Bücherwurmloch

„My heart knows we’d never make it/A hope like you could break it”
Es geht um Musik in diesem Buch, um eine Band, um den Weg zum Ruhm, um Geld, Drogen, Alkohol und um die Liebe. Also sagen wir, wie es ist: Es geht um alles. Wir befinden uns in den 1970ern, das muss eine spezielle Zeit gewesen sein zum Plattenmachen, zum Berühmtwerden und Feiern. Daisy Jones wächst in einer reichen, lieblosen Familie auf, schon mit vierzehn geht sie rüber zum Strip und rein in die Clubs. Sie hat Talent, sie kann singen, sie möchte eigene Songs schreiben. Quasi zeitgleich gründen die Brüder Billy und Graham Dunne in Pittsburgh eine Band, die sie The Dunne Brothers nennen. Sie sind gut genug, um „entdeckt“ zu werden, sie tun sich mit anderen Musikern zusammen, benennen sich in The Six um und gehen mit einem ersten Album auf Tournee. Doch der richtige Durchbruch gelingt ihnen, als sie auf Daisy Jones treffen und sie, nach einem Duett von Daisy und Billy, in die Band aufnehmen. Ausverkaufte Stadien, Nummer-eins-Chart-Plätze, Unmengen von Geld, Alkohol und Koks: Das ist ihr neues Leben. Und weil man ein solches Leben nicht sehr lange führen kann, kommt es 1979 zum Bruch.

Alles an diesem Buch ist fiktiv, und zugleich nicht. Die Autorin, die selbst in LA lebt, hat die Geschichte einer erfundenen Band aufgeschrieben und zugleich die Geschichte fast jeder real existierenden Band: Es scheint, dass man nicht weltberühmt werden kann, ohne abzustürzen. Wie viele Sänger kennen wir, die drogensüchtig waren, ständig in Skandale verwickelt? Das ist unser Bild vom Rock’n’Roll. Die „Braven“, die gibt es auch, und manchmal werden sie trotzdem Stars, aber so richtig interessant sind nur die Kaputten. Daisy und Billy sind kaputt. Sie sind einander ähnlich, sie hassen sich und lieben sich. Was vielleicht nicht so problematisch wäre, wäre Daisy nicht tablettenabhängig und Billy ein verheirateter trockener Alkoholiker, der seine Frau und seine drei Töchter nicht verlieren will. Das klingt alles nicht neu und ist es auch nicht, aber Taylor Jenkins Reid hat sich etwas Geniales ausgedacht, das dieses Buch rettet: Es besteht zur Gänze aus mündlicher Rede, aus einem Interview, in dem alle Beteiligten abwechselnd zu Wort kommen. Einen auktorialen Erzähler gibt es nicht. Das ist klug gemacht und hat mich trotz Klischees bei der Stange gehalten. Auch das Ende ist rund, und so ist Daisy Jones & The Six ein lesenswerter Trip in die Welt der Musik und ihre Abgründe.

Daisy Jones & The Six von Taylor Jenkins Reid ist erschienen bei Ullstein.

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„I know what it’s like to be afraid“
Lydias gesamte Familie wird brutal hingerichtet: Als sie sich gerade mit ihrem Sohn Luca im Badezimmer befindet, erschießen die Handlanger des Drogenbarons Javier Crespo Fuentes ihren Mann, ihre Mutter und alle Verwandten. 16 tote Menschen. Lydia und Luca sind nicht nur plötzlich vollkommen allein, sie sind auch in Gefahr, denn natürlich sollten die beiden bei diesem Attentat ebenfalls sterben. Lydias Ehemann, der als Journalist gearbeitet hat, hat eine Enthüllungsstory über einen der gewalttätigsten Männer Mexikos geschrieben – ohne zu berücksichtigen, dass er damit sein eigenes Todesurteil und das seiner Familie unterzeichnet hat. Lydia muss sofort mit ihrem Sohn fliehen. Doch wo sollen sie hin? Sie haben ein wenig Geld, ja, und sie sollten die Stadt verlassen, am besten das Land. Können sie es über die Grenze schaffen, können sie in die USA einreisen und dort Zuflucht finden?

