Bücherwurmloch

„Die Geschichten suchen den Erzähler aus, nicht umgekehrt“

Hanne hat drei Kinder, alle sind sie aufgewachsen auf der kleinen Nordseeinsel, zu der die Fähre vom Festland eine Stunde braucht. Ihr Mann hat das Haus vor zwanzig Jahren verlassen, um bei den Vögeln zu leben, sie hat es auch ohne ihn geschafft. Aber natürlich war da dieser Groll. Der generell die Stimmung der Inselbewohner zu beherrschen scheint, weil sie dem Meer so viel abgerungen haben, während das Meer ihnen so viel genommen hat. Seit Jahrhunderten herrscht hier das Bild der wartenden Frau vor, die Männer sind auf See, die Männer kommen zurück oder vielleicht auch nicht, ein Kind immer am Rockzipfel, das Leben ist hart und die Arbeit schwer. Hanne hat sich geweigert, so eine Frau zu werden, und wenn sie ihren Sohn Ryckmer vom Steg abholt, muss er mehr oder weniger ins Auto springen, so wenig wartet Hanne auf irgendwen. Tochter Eske hat es von der Insel fortgetrieben und wieder zurückgespult, und Henrik, der Jüngste, gestaltet mit dem, was das Meer ihm schenkt, beliebte Kunstwerke. Die gern von den Touristen gekauft werden, die nicht nur im Sommer die Insel fluten und denen alle zwiespältig gegenüberstehen: Einerseits bringen sie Geld, das dringend gebraucht wird, andererseits sind sie unliebsame Eindringlinge. Und so leben sie in dieser unwirtlichen Gegend, setzen dem Groll die Liebe zum Wasser entgegen, die Liebe zur See und den Wellen, so faszinierend und unbeherrschbar.

„Nicht einmal schreien kann ein Mensch, wenn er im Wasser sterben muss.“

Es ist, glaube ich, große Kunst, einen Roman zu schreiben, der sehr lesenswert ist, obwohl darin so gut wie nichts passiert. Denn mit spannenden Ereignissen kann „Zur See“ nicht aufwarten, im Gegenteil: Recht ruhig ist Dörte Hansens drittes Buch, es erzählt von einer Familie und einem Pfarrer, vom Gehen und Wiederkommen, vom Trinken und Fluchen, vor allem aber natürlich von der See. Es ist ein schöner, sprachmächtiger, naturverbundener Roman, sehr gefühlsklar und sanft, fast resigniert angesichts der übermächtigen Gezeiten, auf schlichte Art poetisch.

„Nichts tut so weh wie diese Kälte, und es gibt nicht einmal ein Wort dafür.“

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„Es braucht Zeit, sich zu entlieben“

Die namenlose Ich-Erzählerin ist frisch getrennt und mittendrin im Chaos der Emotionen: Sehnsucht und Wehmut, Hass und Zorn, alles zusammengebündelt von dieser unglaublichen Verletztheit. Wie kommt sie da wieder raus? Es erscheint unmöglich. Sie trifft sich mit anderen Männern, um sich abzulenken vom Schmerz, um ihren Körper zu spüren und den einen, der ihr wehgetan hat, zu vergessen. Das funktioniert manchmal so semi und dann wieder gar nicht. Sie trinkt und rauft, sie liest und weint. Sie versucht, sich selbst rauszuziehen aus dem Sumpf. Und irgendwann kommt der Moment, in dem die Traurigkeit ein wenig leichter wird und vielleicht sogar verschwindet, schließlich geht das Leben weiter, nicht wahr, das macht das Leben ja grad so kompliziert.

