Bücherwurmloch

„Die Männer Griechenlands sind wie Hunde, die um einen Knochen kämpfen“
Jeder kennt ihn: Achill, den strahlenden Kämpfer, Sohn der Meeresgöttin. Schon als Kind wird ihm eine glänzende Zukunft als unvergessener Held vorhergesagt. Als er den verstoßenen Patroklos kennenlernt, der ihm so gar nicht gleicht, weil er nicht musikalisch ist, nicht sportlich, nicht stark, entsteht zwischen den beiden Jungen eine so enge Freundschaft, dass alle anderen im Palast neidisch sind. Achill hält gegen alle Widersacher – allen voran seine Mutter, der diese Freundschaft ein Dorn im Auge ist – an Patroklos fest, und Patroklos folgt ihm an jeden noch so gefährlichen Ort. So landen die beiden später in den Wirren des Trojanischen Krieges, sie geraten in die Intrigen von Agamemnon, Odysseus und der Götter, die um das Schicksal der Menschen würfeln. Hier soll sich Achills Schicksal erfüllen. Und Patroklos ist bis zum Ende entschlossen, ihn nicht zu verlassen.

Madeline Miller hat zwei Talente: Zum einen weiß sie ausgezeichnet über die griechische Mythologie Bescheid, zum anderen kann sie sehr gut schreiben. In Kombination ist aus diesen beiden Talenten das herausragende Buch „Ich bin Circe“ entstanden, das ich letztes Jahr sehr gefeiert habe. Sie hat darin zum ersten Mal aus weiblicher Sicht das bekannte Heldenepos nacherzählt, mit dem viele von uns sich in der Schule gequält haben. Man muss aber sagen: Wenn es einem jemand mit eigenen, wohlklingenden Worten nacherzählt, ist das keine Qual mehr, ganz im Gegenteil, dann werden diese Geschichten sehr interessant. Michael Köhlmeier konnte das, Madeline Miller kann es ebenfalls: Sich den mythischen Stoff aneignen, ihn wiedergeben, sodass man ihn versteht – und sie versetzt ihn zusätzlich mit einer eigenen Note. Circe bekam female empowerment, Achill und Patroklos bekommen eine wunderschöne, intime, queere Liebesgeschichte. Die natürlich im alten Griechenland, in dem die Knabenliebe hochgehalten wurde, niemanden empört hätte, und darum geht es auch gar nicht: Nicht die Tatsache, dass sie beide Männer sind, steht im Vordergrund, sondern ihre Gefühle füreinander. Die Leidenschaft, das Pathos, die Liebe. Wer die griechischen Mythen kennt, wird sich in diesem Buch aufgehoben fühlen, wird vieles wiedererkennen und grinsend nicken. Wer sie nicht kennt, kann sich ihnen mit diesem Roman nähern, auf unkomplizierte und verständliche Weise. So oder so absolut lesenswert! Ich bin gespannt, welcher bekannten Figur Madeline Miller sich als Nächstes annimmt.

Das Lied des Achill von Madeline Miller ist erschienen im Eisele Verlag.

Bücherwurmloch

„In a real adult smile, there is always something other than happiness“
Manchmal, wenn ich deutsche Bücher lese, wenn ich mir die deutsche Verlagswelt anschaue, denke ich: Wo ist sie, die Vielfalt? Wo sind sie, die weiblichen Stimmen, die weiblichen Themen und Protagonistinnen? Dann habe ich diesen Erzählband von Polly Rosenwaike in die Finger bekommen, und die Antwort ist: Sie sind hier. Und schon höre ich in meinem Kopf, wie die deutschen Verlage sagen: Wie, ein ganzes Buch nur mit Kurzgeschichten über Frauen und Mütter? Wer will so etwas lesen, wer soll das kaufen? Ich kenne die Verkaufzahlen von „Look how happy I’m making you“ nicht. Aber ich habe diese Short Storys geliebt. Eben weil sie so sind, wie sie sind: radikal auf das Weibliche konzentriert. Männer sind, wenn überhaupt, nur Nebenfiguren.

