentliche Frage lautet also nicht unbedingt: Habe ich das Lesen verlernt?, sondern vielmehr: Habe ich das genussvolle Lesen verlernt, das ruhige, langsame Lesen, habe ich verlernt, mich einem Buch voll und ganz zu widmen, ihm – und nur ihm – meine Aufmerksamkeit zu schenken und zwar so viel davon, wie es eben braucht? Ja. Definitiv. Ich muss gestehen, dass ich schon lange nicht mehr bzw. nur noch sehr selten auf diese Art lese – nur dann, wenn ein Buch mich richtig packt. Das Buch, bei dem das zuletzt der Fall war, habe ich Anfang November gelesen. Seither habe ich mich wieder durch einen Haufen Romane gelangweilt, manche waren okay, andere haben mich genervt, angerührt hat mich kaum eins, und wir reden immerhin von 24 Büchern. Das ist ätzend. Sehr, sehr ätzend.

Und was tue ich jetzt? Weitersuchen, mich durch all die öde Lektüre quälen auf der Suche nach den wenigen Perlen, die mir kurze Momente der Freude bereiten? Mir selbst klare Regeln auferlegen, an welchen Tagen ich lese, wann ich eine Serie schaue und wann ich das Handy in die Hand nehme? Keine Rezensionsexemplare mehr anfordern, damit ich wenigstens nicht mehr unter dem Druck stehe, etwas zu all diesen Büchern schreiben zu müssen? Einfach warten, bis meine Kinder größer sind und als Teenager grummelnd in ihren Zimmern verschwinden, sodass ich wieder viel Lesezeit habe? Mir selbst Hoffnung machen, dass das jetzt eben die stressigste Phase meines Lebens ist, weil die Kinder klein sind, dass es nie wieder so anstrengend sein wird wie in diesen Jahren? Letztlich wird es wohl eine Kombination aus allem, denn irgendeine Lösung für dieses Dilemma muss ich finden. Lesepausen hab ich schon einige eingelegt, das hat nicht geholfen. Aber das Lesen ganz aufgeben, das kann ich nicht.

Snacks für zwischendurch

BronskyAlina Bronsky: Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche
Rosalinda hält nicht viel von ihrer Tochter Sulfia, sie findet sie hässlich, blass und dumm, wirklich gestraft ist sie mit diesem Kind, aber was soll man machen. Als Sulfia selbst eine Tochter bekommt, wundert Rosalinda sich, wie es sein kann, dass überhaupt jemand mit ihr schlafen wollte. Und ist nicht vorbereitet auf die Zuneigung, die sie für ihre Enkelin Aminat empfindet. Doch damit fangen die Probleme erst an: Da sie Sulfia als Mutter für ungeeignet hält, würde Rosalinda die kleine Aminat am liebsten selbst aufziehen. Nur hat sie die Rechnung ohne ihre Tochter gemacht. Die beiden erschweren einander für viele Jahre das Leben, ob zuhause in Russland oder später in Deutschland, und zwar in allen Belangen und Bereichen. Rosalinda hält sich für unfehlbar, für schlau, gewitzt, gutaussehend und hilfsbereit, und da der gesamte Roman aus ihrer Sicht erzählt ist, dringt nur schwach durch, dass die Menschen in Rosalindas Umgebung ein ganz anderes Bild von ihr haben: Sie mischt sich in alles ein, ist herrisch, selbstverliebt, arrogant und besserwisserisch, ein Feldwebel von einer Frau. Das sorgt für eine Diskrepanz, die zuweilen sehr amüsant ist, mich insgesamt aber auch ziemlich genervt hat. Ich hätte mir ein Gegengewicht gewünscht, eine andere Perspektive, eine Sicht von außen auf Rosalinda, die den Roman ausbalanciert und vielschichtiger gemacht hätte. So fand ich das Buch zwar erheiternd, aber auch anstrengend, ich habe lange dafür gebraucht und es immer seltener zur Hand genommen. Alina Bronskys andere Romane, Scherbenpark und Baba Dunjas letzte Liebe, fand ich persönlich wesentlich besser. 

Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche von Alina Bronsky ist als Taschenbuch erschienen bei KiWi Paperback (ISBN 978-3-462-30189-2, 320 Seiten, 8,99 Euro).

PoulainCatherine Poulain: Die Seefahrerin
„Ich will, dass mich ein Schiff adoptiert“
Sie macht sich auf den Weg nach Alaska, weil sie fischen will: Eine kleine, schüchterne Frau sehnt sich danach, auf dem Meer zu sein, weg zu sein von ihrer Familie in Frankreich, und es gelingt ihr tatsächlich, auf einem Kutter anzuheuern. Die Arbeit ist hart, natürlich, sie schuftet Tag und Nacht, ist Wind und Wetter ausgesetzt, verletzt sich und muss das Schiff verlassen. Was ihr sehr schwerfällt, weil sie dort draußen, auf dem Wasser, ihre Sehnsucht erfüllt sieht. Daran kann auch ein Mann nichts ändern, den sie beim Fischen kennenlernt und der möchte, dass sie mit ihm sesshaft wird.