Olivia Kuderewski hat einen schnoddrig-rotzigen Liebeskummerroman geschrieben, dem ich Allgemeingültigkeit attestiere. Es beißt und blutet und schneidet einem mitten ins Herz, man kann sich diesem Buch nicht entziehen, von Anfang an steckt man gemeinsam mit der Protagonistin in der Scheiße. Wir haben uns alle schon so gefühlt, und mögen die Details auch unterschiedlich gewesen sein, so hat die Verzweiflung am Ende einer Beziehung etwas Universelles. Es ist der Autorin ausgesprochen gut gelungen, das einzufangen, Worte zu finden für die Leere, die Einsamkeit, die Panik und den Verlust. Es geht um Sex und Körperlichkeit, um Vertrauen und Loslassen, um Eifersucht und Loslassen, kurz: Es geht um das Leben. Das ist nachvollziehbar geschrieben, sehr authentisch, roh, oft witzig, dann wieder sehr bitter. Ein großartiges Buch – auf für jene, die gerade keinen Liebeskummer haben.

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„Machen wir uns nix vor, du hältst mich für ein Monster“

Wenn ich über mein aktuelles Buch spreche, in dem die Frauen im Fokus stehen, kommt oft die Frage nach den Männern. Was ist mit ihnen? Wo bewegen sie sich gerade, wie geht es ihnen? Wer erzählt ihre Sicht auf die Dinge? Frank Rudkoffsky tut das. Er beschäftigt sich mit klarem Blick und scharfem Stift wie kein anderer mit überholten Rollenbildern und fragilen Egos. Sein Protagonist Malte ist eigentlich überzeugt, dass er alles richtig macht. Er kümmert sich um seine Kinder, hat seiner Frau den Rücken gestärkt für ihre Karriere, und naja gut, die Wutanfälle, die sind dem Stress der Lockdowns geschuldet und so schlimm auch wieder nicht. Aber dann entgleitet ihm zusehends alles mehr und mehr, als Journalist kann und will er nicht mehr arbeiten, und er versteckt sich am unwahrscheinlichsten aller Orte: in der Kleingartensiedlung, in der sein Vater ein wichtiger Mann war. Als Kind hat Malte es gehasst, sich hier aufhalten zu müssen zwischen biertrinkenden Kerlen, die mehr Zeit im Vereinshaus als bei ihren Familien und ihn permanent verspottet verbracht haben. Jetzt ist sein Vater alt und krank, die Frage nach dem Verzeihen schleicht sich in den Raum, aber Malte hat keine Antwort darauf. Wie kann er als Sohn eines Mannes, der ein Arschloch war, einen besseren Umgang mit seinen Kindern finden? Wie kann ein Mann den veralteten Rollenbildern entkommen, wenn wir noch keine neuen etabliert haben? 

Frank Rudkoffsky ist ein Meister der Entlarvung. Wie schon in „Fake“ zerlegt er seine Hauptfigur mit verblüffendem Witz und literarischer Gnadenlosigkeit. Die Kleingartensiedlung als Kulisse ist geradezu genial, gilt sie doch als Brutstätte für toxische Männlichkeit, homosoziale Seilschaften und rassistisches Gedankengut. Das Buch beschäftigt sich mit der Implosion des Einzelnen und der Frage, was es bedeutet, ein guter Mensch zu sein. Ist das in Zeiten wie diesen überhaupt noch möglich? Der Roman ist herrlich bissig, wütend und klug, und trotz seiner Tiefgründigkeit macht er beim Lesen richtig Spaß. Man möchte Malte mehr als einmal in den Arm nehmen und trösten, das ist das Sanfte, das verzweifelte Männer in uns auslösen, man möchte ihm aber auch sagen: Komm mal klar, finde neue Wege, es ist jetzt wirklich an der Zeit. 