Jeanine Cummins hat einen Roman geschrieben, der a) sehr spannend b) sehr aufreibend c) sehr gehyped und d) vieldiskutiert ist. Aber der Reihe nach: Man folgt Lydia und Luca auf ihrer Flucht geradezu atemlos, und das Schlimme daran ist, all das geschieht wirklich. Jeden Tag, jede Nacht. Überall werden Menschen erschossen, ausgeraubt, vergewaltigt, grausam ermordet, ihnen wird Asyl verweigert und jede Hilfe. Sie sind arm, sie sehen keinen anderen Ausweg als „La Bestia“, die Fahrt mit den Güterzügen, und ja, das ist so gefährlich, wie es klingt. Die Autorin schildert die Route nach Norden, el norte, die Ausweglosigkeit, die Panik auf sehr eindringliche Art und Weise. Viele haben gesagt, der Roman sei zu sehr auf eine Verfilmung hin geschrieben, aber das ist eine verrückte, anmaßende Kritik, vielmehr macht das Szenische, Schnelle, Filmische das Leseerlebnis so eindrücklich. Die Diskussion hatte aber vielmehr zum Thema, dass Jeanine Cummins, die vier Jahre lang für diesen Roman recherchiert hat und auf das Schicksal der migrantes aufmerksam macht, das Leid der Migranten vermarktet. Kulturelle Aneignung wurde ihr vorgeworfen, und die Debatte ist in den USA derart eskaliert, dass es Morddrohungen gegen die Autorin gab und Lesungen abgesagt werden mussten. Ich kann verstehen, dass es Menschen aufregt, wenn eine erfolgreiche, gut situierte weiße Frau über das Schicksal von Flüchtenden schreibt – gleichzeitig aber nicht. Denn ich denke, es ist wichtig, dass eben über das Schicksal von Flüchtenden geschrieben wird, dass jemand mit dem Finger auf diese Probleme zeigt, dass sie erlebbar, lesbar, nachvollziehbar gemacht werden. Darum geht es doch: dass Literatur uns sensibilisiert für das, was in der Welt geschieht.

 

 

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„Dies ist ein letztes Hurra auf die Kirmes und die, die sie bevölkerten und lebendig machten“
Jahrmärkte, Kirmes, Rummelplätze: Sie waren einmal das Größte. Sie haben die Menschen fasziniert und begeistert, sie unterhalten, sie waren ihnen Vergnügen und Sehnsuchtsort. Wen hat es dorthin gezogen? Wer ist einen Tag lang geblieben und wer für immer? Was waren das für Leute, die dort gearbeitet haben? Philipp Winkler widmet ihnen diesen sehr schmalen kleinen Band von nicht ganz 120 sehr luftig gesetzten Seiten. „Wir“, das sind bei ihm die Kirmeser, die Schausteller, die Popcornverkäufer und Attraktionenaufbauer, „wir“, das sind alle, die auf dem Jahrmarkt geboren und aufgewachsen sind oder dort Zuflucht gefunden haben. Und „ihr“, das sind alle anderen. Die früher gern kamen, um sich das Geld aus der Tasche ziehen zu lassen, um gebrannte Mandeln zu essen und mit dem Riesenrad zu fahren. „Ihr“, das sind die, die heute lieber Netflix schauen und im Internet sind oder andere Möglichkeiten nutzen, sich die Zeit zu vertreiben. Das wilde Leben auf der Kirmes, es ist mehr oder weniger vorbei.