In allen 12 Geschichten geht es um das Thema Mutterschaft, und zwar auf völlig unterschiedliche Weise. Da gibt es Frauen, die sich nichts sehnlicher wünschen als ein Baby, da gibt es Frauen, die einen Termin in einer Abtreibungsklinik vereinbaren und Freundinnen, die ihre Mütter verloren haben und sich jedes Jahr am Muttertag treffen. Polly Rosenwaike schreibt über das Gefühl, ein Kind nicht als Erfüllung jeglicher Träume anzusehen, und über das Gefühl, ein Kind nach seiner Geburt nicht zu lieben. Am schönsten und ehrlichsten fand ich die Erzählung über eine Frau, die – längst anderweitig verheiratet und hochschwanger – ihre erste große unerwiderte Liebe wiedersieht, den Mann, der sie am College einfach nicht zurückgeliebt hat. Wie sie sich jetzt, mit Ring am Finger und Baby im Bauch, sichtbar geliebt, gewollt zeigen kann – und sich bewusst gegen eine erneute Zurückweisung entscheidet. Die weiblichen Figuren sind nicht alle stark oder tough oder selbstbewusst, sie sind auch nicht unbedingt emanzipiert, und das spielt keine Rolle, das müssen sie nicht sein. Vielmehr dürfen sie sich ohne Schutzpanzer zeigen, mit all ihren Schwächen und Sehnsüchten oder auch dem Fehlen gewisser Sehnsüchte. Nicht jede Frau möchte Mutter werden oder Mutter sein. Und das ist in Ordnung so. Damit diese Botschaft endlich in unsere Köpfe gelangt, braucht es mehr Bücher wie dieses. Das ist der Grund, warum ich mir auch in der deutschen Verlagswelt mehr Mut für solche Erzählungen wünschen würde, mehr Bekenntnis zu weiblichen Stimmen. Denn sie haben etwas zu sagen.

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„Die Abwesenheit von Einsamkeit“
Es gibt Menschen, bei denen denkt man: Wow. Sie sind doppelt, nein, dreifach gesegnet, sie haben Talent bekommen, dazu noch gutes Aussehen, ein Modelgesicht, einen makellosen Körper, eine Engelsstimme, Biss. Sie haben die nötigen Beziehungen und das nötige Durchhaltevermögen. Man beneidet sie, aber immer mit einer Spur Ehrfurcht im Inneren, man begegnet ihnen mit Gefühl: Die agieren auf einer anderen Ebene, die sind aus einer anderen Welt. Sie sind nicht nahbar, sie sind nicht wie du und ich. Andrea Petković ist einer dieser Menschen: Sie sie ist schön, sie ist schlau, sie spielt Tennis in einer Liga, die nur wenige, sehr wenige Sportlerinnen jemals erreichen, sie hat Geld und Ansehen, Ruhm und Ehre. Aber sie macht sich nahbar. Denn sie hat ein Buch geschrieben, in dem sie davon erzählt, wie es ist, ein solcher Mensch zu sein. In dem sie sich verletzbar und verletzt zeigt, in dem sie fühlbar macht, wie nahe Sieg und Niederlage beieinander liegen, wie weh es tut, so viel allein zu sein, in fremden Städten, in leeren Hotelzimmern, was für eine starke Antriebskraft Ehrgeiz ist und wie erbarmungslos man sich selbst kritisieren kann.

Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht ist ein Buch mit autobiografischen Erzählungen, die chronologisch beginnen, mit Andrea als Kind, es aber nicht bleiben. Als Tochter serbischer Einwanderer in Darmstadt aufgewachsen, konzentriert Andrea sich früh auf eine Tenniskarriere, unermüdlich spielt sie sich nach oben – und dazu braucht es viel Zeit auf dem Platz, viele Opfer. In einem leichten Ton, der nie an Selbstironie verliert, berichtet sie von einer Jugend mit dem Schläger in der Hand, vom dringend benötigten Preisgeld, das nie hoch war, vom Umgang mit dem eigenen Körper, der sich verändert und bei einer Spitzensportlerin verlässlich funktionieren muss. Immer begleitet Andrea dabei die Literatur: Sie liest mit ebensolcher Hartnäckigkeit, mit der Tennis spielt, Bücher. Vor allem David Foster Wallace hat es ihr angetan, und auch hier offenbart sie mit heiterer Selbstreflexion, wie sie sich ein literarisches Werk nach dem anderen erarbeitet hat und manche ihr Lebenswegweiser geworden sind.

Brillant werden diese Erzählungen dadurch, dass Andrea Petković sich selbst nicht ernst nimmt und zugleich doch. Sie weiß, was sie kann. Sie weiß, was sie geleistet hat. Aber sie setzt es in Relation. Zu der harten Arbeit, die dahintersteckt. Zu dem Glück, das man manchmal braucht. Zu der haardünnen Linie zwischen Berühmtheit und Bedeutungslosigkeit, von der man vielleicht nie ergründen kann, wo genau sie überschritten wird. Man mag überrascht sein davon, dass Andrea Petković nicht nur auf höchstem Niveau Tennis spielen, sondern auch gut schreiben kann. Aber manche Menschen sind eben doppelt und dreifach gesegnet – und wissen mit ihren Talenten zu arbeiten. Chapeau!

Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht von Andrea Petković ist erschienen bei Kiepenheuer & Witsch.

 

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„Es war, als hätte der Vater ein Buch im Kopf, das er nur aufzuschlagen brauchte“
Und dann erzählt er Leyla von seiner Kindheit. Von dem Land, das es offiziell nicht gibt, das auf dem Gebiet anderer Länder liegt, Kurdistan. Von Vertreibung und Gewalt, von Mord, Angst und Entwurzelung. Der Vater hat es nach Deutschland geschafft, die Mutter ist Deutsche, und Leyla wächst hier auf. Nur die Sommer verbringt sie in ihrem anderen Zuhause. Bei der Großmutter, die im Garten arbeitet und Brot bäckt, bei den Cousins, die Frösche und Schlangen töten, bei den Cousinen, die Leyla auslachen, weil sie nicht weiß, wo unter dem hohen Gras die Gräben sind und wo die verborgenen Minen. Die Sommer sind heiß und lang, aber eigentlich auch kurz, sie sind nur kleine Einblicke in das, was für den Rest der kurdischen Familie das wahre Leben ist: ohne fließendes Wasser und mit der Sehnsucht nach deutschen Produkten. Das Land hat man ihnen weggenommen und die Perspektiven auch. Leyla versucht, diesem Erbe, das der Vater ihr eingibt, gerecht zu werden. Die Frage ist nur: Wie kann ihr das gelingen?

„Ihr Name war der Name von Märtyrerinnen. Der Tod von zweien von ihnen, die Gefängnishaft der dritten, das alles war ihr eingeschrieben, vorgeschrieben. Ihr Leben, ihre Geschichte, wurde an ihrem Namen gemessen. Leyla dachte, dass ihr Name nicht ihr gehörte. Sie gehörte dem Namen.“