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„Den Entschluss weiterzugehen nicht bewusst gefasst zu haben“

Eine Skidurchquerung in den Schweizer Alpen, das bedeutet: körperliche Höchstbelastung, Gefahr durch Lawinen, klamme Nächte in unbeheizten Hütten, aber auch atemberaubende Ausblicke, unberührte Natur und ein großes Zurückgeworfensein auf sich selbst. Während man bei den ersten Worten des Klappentexts kurz zusammenzuckt und Schlimmes befürchtet, weil da steht „Eine Frau. Fünf Männer“ und so die meisten Geschichten beginnen, in denen eine Frau Gewalt erlebt, hat Silke Stamm eine ganz andere Story geschrieben: Es geht um die Eintönigkeit von immergleichen Bewegungen, einen Fuß vor den anderen und nicht aufgeben, um das Charisma eines Bergführers und um die Dynamik von Menschen, die einander fremd sind und dann eine Woche miteinander verbringen, dicht an dicht und quasi ohne Rückzugsmöglichkeit, es geht darum, was die Berge dir nehmen und was sie dir geben können. Auffällig am Roman ist seine sprachliche Konstruktion, denn er ist zur Gänze in Infinitivsätzen gehalten, die Protagonistin ist keine Ich-Erzählerin im eigentlichen Sinn.

Ich habe eine Hassliebe zum Schnee, ich bin darin aufgewachsen. Das Bergdorf, aus dem ich stamme, verfügt über einen Skilift, wie könnte es anders sein, und auch wenn ich nie zu so anstrengenden Touren aufgebrochen bin, wie Silke Stamm sie in diesem Buch beschreibt, kenne ich alles, was darin vorkommt: die nassen Stiefel, den Geruch einer Hüttenküche, wie die Sonne auf dem Schnee glitzert, wie man anders atmet dort oben. Ich habe gefühlt Tausende Werbetexte zum Skifahren in den Alpen geschrieben, und ich musste auch im Buch über die eine oder andere Formulierung schmunzeln: Da steckt naturgemäß viel Klischee drin in der Beschreibung der Bergwelt, aber eben auch viel Schönheit. Plot hat der Roman kaum, aber das stört nicht weiter, die eigentliche Hauptfigur ist ohnehin die Landschaft in all ihrer weißen Pracht (da, schon wieder). Sehr elegant ist das, ein wenig poetisch, oft auch profan, kein Detail hat die Autorin ausgelassen, was ich gut finde, jede körperliche und emotionale Regung wird ausgepackt und zugelassen, darf sein und wieder vergehen. Ein schmales, der Liebe zu den Bergen gewidmetes Buch, das ich gern gelesen habe.

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„Sie ließ die Wut durch sich hindurchrollen und fühlte sich im Einklang mit den Naturkatastrophen, die überall ihr Unwesen trieben“

Die knapp achtzehnjährige Yada lebt auf einer künstlichen Insel mitten in der Ostsee, die von ihrem Vater, einem Tech-Unternehmer mit einst großer Vision, und seinen Mitstreitern gegründet wurde. Alle ihre Tage laufen gleich ab, sie bekommt via Bildschirm Unterricht, macht Yoga, nimmt spezielle Medikamente, frühstückt mit den Mitarbeitenden und isst zu Abend mit ihrem Vater, der oft wochenlang unterwegs ist. Ihre Mutter soll an einer Krankheit verstorben sein, über die Yada nichts weiß. In einem zweiten Handlungsstrang widmet der Roman sich der Künstlerin Helena, die versehentlich zu einem Orakel geworden ist und ebenso versehentlich eine Sekte gegründet hat. Sie ist ein ungezähmtes, verantwortungsloses, chaotisches Wesen mit einer Art Wahlfamilie, die aus ihrer Freundin Kamilla, ihrem Halbbruder August, Sektenmitglied Sophia sowie deren kleiner Tochter besteht. Wie gehören nun diese beiden Figuren zusammen? Und was hat das alles mit historisch belegten Ereignissen zu tun rund um Menschen, die Inselstaaten gegründet oder eigene Länder erfunden und andere betrogen haben?