Schön ist er, der Ausflug, den dieses Buch darstellt. Ein kurzer, etwa einstündiger Spaziergang, vorbei an den Wagen und Fahrgeschäften, an Goldie, dem Alten Kuut und dem kleinen Pit, zu all diesen Leuten, die versuchen, sich irgendwie durchzuschlagen, die ein Leben ohne feste Heimat gewöhnt sind, eh nett, wie wir Österreicher sagen würden. Das ist alles gut zu lesen, aber ich vermisse natürlich eine Geschichte, ich vermisse eine Handlung. Immer wieder werden kurz Figuren vorgestellt, mehr nicht, und mir ist aufgefallen, dass momentan viele solche dünnen Bücher erscheinen, die mir gefallen (siehe auch „Land in Sicht“ von Ilona Hartmann oder „Hitze“ von Victor Jestin), mich aber unbefriedigt zurücklassen, wie ein Appetithäppchen, das nicht satt macht. Warum nicht mehr in die Tiefe gehen, warum keine Story ausarbeiten? Ich hätte das gern von Philipp Winkler gelesen, und zugetraut hätte ich es ihm auch.

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„Kein Volk darf ein anderes unterdrücken und selbst in Sicherheit und Frieden leben“
Wie weit kann ein Mensch zählen, wie viele Perspektiven hat ein und dieselbe Geschichte, beispielsweise der Konflikt zwischen Israel und Palästina? So viel ist geschehen. So viele sind gestorben. So unwahrscheinlich ist es, dass jemals Frieden herrschen wird. Ein Apeirogon ist eine mathematische Form mit einer zählbaren Anzahl unendlicher Seiten. Und zugleich der Titel von Colum McCanns neuem Roman, jenem irischen Schriftsteller, der sich in seinen Bestsellern bereits zuvor realer Figuren angenommen hat (in „Der Tänzer“ und „Die große Welt“ etwa, mein absolutes Lieblingsbuch von ihm ist „Zoli“). Rami Elhanan und Bassam Aramin gibt es wirklich, sie sind zwei Männer, die das Schicksal eint: Beide haben ihre Tochter verloren. Abir ist im Alter von zehn Jahren durch ein Gummigeschoss im Kopf gestorben, Smadar war dreizehn, als Selbstmordattentäter sie in den Tod gerissen haben. Rami ist Israeli, Bassam Palästinenser. Und sie sind Freunde. Sie suchen nicht Vergeltung, nicht Rache. Sie bemühen sich um Versöhnung.

Apeirogon ist ein Wahnsinn von einem Buch. Es ist messerscharf und bitter, traurig, verstörend, überfordernd, poetisch, schmerzhaft und großartig. Wie erzählt man eine Geschichte, die so oft schon erzählt wurde? Die so viele Seiten hat und so viele Wahrheiten, jede davon berechtigt? Colum McCann hat 1000 Mini-Kapitel geschrieben, er zählt bis 500 und dann wieder bis 1. Manche bestehen nur aus einem Satz, einem wiederkehrenden Gedanken, einer Beobachtung, andere sind gefüllt mit historischen Fakten oder Informationen über das Bauen von Bomben, Vögel, Seiltänzer, die Vergangenheit, den Krieg. Es fühlt sich an, als steckten tausend Bücher in diesem einen. Selten hat mich ein Roman in seiner unbestechlich klugen Machart derart fasziniert. Apeirogon ist so durchdacht, dass ich verblüfft und respektvoll meinen Hut ziehe. Und das, wo ich dicke Bücher sonst meide, weil sie mich träge machen und zermürben. Aber ich konnte nicht aufhören zu lesen, ich war regelrecht süchtig. Apeirogon ist für mich, und das erstaunt mich selbst, das beste Buch des Jahres. Ein Mosaik aus Worten, ein Kaleidoskop aus Reue, Sehnsucht und Gewalt. Ein Meisterwerk, das zu schreiben sehr mutig war. Eine Chronik dessen, was Menschen einander antun – und wie schwer es ist, der Spirale aus gegenseitigem Hass den Frieden entgegenzusetzen. Israel und Palästina sind eine Wunde, die nicht aufhört zu bluten. Der Schmerz ist zählbar unendlich.