Ronya Othmann, die am Literaturinstitut Leipzig studiert hat und mit Cemile Sahin die Kolumne „OrientExpress“ über Nahostpolitik schreibt, erzählt in diesem Buch auf doppelte Weise vom Verschwinden. Zum einen durch die Vergangenheitsebene der Protagonistin, die die Sommer ihrer Kindheit in Kurdistan verbracht hat, zum anderen, weil Jahre später Aleppo zerstört wird und die Jesiden vom IS ermordet werden. Leyla sieht die Bilder in den Nachrichten, sie weiß, dass ihre Familie um ihr Leben fürchtet, während sie selbst im unbeteiligten Deutschland in der Uni sitzt. Diese innere Zerrissenheit hat Ronya Othmann sehr gut eingefangen, genau wie die drückende Wärme der früheren Sommer, die selige Unwissenheit eines Kindes, das zwar die Unterschiede bemerkt, sie aber nicht benennen kann. Die erwachsene Leyla ordnet die Erlebnisse ein, reflektiert und informiert sich – und fällt schließlich eine Entscheidung. Die Sommer ist ein wichtiges, kluges Buch über ein unterdrücktes Volk und seine Traditionen, seinen Kampf, seinen Wunsch nach einem Leben in Sicherheit. Die Sprache ist leicht verträumt, melancholisch, mit exakt der richtigen Dosis Traurigkeit. Auch wenn das Buch stellenweise arge Längen hat, ist es allein aufgrund des geschichtlichen Kontextes lesenswert. So oft, wie wir alle sagen, dass wir uns weiterbilden sollen: Hiermit können wir es tun.

Die Sommer von Ronya Othmann ist erschienen bei Hanser.

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„Wir werden aus unseren Häusern geholt, und dann verschwinden wir“

„Wir erzählen von der Gewalt, die uns widerfahren ist. Nur so können wir uns wehren. Damit die Geschichte, die das Militär diktiert, nicht zu einer Geschichte wird, die alle in diesem Land glauben.“

Neun Menschen, neun Episoden, neun Leben. Sie befinden sich in einem Hochhaus im Westen der Türkei, sie wollen hier nicht bleiben: Necla und Murat, Haydar, Sara, Nurten. Sie sind Eltern, sie sind Kinder, sie sind Verwundete, Vereinzelte. Ihre Kinder, ihre Geschwister, ihre Mütter und Väter sind in Gefängnissen oder tot. Sie erzählen, was passiert ist. Sie berichten von Folter und Mord, von den Grausamkeiten der Soldaten, von der Willkür der Wachmänner. Von Angst und Resignation, von einem Leben, das nicht lebenswert ist, nicht einmal ein bisschen.

„Und wer hier schreit, der schreit nur aus Verzweiflung.“

Dies ist ein Buch, das einen mit Gänsehaut überzieht. Man liest es mit aufgerissenen Augen, mit dieser Mischung aus Schock und Empathie. Und mit Menschenhass. Weil alles, wovon Cemile Sahin schreibt, die Wahrheit ist. Weil es so geschieht, in der Türkei, und nicht nur dort, sondern überall, wo Menschen unterdrückt werden, gefoltert, verschleppt, getötet. Die Autorin hat eine Sprache gefunden für das, was sprachlos macht. Sie hat jenen eine Stimme gegeben, die mundtot gemacht werden sollen. Und deshalb ist dieses Buch so gut. Deshalb ist dieses Buch so wichtig.

„Meine Kinder fingen an zu laufen, weil ich sagte: Ihr müsst gehen. Nur so überlebt man Gewalt, ist stärker als sie: indem man seine Kinder beschützt. Ja, nur so.“

Ich wollte kurz reinschnuppern in das giftgrüne Buch, und es hat mich sofort eingesaugt. Es hat mir schwarze Flecken ins Herz getropft und mich gewürgt mit seinen Bildern, mit seiner klaren, ungeschönten, pointierten Sprache. Es. Ist. So. Gut! Ich bewunderte Cemile Sahin sehr dafür, dass sie für das Unaussprechliche Worte gefunden hat – und zwar genau die richtigen.

„Ich habe mein Leben im Gefängnis gelassen. Ich vergesse nichts, das würde ich ihm gern sagen, aber in Wahrheit rede ich bloß nicht darüber, wie viel ich weiß.“

Alle Hunde sterben von Cemile Sahin ist erschienen im Aufbau Verlag.

