Bücherwurmloch

Ulrike Almut Sandig: Monster wie wir

„Die Nacht ist innen hohl“

„Die Antwort auf Jims Frage, ob der Au-pair auch wie ein Krieger denkt. Tut er nicht. Er denkt wie ein Kind. Das ist eigentlich das Beste an ihm.“

Der Au-pair, das ist Viktor aus Ostdeutschland. Um die Stelle in Frankreich zu bekommen, hat er sich als Viktoria ausgegeben, und so sind die Überraschung und der Unwille der Familie groß, die plötzlich diesen Hünen mit der Glatze und den Springerstiefeln beherbergen muss. Doch Viktor beweist, dass er in der Lage ist, auf Lionel und Maud aufzupassen. Er freundet sich mit Julija aus der Ukraine an, er lernt Französisch. Und er merkt etwas, das die Familie zu verbergen versucht: dass nämlich Nacht für Nacht Monsieur zu Lionel ins Bett geht und ihn missbraucht, während Madame in die andere Richtung schaut. Das kann Viktor nicht zulassen, das kann Viktor nicht ertragen, denn ihm ist als Kind dasselbe passiert. Deshalb beschützt er Lionel, deshalb schlägt er zu. Die zweite Stimme dieses Romans gehört Ruth, einer Geigerin, die in Viktors Nähe aufgewachsen ist und sich an ihn richtet. Sie hat ihre Flucht vor der Gewalt ihrer Kindheit in der Musik gefunden.

Ich mochte dieses Buch, Begeisterung hat sich bei mir jedoch nicht eingestellt. Zum einen habe ich die beiden Stimmen, Viktor und Ruth, als zu getrennt empfunden, das Buch hätte mit Viktor alleine sehr gut – vielleicht sogar besser – funktioniert. Ihre Berührungspunkte waren mir zu wenig, Ruth richtet sich zudem mit einem direkten Du an Viktor, redet aber auch in der dritten Person über ihn. Viktors Mittelteil der Geschichte, die Zeit in Frankreich, ist flüssig und chronologisch erzählt, nur die kursiv gesetzten Innenansichten von Tochter Maud, die ganz nett, aber nicht notwendig sind, stellen kleine Ausreißer dar. Leider ist dieser Mittelteil aber auch klassisch und vorhersehbar. Einen aggressiven jungen Mann, der als Kind vergewaltigt wurde, in ein Haus zu bringen, in dem ein Kind vergewaltigt wird, nun, was soll schon geschehen? Damit möchte ich dem Buch nicht seine Bedeutung absprechen, denn ich halte es für absolut wichtig, dass über (sexualisierte) Gewalt (an Kindern) so oft und so deutlich wie möglich geschrieben wird, um das Tabu zu mindern und dadurch vielleicht auch die Dunkelziffer. Da Ulrike Almut Sandig Lyrikerin und eine „gefeierte Klangkünstlerin“ ist, habe ich mir mehr Poesie erwartet, eine melodische Sprache, nachhallende Sätze. Das habe ich nur zum Teil gefunden. Generell ist dies ein kluges, schmerzhaftes Buch, das erneut zeigt, welch weitreichende Folgen es hat, wenn Kindern Gewalt angetan wird – weil sie sich von dem Schmerz nie mehr befreien können.

Monster wie wir von Ulrike Almut Sandig ist erschienen bei Schöffling & Co.

Leave a Comment

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.