 

 

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„Mit jemandem die Liebe zu einem Buch zu teilen, stiftet eine ganz eigene, beglückende Art der Verbundenheit“
Ich bin ein großer Fan von Lily King. Sie hat mich mit Euphoria begeistert und diese Begeisterung mit Vater des Regens gefestigt. Umso gespannter war ich auf ihr neues Werk, das sie, wie sie sagt, explizit aus einem Grund geschrieben hat: weil es so viele Bücher gibt über den Schaffensprozess männlicher Schriftsteller, aber kaum welche über schreibende Frauen. Ein solcher Roman hätte ihr als junger Frau geholfen, und deshalb hat sie nun beschlossen, ihn selbst zu verfassen. Ich konnte das spüren. Writers & Lovers richtet sich an schreibende Frauen, und während der Lektüre habe ich mich gefragt, wie man das wohl als Nichtschreibender liest. Mich hat dieser Roman – fast schon notgedrungen – angesprochen. Aber geärgert hat er mich auch.

Casey hat ihre Mutter verloren und den Mann, in den sie verliebt war. Sie hat horrende Schulden wegen ihres Studienkredits, den sie abzustottern versucht, indem sie kellnert. Und sie schreibt jeden Morgen, seit sechs Jahren, an ihrem ersten Roman. Wie Casey sich mit Kellnerschichten, Schreibblockaden und Dates herumschlägt, wie sie zweifelt und kämpft und hofft, wie sie trauert und sich neu verliebt, ist großartig geschrieben.

Als ich vor ein paar Jahren bei ihr war, nahm sie mich in den Arm und sagte: „Wenn du morgen abfährst, dann werde ich hier am Fenster stehen und mir sagen: Gestern war sie noch hier, ganz nah bei mir.“ Und jetzt ist sie tot, und ich sage mir das immerfort, ganz gleich, wo ich stehe.

Der Ton ist sehr eingängig, und vieles, was Casey erlebt, denkt, fühlt, konnte ich gut nachvollziehen. Es ist wichtig, dass Lily King dieses Buch dem kreativen Prozess einer schreibenden Frau gewidmet hat. Das Problem ist nur: All das, was Casey erlebt und denkt und fühlt, ist an Männern ausgerichtet. Die Bücher, die sie zitiert, sind von Männern geschrieben. Nur eine einzige Nebenfigur im Roman ist weiblich. Ansonsten geht es ausschließlich um Kerle, um ihren Blick auf Casey, um ihr Urteil, ihre Zuneigung. Und da würde ich Lily King gern fragen, warum sie ihre Idee nicht konsequent umgesetzt hat. Wieso nicht endlich den Fokus WIRKLICH auf das Weibliche legen? Ist unsere Misogynie dermaßen internalisiert, dass weder die Autorin noch jemand im Verlag das gemerkt hat? Wieso feiern alle dieses Buch, ohne das Ungleichgewicht zu spüren? Außer bei Kulturgeschwätz, die das sehr verständlich aufgezeigt und kritisiert hat, habe ich allerorts nur Lobeshymnen gelesen.

Der andere Grund, warum ich leicht genervt war, ist wesentlich persönlicher. Es ist ja gut und schön, dass es endlich einen Roman über eine Schreibende gibt, aber ich will mehr. Mehr Realität vor allem. Ich will ein Buch über eine Schreibende, die sich nicht jeden Morgen stundenlang in Ruhe an ihr Manuskript setzen kann, weil sie permanent von Kindern unterbrochen wird, weil sie sich kümmern muss um andere, weil nie Zeit für sie und ihre Gedanken bleibt. Ich wünsche mir eine schreibende Protagonistin, deren Kinder sie nicht schlafen lassen, die all die Hausarbeit machen muss, mit ihrem Partner über Care-Arbeit und Mental Load und Gleichberechtigung streitet, die ständig versucht, den Kopf oben zu behalten und irgendwie vielleicht doch noch den einen Moment zu erwischen, in dem sich ein paar Sätze zu Papier bringen lassen – sollten die Idee und die Inspiration nicht längst vom Familienalltag erstickt worden sein. Ich wünsche mir echte Bücher über Frauen, in denen dann nicht wieder nur die Männer im Vordergrund stehen. Aber vielleicht ist es wie bei Lily King: Vielleicht muss ich das einfach eines Tages selbst schreiben.