 

 

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„Auch jemand, dachte sie, der der einzige Mensch auf der Welt für einen gewesen war, kann verschwinden, als hätte es ihn nie gegeben“

„Was meinst du mit einheimisch? Schwäbisch, slowakisch, ungarisch, rumänisch, tschechisch, jüdisch oder vielleicht serbisch?“

Iris Wolff erzählt von einer Familie aus dem Banat, von sieben Menschen, die miteinander verwandt sind oder auch nicht, sie webt ihren Roman über die Generationen hinweg – und mitten hinein in das Zusammenbrechen des Ostblocks.

„Es gab eine Zeit, die vorwärts eilte, und eine Zeit, die rückwärts lief. Eine Zeit, die im Kreis ging, und eine, die sich nicht bewegte, nie mehr war als ein einzelner Augenblick.“

Da ist Florentine, die beinahe ihr Baby verliert, eine eher in sich gekehrte, aber starke Frau. Da ist Hannes, ihr Mann, dessen Pfarrhaus allen offensteht, die Unterschlupf suchen, und der deshalb im Gefängnis verhört wird. Es gibt Stana, die sich in Samuel verliebt, mit dem sie aufgewachsen ist, und Bene, den homosexuellen Buchhändler aus Berlin. Und schließlich ist da noch Liv, die viele Jahre später lebt und zaubern kann.

„Die Erinnerung ist ein Raum mit wandernden Türen. Manchmal trifft dich der Schatten eines Berges, manchmal ein Wort.“

Es geht um Erinnerungen in diesem Buch, um ihr Verhaftetsein an Orten, um ihr Wandern mit den Menschen, die ihre Heimat verlassen (müssen). Es geht um Länder und ihre sich verschiebenden Grenzen, um die DDR, das Banat und Siebenbürgen. In einer zarten, aber kraftvollen Sprache erzählt Iris Wolff, die mit diesem Roman für den Deutschen Buchpreis nominiert war, von Aufbruch und Flucht, vom Ausharren, von Verlust und dem unerbittlichen Strom der Zeit. Sehr melodisch sind die Sätze, das ganze Buch ein einziger, getragener Wohlklang, wunderbar flüssig zu lesen. In einem Interview hat die Autorin gesagt, sie lese sich das Geschriebene oft selbst laut vor, das tue ich ebenso, weil man dann den Rhythmus der Worte ganz anders hört. Die Unschärfe der Welt ist ein sehr schönes, rundes, wirklich lesenswertes Buch über eine verlorene Zeit, die wir nur in der Erinnerung bewahren können.

„Es war möglich, dass jemand nach einem Buch fragte, dass jetzt, wo die Grenze offen war, nicht nur Menschen und Waren wandern mussten, sondern auch Geschichten.“

Die Unschärfe der Welt von Iris Wolff ist erschienen bei Klett-Cotta.

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„Für ein Kind braucht man keine männliche Lust“
Es ist eines der meistdiskutierten Bücher in diesem Herbst: weil Mieko Kawakami vom Leben japanischer Frauen erzählt, ohne etwas zu beschönigen. Sie widmet sich Themen wie sexualisierte Gewalt, (Un)Gleichberechtigung, Schönheits-OPs, Kinderlosigkeit und finanzielle Abhängigkeit mit scharfem Blick. Nun ist es natürlich so, dass diesem Roman die japanische Gesellschaft als Basis dient, so weit entfernt davon sind wir aber hierzulande nicht: Alle diese Themen beschäftigen und bewegen uns ebenfalls. In vielen Rezensionen wird betont, dass die Japanerinnen ihre Männer mit „Meister“ ansprechen, als könnten wir aus einer erhöhten Position darüber urteilen, doch das ist nicht der Fall: Gleichberechtigung haben auch wir nicht. Sexismus dafür aber sehr wohl.