Sich anheuern lassen heißt, mit dem Kutter verheiratet zu sein, solange du auf ihm schuftest. Du hast kein eigenes Leben mehr, nichts, was nur dir gehört. Du musst dem Kapitän gehorchen. Sogar wenn er ein Arsch ist. Ich weiß nicht, warum ich hier bin. Ich weiß nicht, woher das kommt, dass man derart leiden möchte, für nichts und wieder nichts, im Grunde genommen. Es fehlt einem an allem, an Schlaf, an Wärme, auch an Liebe.

Dieses Buch hat mich in einen Zwiespalt geworfen. Ich wollte es lesen, weil ich fasziniert war von der Geschichte, von dieser außergewöhnlichen Frau, denn auch die Autorin hat zehn Jahre auf den Meeren Alaskas verbracht. Zehn Jahre! Die ersten hundert Seiten habe ich gefressen, ich mochte den rauen, wilden, merkwürdigen Stil, irgendwie eckig, unrund, anstrengend. Doch dann, nun ja, hat es angefangen mich zu nerven, weil es halt immer dasselbe ist, was soll schon groß passieren auf einem Fischkutter. Sie erzählt, wer Kaffee kocht, wer Wache hält, wie viel Fisch sie fangen. Das Buch hat allerdings über 400 Seiten, irgendwann ist das ermüdend. Haben sich Autorin und Verlag wohl auch gedacht, deshalb kommt plötzlich, sehr spät, eine Liebesgeschichte daher, die wie ein Fremdkörper wirkt und mich ein bisschen geärgert hat: Muss man einer Frau, die frei sein und auf dem Meer fischen will, die arbeitet wie ein Bär, wirklich so eine Lovestory mit einem Typ andichten, der sie zum Hausweibchen machen will? Das fand ich reichlich dämlich und enttäuschend. Schade, denn die Geschichte an sich, über die Seefahrerin, über die Wasser Alaskas, wäre, auf halb so viel Seiten, sehr gut gewesen.

Die Seefahrerin von Catherine Poulain ist erschienen bei btb (ISBN 978-3-442-75739-8, 416 Seiten, 21 Euro).

ZehrerKlaus Cäsar Zehrer: Das Genie
„Die Überheblichkeit ist die engste Freundin der Ignoranz, man trifft die beiden stets gemeinsam an“
Auch so ein Buch, das mich unentschlossen zurückgelassen hat: Klaus Cäsar Zehrer hat eine Art fiktive Biografie über William James Sidis geschrieben, einen der angeblich klügsten Menschen aller Zeiten, er wurde dafür mit dem Debütpreis 2017 ausgezeichnet und alle, also wirklich alle Leser waren restlos begeistert. Nur ich nicht. Anfangs habe ich den Roman gern gelesen, man folgt zuerst Williams Vater Boris, der Ende des 19. Jahrhunderts mittellos in New York ankommt und sich aufgrund seiner beeindruckenden Intelligenz schnell einen Namen macht, er schließt mehrere Studiengänge ab, lernt und unterrichtet und entwickelt mit seiner Frau Sara die Sidis-Methode, nach der sie ihren Sohn William erziehen. Die Art, auf die sie das tun, ist mir jedoch völlig unverständlich: Wie können zwei angeblich so kluge Menschen ihr Kind derart versauen? Sie füllen William ab Tag eins mit Wissen an, das funktioniert auch, schon im Alter von elf Jahren hält er einen Vortrag vor Harvard-Professoren. Doch er ist ein Sozialdepp. Sind daran die lieblosen Eltern schuld, die ihm nichts beibringen, was er im Leben braucht? Oder entspricht man als Genie automatisch dem Klischee vom lebensuntauglichen Nerd? Das bleibt unklar. Wie so vieles in diesem Buch, denn der Autor rauscht durch Williams Leben wie ein D-Zug. Er scheint es sehr eilig zu haben, handelt alles äußerst emotionslos ab, braucht aber dennoch über 600 Seiten dafür, auf denen ich mich letztlich schrecklich gelangweilt habe. Etwa ab der Hälfte hab ich nur noch quergelesen. Es muss einem erst mal gelingen, derart viel über eine einzige Person zu schreiben, die noch dazu historisch belegt ist, aber auf eine Art, dass dieser Mensch nicht greifbar wird, blass und eindimensional bleibt, wie der Schatten einer Figur. Ich konnte mit William nicht das Geringste anfangen, mit dem leblosen Stil, der allerorts als so fesselnd beschrieben wird, auch nicht. Ich fand das Buch langweilig, platt, unzugänglich, pathetisch, das Gegenteil von subtil und raffiniert. Ich wollte es nicht mal in die Ecke pfeffern, so einschläfernd war es, mir hätte die Kraft gefehlt. Einfach nur schnarchig.

Das Genie von Klaus Cäsar Zehrer ist erschienen im Diogenes Verlag (ISBN 978-3-257-06998-3, 656 Seiten, 25 Euro).