Writers & Lovers von Lily King ist erschienen bei C. H. Beck.

 

 

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„Der Begriff arbeitende Frau ist eine Tautologie. Frauen, die nicht arbeiten, gibt es nicht. Es gibt nur Frauen, die für ihre Arbeit nicht bezahlt werden“
Gleich zu Beginn ein Beispiel, eines der vielen, die dieses Buch so anschaulich machen. Im 20. Jahrhundert waren keine Musikerinnen bei den New Yorker Philharmonikern. Sie wurden nicht eingestellt, obwohl, wie es hieß, die Qualität des Spiels ausschlaggebend sei. Dann änderte sich etwas: Mehr und mehr Musikerinnen wurden aufgenommen. Aber wieso? Weil das „blinde Vorspielen“ eingeführt wurde. Es zeigte Wirkung, die Zahl der weiblichen Mitglieder stieg sofort an. Die Frauen wurden ausgewählt, weil niemand mehr sehen konnte, dass sie Frauen waren. Das zeigt, dass wir alle viel stärker von unserem auf Männer fixierten Blick beeinflusst werden, als uns bewusst ist. Wir glauben, wir handeln gleichberechtigt. Aber wir tun es nicht. Dass diese Welt auf Männer ausgerichtet ist, wissen wir. Nur nicht, wie sehr. Deshalb hat Caroline Criado-Perez dieses Buch geschrieben. Sie hat eine Unmenge an Informationen gesammelt und aufbereitet, sie hat Daten erhoben, die nie zuvor erhoben wurden, weil niemand sich dafür interessiert hat.

„Die Menschheitsgeschichte. Die Kunst-, Literatur- und Musikgeschichte. Die Geschichte der Evolution selbst. Sie alle wurden uns als objektive Fakten präsentiert. In Wahrheit haben diese Fakten uns belogen. Sie alle wurden verzerrt, weil sie die Hälfte der Menschheit nicht berücksichtigen.“

Ob Autounfälle oder Gefahr am Arbeitsplatz, ob Handygrößen oder öffentliche Sportanlagen: Überall werden die Frauen, ihre Bedürfnisse, ihre Körper missachtet. Sie kommen ganz einfach in der Planung nicht vor. Deshalb sterben sie mit höherer Wahrscheinlichkeit in einem Auto, das nicht für sie konstruiert ist. Sie können Sportplätze nicht benutzen, weil sie unbeleuchtet und ungeschützt sind, und das wirkt sich auf ihre Gesundheit aus. Sie sterben an Herzinfarkten, die niemand erkennt, weil die Medizin sich nicht mit der weiblichen Anatomie beschäftigt. Sie haben nicht dieselben Karrierechancen. Sie verdienen weniger. Sie stehen ihr ganzes Leben lang in ewig langen Schlangen vor Toiletten, während die Männer einfach reingehen und pissen – dabei ist die Toilettenfläche für Männer und Frauen gleich groß und somit vermeintlich gerecht. In Wahrheit aber stehen auf derselben Fläche mehrere Pissoirs, es gibt also mehr Pinkelmöglichkeiten, und die Frauen müssen a) sich um Kinder kümmern b) sich um Großmütter kümmern c) während der Periode ihre Tampons wechseln und so weiter.

„Wenn Stadtplaner das Thema Gender nicht berücksichtigen, werden öffentliche Räume im Normalfall zu Räumen für Männer. Doch die Hälfte der Weltbevölkerung hat weibliche Körper.“

Dieses Buch öffnet einem nicht nur die Augen. Es sorgt dafür, dass man sie während der gesamten Lektüre weit aufreißt: vor Überraschung, vor Schreck, vor Jetzt-wird-mir-alles-klar. Am schönsten finde ich, dass die Autorin sich nicht mit Schuldzuweisungen aufhält. Sie betont oft, dass keine böse Absicht dahintersteckt, sondern dass wir vielmehr so sozialisiert sind. Niemand denkt: Oh, wir lassen die Frauen weg, weil wir sie hassen. Sondern sie werden einfach vergessen. Außerdem beweist sie eindrücklich, dass wir alle davon profitieren, wenn die weibliche Bevölkerung in die Planung einbezogen wird, vor allem, weil die vielen Verletzungen und Unfälle ein wirtschaftlicher Faktor sind. Dass die Frauen gleich wichtig sein sollten wie die Männer, ist demnach nicht nur ein emotionales Thema, sondern eine ganz einfache Rechnung.