Das Großartige an Brüste und Eier ist, dass es sich kompromisslos den Frauen widmet. Besonders im ersten Teil kommt keine einzige männliche Figur vor, da wird höchstens einmal kurz über einen Ex-Mann gesprochen, im zweiten Teil werden die Männer auf ihre Funktion des Samenspendens reduziert. Und das feiere ich sehr. Mieko Kawakami erzählt, womit Frauen zu kämpfen haben, sei es der Beginn des Frauwerdens an sich (Natsukos Nichte Midoriko), der Wunsch, schön zu sein (Natsukos Schwester Makiko) oder die Frage, wie man sich eigentlich als Frau positioniert und definiert, wenn es ums Kinderkriegen geht (Natsuko selbst). Herrlich tabulos schreibt sie von Menstruation und Brüsten, von Schwangerschaft und Sexlosigkeit, alles ist sehr körperlich. Aber nicht nur, denn es geht auch um die gesellschaftlichen Normen dahinter, um alles, was den Frauen abverlangt wird. Schwierig zu lesen war dieses Buch dennoch, weil es stellenweise wirklich sehr, sehr langatmig ist. Die Erkenntnisse zu den oben genannten Themen muss man sich mühsam zusammenklauben, dazwischen gibt es sehr viele vermeintlich banale Gespräche, Hunderte eher ereignislose Seiten, besonders der zweite Teil ist arg zäh. Es kann aber natürlich sein, dass diese Gespräche nur mir banal erscheinen, weil ich zu wenig Einblick in die japanische Kultur habe – es ist mir nicht möglich, das zu beurteilen. Ich hätte aber mehr als einmal fast aufgehört zu lesen, nur der feministische Leitgedanke hat mich gehalten. Ich weiß aber von vielen Leser:innen, dass es ihnen ebenso ging, und finde das insgesamt schade: In einer verknappten, pointierteren Form hätte dieses Buch mit seinen wichtigen Themen vielleicht mehr Menschen erreicht.

Brüste und Eier von Mieko Kawakami ist erschienen bei Dumont.

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„Die Nacht ist innen hohl“

„Die Antwort auf Jims Frage, ob der Au-pair auch wie ein Krieger denkt. Tut er nicht. Er denkt wie ein Kind. Das ist eigentlich das Beste an ihm.“

Der Au-pair, das ist Viktor aus Ostdeutschland. Um die Stelle in Frankreich zu bekommen, hat er sich als Viktoria ausgegeben, und so sind die Überraschung und der Unwille der Familie groß, die plötzlich diesen Hünen mit der Glatze und den Springerstiefeln beherbergen muss. Doch Viktor beweist, dass er in der Lage ist, auf Lionel und Maud aufzupassen. Er freundet sich mit Julija aus der Ukraine an, er lernt Französisch. Und er merkt etwas, das die Familie zu verbergen versucht: dass nämlich Nacht für Nacht Monsieur zu Lionel ins Bett geht und ihn missbraucht, während Madame in die andere Richtung schaut. Das kann Viktor nicht zulassen, das kann Viktor nicht ertragen, denn ihm ist als Kind dasselbe passiert. Deshalb beschützt er Lionel, deshalb schlägt er zu. Die zweite Stimme dieses Romans gehört Ruth, einer Geigerin, die in Viktors Nähe aufgewachsen ist und sich an ihn richtet. Sie hat ihre Flucht vor der Gewalt ihrer Kindheit in der Musik gefunden.

