„Es war, als hätte der Vater ein Buch im Kopf, das er nur aufzuschlagen brauchte“
Und dann erzählt er Leyla von seiner Kindheit. Von dem Land, das es offiziell nicht gibt, das auf dem Gebiet anderer Länder liegt, Kurdistan. Von Vertreibung und Gewalt, von Mord, Angst und Entwurzelung. Der Vater hat es nach Deutschland geschafft, die Mutter ist Deutsche, und Leyla wächst hier auf. Nur die Sommer verbringt sie in ihrem anderen Zuhause. Bei der Großmutter, die im Garten arbeitet und Brot bäckt, bei den Cousins, die Frösche und Schlangen töten, bei den Cousinen, die Leyla auslachen, weil sie nicht weiß, wo unter dem hohen Gras die Gräben sind und wo die verborgenen Minen. Die Sommer sind heiß und lang, aber eigentlich auch kurz, sie sind nur kleine Einblicke in das, was für den Rest der kurdischen Familie das wahre Leben ist: ohne fließendes Wasser und mit der Sehnsucht nach deutschen Produkten. Das Land hat man ihnen weggenommen und die Perspektiven auch. Leyla versucht, diesem Erbe, das der Vater ihr eingibt, gerecht zu werden. Die Frage ist nur: Wie kann ihr das gelingen?
„Ihr Name war der Name von Märtyrerinnen. Der Tod von zweien von ihnen, die Gefängnishaft der dritten, das alles war ihr eingeschrieben, vorgeschrieben. Ihr Leben, ihre Geschichte, wurde an ihrem Namen gemessen. Leyla dachte, dass ihr Name nicht ihr gehörte. Sie gehörte dem Namen.“
Ronya Othmann, die am Literaturinstitut Leipzig studiert hat und mit Cemile Sahin die Kolumne „OrientExpress“ über Nahostpolitik schreibt, erzählt in diesem Buch auf doppelte Weise vom Verschwinden. Zum einen durch die Vergangenheitsebene der Protagonistin, die die Sommer ihrer Kindheit in Kurdistan verbracht hat, zum anderen, weil Jahre später Aleppo zerstört wird und die Jesiden vom IS ermordet werden. Leyla sieht die Bilder in den Nachrichten, sie weiß, dass ihre Familie um ihr Leben fürchtet, während sie selbst im unbeteiligten Deutschland in der Uni sitzt. Diese innere Zerrissenheit hat Ronya Othmann sehr gut eingefangen, genau wie die drückende Wärme der früheren Sommer, die selige Unwissenheit eines Kindes, das zwar die Unterschiede bemerkt, sie aber nicht benennen kann. Die erwachsene Leyla ordnet die Erlebnisse ein, reflektiert und informiert sich – und fällt schließlich eine Entscheidung. Die Sommer ist ein wichtiges, kluges Buch über ein unterdrücktes Volk und seine Traditionen, seinen Kampf, seinen Wunsch nach einem Leben in Sicherheit. Die Sprache ist leicht verträumt, melancholisch, mit exakt der richtigen Dosis Traurigkeit. Auch wenn das Buch stellenweise arge Längen hat, ist es allein aufgrund des geschichtlichen Kontextes lesenswert. So oft, wie wir alle sagen, dass wir uns weiterbilden sollen: Hiermit können wir es tun.
Die Sommer von Ronya Othmann ist erschienen bei Hanser.