„Die gesamte Weltbevölkerung bedarf der Fürsorge, die momentan hauptsächlich von Frauen entgeltlos erledigt wird.“

Wann immer ich übrigens von diesem Buch spreche, reagieren die Männer so: „Das ist aber nicht gut recherchiert“, sagen sie und lehnen sich zufrieden zurück. Sie glauben, dass es genügt, wenn sie, die keine Ahnung von dem Thema haben, die sich NOCH NIE damit beschäftigt haben, alle diese eindeutig belegten Beweise von sich schieben. In ihr selbstgefälliges Grinsen möchte ich inzwischen nur noch eines sagen: Go fuck yourself.

Bücherwurmloch

„Sie erinnern sich nur wieder daran, wie es ist, ein Lebewesen zu lieben, das kein Mensch ist“

„Und wie kommst du wieder zurück?“
„Zurück wohin?“
„Nach Galway. In dein Leben. Ist das nicht dort?“
Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Eigentlich hätte ich gedacht, mein Leben sei genau hier, bei mir.

Und so verhält sie sich auch: Franny ist eigenwillig, unabhängig, wie ein ungezähmter Fuchs. Sie hat schon als Kind stets den Drang verspürt, einfach loszugehen, weiterzuwandern, nie an einem Ort zu bleiben. Und am liebsten ist sie am Meer. Nein, nicht nur am Meer, sondern im Meer, im Wasser, in der Kälte. Das ist ihr Element. Umso passender, dass Franny sich auf dem Weg in die Antarktis befindet, sie folgt den letzten noch lebenden Küstenseeschwalben. Auf einem Schiff, das sie nicht mitnehmen wollte und das gar nicht mehr in diesen Gewässern fahren darf, hat sie nichts anderes im Kopf als diese wunderschönen Vögel, die ihrem eigenen Aussterben nicht entkommen können – denn der Mensch hat schon so gut wie alle Tiere ausgerottet. Franny ist auf der Reise, auch in die eigene Vergangenheit: Warum war sie im Gefängnis? Wo ist ihr Mann, dem sie Briefe schreibt, der sie und ihre Wanderfüße aber nicht halten konnte? Und was ist mit ihrem Kind geschehen?

Charlotte McConaghy hat den wohl berührendsten Roman dieses Bücherherbsts geschrieben: Ich habe geweint. Und zwar nicht nur ein bisschen. Am Ende der Lektüre war ich tränenüberströmt. Nicht nur wegen der traurigen Ereignisse im Leben der Protagonistin, sondern auch wegen der schrecklich trostlosen Lage der Tiere, die in diesem Buch bereits Realität ist – und es auch bald wirklich sein könnte. Es geht um Umweltschutz in Zugvögel, um die Schönheit der Natur und die Grausamkeit der Menschen, es geht um eine mutige, sture Frau und ihre Weigerung, so zu sein wie alle anderen, es geht um Zusammenhalt innerhalb einer Crew und vor allem geht es um die Liebe. Ich habe sogar jetzt, während ich diese Zeilen schreibe, wieder eine Gänsehaut. Zugvögel hat mich richtig unerwartet erwischt, ich mochte alles daran: den Ton, das Raue, Kalte, die Cliffhanger, das perfekt gewebte Ende, die Sprache. Großartig und unbedingt lesenswert!

Zugvögel von Charlotte McConaghy ist erschienen bei S. Fischer.