Ich mochte dieses Buch, Begeisterung hat sich bei mir jedoch nicht eingestellt. Zum einen habe ich die beiden Stimmen, Viktor und Ruth, als zu getrennt empfunden, das Buch hätte mit Viktor alleine sehr gut – vielleicht sogar besser – funktioniert. Ihre Berührungspunkte waren mir zu wenig, Ruth richtet sich zudem mit einem direkten Du an Viktor, redet aber auch in der dritten Person über ihn. Viktors Mittelteil der Geschichte, die Zeit in Frankreich, ist flüssig und chronologisch erzählt, nur die kursiv gesetzten Innenansichten von Tochter Maud, die ganz nett, aber nicht notwendig sind, stellen kleine Ausreißer dar. Leider ist dieser Mittelteil aber auch klassisch und vorhersehbar. Einen aggressiven jungen Mann, der als Kind vergewaltigt wurde, in ein Haus zu bringen, in dem ein Kind vergewaltigt wird, nun, was soll schon geschehen? Damit möchte ich dem Buch nicht seine Bedeutung absprechen, denn ich halte es für absolut wichtig, dass über (sexualisierte) Gewalt (an Kindern) so oft und so deutlich wie möglich geschrieben wird, um das Tabu zu mindern und dadurch vielleicht auch die Dunkelziffer. Da Ulrike Almut Sandig Lyrikerin und eine „gefeierte Klangkünstlerin“ ist, habe ich mir mehr Poesie erwartet, eine melodische Sprache, nachhallende Sätze. Das habe ich nur zum Teil gefunden. Generell ist dies ein kluges, schmerzhaftes Buch, das erneut zeigt, welch weitreichende Folgen es hat, wenn Kindern Gewalt angetan wird – weil sie sich von dem Schmerz nie mehr befreien können.

Monster wie wir von Ulrike Almut Sandig ist erschienen bei Schöffling & Co.

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„Unsere Herzen waren dicke Kinder, die auf dünnem Boden sprangen“
„Irgendein linkes Szenelokal schmiss eine Party, um die politische Situation zu feiern, wir trafen Lili und ihren existenzialistischen More-Night-Stand in der Schlange davor.“ Und dieser existenzialistische More-Night-Stand trägt einen Pullover, auf dem steht: Ronald Reagan sold more cocaine than your favourite rapper. Diese kurze Stelle zeigt schon recht deutlich den Sound von Mercedes Spannnagels schmalem Debütroman, dessen Ich-Erzählerin Luise die Tochter der rechtskonservativen Bundespräsidentin von Österreich ist, und dieser Sound ist auch das Besondere. Er ist modern, freilich, die Autorin ist 1995 geboren, er ist außerdem durchzogen von Anglizismen, Namedropping und jener Blasiertheit, wie nur reiche Jugendliche sie haben. Die „Kinder der Nazis“, wie sie sich selbst nennen, wohnen in Palais, sind in erster Linie Töchter und Söhne und erst dann eigenständige Menschen, um Geld müssen sie sich keine Sorgen machen, um die politische Zukunft des Landes schon. Da gibt es also die Bundespräsidentin, die reinrassige Wildhunde züchten will, wobei ihr ein Assistent mit Schmiss hilft, da gibt es Luise, die sich aus Protest einen Mops anschafft, den sie Karl Marx nennt, Freunderlwirtschaft und feministische Pornos, bi- und pansexuelle Beziehungen ohne monogame Exklusivität gibt es auch. Und einen Skandal, der – wo sonst! – auf dem Opernball ans Licht kommt.

Das ist alles sehr österreichisch und sehr authentisch. Die meisten Figuren hat Mercedes Spannnagel nicht erfinden müssen, die laufen eh in unserem Land herum, sie hat einfach genau hingeschaut. Und die richtigen Worte gefunden, um diese Figuren in die Literatur zu heben. Auch ein überraschend geleakte Video mit scharmützelnden Politikern existiert tatsächlich (und bestimmt nicht nur das eine). Scharfsinnig ist das alles auch, böse natürlich (eben weil österreichisch), rotzig, ziemlich angepisst, dabei aber auch resigniert. Einerseits wollen sie sich wehren, die Nazi-Kinder, wollen etwas verändern, andererseits kommen sie nicht in die Gänge, sie kiffen viel, sie reden viel, ohne etwas in die Tat umzusetzen. „Das Buch will revolutionär sein, bleibt aber letztlich nur ein aufsässiger Teenager“, habe ich zu jemandem gesagt, der es ebenfalls gelesen hat, und dessen Antwort war: „Aber genau das will es sein.“ Und so gesehen ist das eh der einzig mögliche Schluss für einen Roman wie diesen: dass alles bleibt, wie es ist, dass die Politiker die Bevölkerung verarschen und damit immer durchkommen, dass das rechtskonservative Gedankengut weiter verbreitet wird. Ich hätte mir aber mehr neue Erkenntnisse erwartet, mehr Spektakel, zumindest ein paar Flämmchen. Das Palais wird vielleicht ein wenig angekokelt, aber es brennt ganz sicher nicht.

