„Auch auf die eigene Blindheit hat der Mensch ein Recht“
„Ich glaube, Sterben ist wie ein verlorener Zahn, gestern Abend hatte man ihn noch, und heute Morgen wurde er gezogen, das ist alles.“
Ihren Ursprung hat die Geschichte in einem russischen Kurort bei Kasan, und von da an bewegen sich mehrere Frauen aus unterschiedlichen Generationen in konzentrischen Kreisen umeinander und um sich selbst. Die jüngste von ihnen ist Walja, die von ihrer Mutter, Großmutter und Urgroßmutter erzählt. Aber sie tut es nicht chronologisch, sie weiß auch nicht allzu viel, weshalb sich etwas Auktioriales dazwischenmischt, und am Ende kommt ein ganz hervorragender, schmaler, aber kraftvoller Roman dabei heraus, über Russland, Frausein, Mutterschaft, über Ehen, die man bereut, und solche, über die man niemals hinwegkommt.
Valery Tscheplanowa ist als Schauspielerin auf Bühnen und im Kino bekannt geworden, sie wurde auch bereits bei den Salzburger Festspielen als Buhlschaft gefeiert. Für ihren ersten, autobiografisch gefärbten Roman – sie ist selbst im sowjetischen Kasan geboren und kam mit acht Jahren nach Deutschland – hat sie eine bildhafte, anrührende Sprache gefunden, die viel mit mir gemacht hat. Ich hab das Buch in einem Rutsch gelesen, es ist wunderbar flüssig und klug und zart, obwohl es zeitweise von Gewalt und Vernachlässigung berichtet, von emotionalem Hunger und großen Leerstellen. Es geht um die Frage nach Heimat und Zugehörigkeit, um familiäre Verbindungen und Dinge, die wir denen, die vor uns gekommen sind, nicht verzeihen. Schön finde ich, dass die Autorin ganz bei den Frauen bleibt, die Männer sind zwar anwesend, aber auf ihnen liegt nicht, wie sonst so oft, der Fokus. Obwohl die Handlung an sich keine Kapriolen schlägt, obwohl solche Geschichten schon oft erzählt worden sind, ist dies ein ungewöhnliches Buch mit einem unverstellten, jungen Blick auf Vergangenes. Ich kann es euch auf jeden Fall empfehlen.