Bücherwurmloch

„We spend money and energy to keep ourselves safe from men, and yet still – we are paid less than them“
Ich möchte euch dieses Buch aufs Nachtkästchen legen, ich möchte euch auf den Kopf hauen damit, ich möchte euch die Sätze ins Herz schreiben und auf die Haut tätowieren. Damit ihr sie an euren Körpern lesen könnt und versteht, dass ebendiese Körper eure Sache sind, und zwar eure allein. Florence Given ist erst 21 Jahre alt und hat schon so viel verstanden: Sie ist seit Jahren hier auf Instagram massiv erfolgreich, und ich habe ihr erstes Buch mit Spannung erwartet. Dann war es sogar noch besser als erhofft: Ich habe es in zwei Stunden durchgesuchtet und dachte ständig JA! Ja, das auch. Ja und das! Ja, verdammt! Sie schreibt so ehrlich, klug und authentisch, dass man niemals den Eindruck hat, sie belehre einen aus einer erhöhten Position heraus, ganz im Gegenteil: Sie erzählt von ihrem eigenen Wachstum, von ihrem Weg des Lernens, von den Fehlern, die sie macht und gemacht hat. Denn ihr geht es wie uns: Da ist dieses Gefühl, dass so viel verkehrt läuft mit unserer Wahrnehmung, der Schönheitsindustrie, dem Marketing, dem Patriarchat, das uns Standards aufzwingt, denen wir nicht entsprechen wollen. Dieses Gefühl wird immer stärker und schwerer, und wir haben, gelinde gesagt, langsam die Schnauze voll. Aber wie können wir aus einem System ausbrechen, das uns alle beinhaltet? Wie können wir uns gegen die Zwänge der Gesellschaft stellen?

Dieses Buch, liebe Leute, ist so großartig. Es ist augenöffnend, wahr und tröstlich, es zeigt auf, dass die größte Revolution, die wir anzetteln können, darin liegt, uns selbst zu lieben – so, wie wir sind. In der Akzeptanz des eigenen Körpers liegt eine überraschend große Kraft. Lassen wir uns nicht mehr kategorisieren, in Schubladen pressen, unterdrücken und gleichmachen. Feiern wir die Vielfalt, das Natürliche, das Schöne an uns allen. Ich hab nämlich keine Lust mehr, und ich glaube, viele von euch auch nicht. Wir sind Frauen, aber wir werden über den Blick der Männer definiert – unattraktiv zu sein, bringt uns Nachteile, doch sobald wir zu sexy sind, sind wir in Gefahr. Let’s stop that. Time is up. Lest dieses Buch und andere, informiert euch, weigert euch. Wir sind viele, und wir haben mehr Macht, als wir glauben.

„You don’t owe prettiness to anyone. Not to your boyfriend/spouse/partner, not to your co-workers, especially not to random men on the street. You don’t owe it to your mother, you don’t owe it to your children, you don’t owe it to civilization in general. Prettiness is not a rent you pay for occupying a space marked female.” Erin McKean

Bücherwurmloch

„I want to tell you something about myself. Something true, or nothing at all“
Oh, ich liebe, liebe, liebe dieses Buch! Es war für mich der bisher größte Überraschungshit in diesem Jahr. Ich hatte keinerlei Erwartung, war dann völlig verblüfft – und vor allem absolut fasziniert. Es ist klein und schmal, kommt so unaufgeregt daher, und hat für mich eine unglaubliche Poesie entwickelt. Ein sprachlich herausragendes Werk, das zwei Autor:innen gemeinsam verfasst haben, es sprüht nur geradezu vor originellen Einfällen, Fantasie und Einfallskraft. Man kriegt mich mit guten Ideen (sofern sie auch gut umgesetzt sind), und ich finde es großartig, dass hier sämtliche Regeln gesprengt und sämtliche Grenzen einfach ignoriert werden. Zeitreisen? Aber sicher. Wesen, die nicht schlafen und nicht essen müssen? Bring them on. Briefe, die in Stoff eingewebt sind, in Knoten, Briefe, die man erst lesen kann, nachdem man sie verbrannt hat, Worte, die in Samenkörnern sind und die man hinter seinen Augen speichern kann. Ja, ja, ja.