Das Palais muss brennen von Mercedes Spannagel ist erschienen bei Kiepenheuer & Witsch.

Bücherwurmloch

„Der Welt ist auch nicht geholfen, dass Sie sich allen moralisch überlegen fühlen“

„KD Pratz tat mir leid. Es war eine Gemeinheit von uns, ihn mit der Aussicht auf sein eigenes Museum aus seiner Isolation zu locken. Seinen Ruhm, seine Produktivität, seine besten Bilder verdankte er dieser Isolation, nun sollte er sie aufgeben, uns nett empfangen und gleichzeitig weiterhin den entrückten, genialischen Einsiedler geben. Dann hatte er diesen Spagat sogar versucht und fand sich dir nichts, mir nichts mitten in diesem Flohzirkus von Förderverein wieder, umringt von anspruchsvollen Kunstfreaks, wo man mit allem, mit dem man es der einen recht machte, einen anderen vergrätzte.“

Wegen seiner kunstbegeisterten Mutter Ingeborg ist Ich-Erzähler Constantin Mitglied im Förderverein eines Museums, das einen Anbau errichten und ihn einem einzigen Künstler widmen will: KD Pratz. Der polaristiert jedoch, nicht alle wollen nur seine Werke in dem neuen Anbau sehen. Um sie zu überzeugen, wird eine Busfahrt zur Burg von KD Pratz organisiert, der sich tatsächlich bereiterklärt, sie zu empfangen, obwohl er sich seit Jahrzehnten von der Öffentlichkeit abschottet. Der Förderverein trifft also dort ein, und dann läuft gar nichts rund und vor allem nicht wie geplant.

Kristof Magnusson hat einen Roman geschrieben über Eitelkeit und Geld, über den Kunstbetrieb und seine Mechanismen. Dazu hat er sich einen Reigen an Figuren erdacht, die man regelrecht vor sich sieht in aller stereotypischen Deutlichkeit: der reiche Kunstförderer mit Einstecktuch, das interessierte Ehepaar in Rente, der diplomatische Sohn, die Psychologenmutter, die mit jeder Frage, die sie stellt, auf etwas Tiefergehendes abzielt. Von KD Pratz als Charakter war ich überrascht, er ist erstaunlich weit in Richtung alter weißer Mann gelehnt, gibt sexistische Dinge von sich, die man mit „wir sind eben alte Schule“ rechtfertigen muss, hat für einen künstlerisch begabten Menschen verblüffend wenig Selbsteinsicht und ist insgesamt überaus unsympathisch. Na gut, das sind sie eigentlich alle, und sehr deutsch sind sie auch: korrekt, bieder, vermuschelt und schnell beleidigt, selbst in Auseinandersetzungen noch höflich. Als Österreicherin erkenne ich den Humor in diesem Buch durchaus und habe auch ab und zu geschmunzelt, aber der Biss hat mir gefehlt: Wann immer ich bei einer guten Gesprächseröffnung dachte „uh, jetzt geht’s los!“, war die Diskussion wieder zu Ende. Trotzdem macht dieser Roman Spaß, weil er entlarvend ist und schelmisch, weil er einen großartigen Schluss hat und die Doppelbödigkeit aufzeigt, die den Kunstbetrieb (wie wohl jeden anderen Betrieb) beherrscht.

Ein Mann der Kunst von Kristof Magnusson ist erschienen bei Kunstmann.