Red und Blue sind Agentinnen in einem seltsamen Krieg, der sich über alle Orte, alle Zeiten und alle Planeten erstreckt. Sie reisen in die Vergangenheit, um einzelne Menschen oder ganze Heerscharen zu töten, damit sich die Zukunft verändert, sie sind Gegnerinnen und als Einzige einander ebenbürtig. Eines Tages findet Red auf einem Schlachtfeld einen Brief mit der Aufschrift „burn before reading“. Das ist der Anfang eines Briefwechsels, der sich über die Jahrtausende erstreckt, der immer intensiver wird, emotionaler und vor allem: gefährlicher. Diese Zeilen, die die beiden Frauen einander schreiben, gehören wohl zu den schönsten Briefen, die ich je gelesen habe. Ich habe dermaßen mitgefiebert, dass ich manchmal den Eindruck hatte, ich vergesse gleich zu atmen. Wann immer ich nicht weiterlesen konnte, habe ich an diesen Roman gedacht. Ich wollte ewig weiterlesen – und doch gleichzeitig wissen, wie eine so ungewöhnliche Geschichte enden könnte. Sie tut es auf sehr passende, gut gelöste Art und Weise. Wer auf Englisch lesen kann und mag, möge zu diesem fabelhaften Pageturner greifen!

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„Ich vergesse, dass es uns in Wirklichkeit nicht gibt“
Mania und Tomek sind Freunde aus Kindertagen, beide stammen aus Polen. Heute lebt sie in Berlin und arbeitet als Psychologin mit Gefängnisinsassen, während er in Wien zuhause ist. Als Mania von Zahit, einem Geflüchteten, der bei Tomek Unterschlupf gefunden hat, erfährt, dass Tomek verschwunden ist, verlässt sie Berlin und ihr gesamtes Leben, um ihn zu suchen. Gemeinsam mit Ruth, zu der sie eine unergründliche Beziehung hat, Zahit, der keine Aufenthaltserlaubnis hat und wegen Dealens gesucht wird, sowie Hündin Sue macht Mania sich auf den Weg nach Warschau. Dort haben sie Tomeks Handy geortet. Dorthin ist er angeblich mit seiner Freundin Marina gefahren – um ein Versprechen einzulösen, das er ihr gegeben hat.

„Die Dinge, die geschehen sind, sind geschehen, und wir tragen sie in unseren Körpern und Köpfen.“

Ich habe Kaśka Brylas Debütroman an einem verregneten, herbstlichen Sonntagnachmittag verschlungen. Es hat gut gepasst und meine Stimmung getroffen, dieses Flirrende, Melancholische, Geheimnisvolle. Ich war sofort gefangen von dieser ungewöhnlichen Geschichte, von diesem seltsamen Roadtrip. Ein paar kauzige, angeknackste Gestalten, ein Hund, überraschende Notizen – aus diesen Zutaten hat die Autorin, die Kurse in Kreativem Schreiben in Gefängnissen gibt, einen gut lesbaren Roman gewoben, der in meinen Augen viel leichter ist, als das düstere Cover vermuten lässt. Er ist spritzig, schnell, unverblümt, mit schrägen Auswüchsen, die aber gut in die Handlung passen. Roter Affe entspricht dem Profil jener Bücher, die eine unterhaltsame Geschichte enthalten und dabei auf literarischem Niveau agieren. Es sieht eher finster, schwer und kompliziert aus, lasst euch davon nicht abschrecken. Der mitreißende, fast schon brüske Ton macht aus dieser Road Novel ein überraschendes Leseerlebnis, und am Ende zeigt sich, dass es eine runde Sache ist. Ich hatte keinerlei Erwartungen und war letztlich erstaunt, wie gern ich es gelesen habe. Nice one!

„Was ist Glück anderes als Momente, die durch ihre Begrenztheit bestimmt sind?“

Roter Affe von Kaśka Bryla ist erschienen im Residenz Verlag.