Das erzählt Theresia Enzensberger, Gründerin des BLOCK Magazins und Trägerin der Alfred-Döblin-Medaille, in ihrem aktuellen Roman. Gekonnt fügt sie die beiden Erzählperspektiven an der exakt richtigen Stelle zusammen, was das Buch ebenso rund wie raffiniert macht. Besonders gefallen hat mir, dass sie stets sehr nah an ihren Frauenfiguren bleibt, dass die Männer zwar beeinflussende Parameter sind, generell aber zu vernachlässigen. Durchmixt ist das Ganze mit zusammengefasst wiedergegebenen Geschichten zu entdeckten Inseln, ausgebeuteten Völkern und krassen Umweltproblemen, die alle real sind. Dadurch erhält die Fiktion einen authentischen Unterbau, und allein die zugrundeliegende Thematik macht den Roman sehr zeitgeistig: Im Kern geht es um die Klimakatastrophe und den drohenden Systemzusammenbruch, um ungerechte gesellschaftliche Strukturen, Armut und Anarchie. Dank des sehr angenehmen Stils ohne Effektheischerei lässt das Buch sich regelrecht verschlingen, was ich in wenigen Stunden in einem völlig überfüllten Zug (oh, the irony) getan habe: Ich wollte unbedingt wissen, wie es ausgeht, und war sehr zufrieden mit dem Ende. Wie auch mit dem ganzen Buch.

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„No one leaves home unless home ist he mouth of a shark“

Warsan Shire ist eine der bekanntesten Poetinnen unserer Zeit, und das hat sie ihrem Talent, dem Internet und Beyoncé zu verdanken. Ich habe schon sehr, sehr lange keine Gedichte mehr gelesen, meine Deutschlehrerin hat es mir für alle Zeit vergällt. Aber dann ist mir dieses Buch ins Haus geflattert, und ich hab gedacht: Oh! Jetzt möchte ich, dass ihr es auch lest, weil es heftig ist und bitter, intelligent und ausgefeilt, manchmal melodisch, dann wieder rau und direkt, manchmal verschlüsselt und codiert, dann wieder bis ins kleinste Detail spürbar. Auf der linken Seite ist jeweils das englische Original abgedruckt, rechts die deutsche Übersetzung, und abgerundet wird das Ganze von einem Nachwort, das keine Geringere als Sharon Dodua Otoo verfasst hat. Bei manchen Gedichten hab ich kein Wort verstanden, andere möchte ich mir ausschneiden und gut sichtbar aufhängen. Warsan Shire, die in Kenia geboren und in London aufgewachsen ist, erzählt von Flucht und Heimatlosigkeit, von generational trauma und Rassismus. Ihre Zeilen enthalten viele unterschiedliche Gefühle, denen nachzuspüren sich lohnt. Sie sind auch, wenn ihr wie ich vor Lyrik zurückscheut, ideal, um sich Poesie erneut zu nähern. 

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„Wer ins Wasser taucht, ist zur Unsichtbarkeit verdammt“

Die Kapitänin ist erfahren, jeden Frachter bringt sie pünktlich in den richtigen Hafen. Schon als Kind war sie auf dem Meer unterwegs, mit ihrem Vater, sie fühlt sich dort mehr zuhause als an Land. Doch dann tut sie etwas Ungewöhnliches: Als die Männer sie bitten, das riesige Schiff auf dem offenen Meer anzuhalten, damit sie schwimmen können, gibt sie ihnen ihre Erlaubnis. Die Männer gleiten also mit dem Rettungsboot hinunter zu den Wellen, die Kapitänin bleibt allein zurück.

„Es gibt drei Arten von Menschen: die Lebenden, die Toten und die Seefahrer.“

Doch so richtig seltsam wird es erst, als die Männer wieder an Bord sind. Plötzlich kann die Kapitänin sich auf nichts mehr verlassen, das Wetter spielt verrückt, sie hört, dass das Schiff einen Herzschlag hat, und welches Geheimnis ist da aus dem Meer aufgetaucht?

„So würde sie gerne sterben, mit einem lauten Krachen, den Wellen ausgeliefert, nach jahrelanger Irrfahrt, wenn die Erde endgültig beschlossen hätte, sie abzuweisen.“

Mariette Navarro hat mit gerade mal 150 Seiten einen schmalen, eindrucksvollen Roman geschrieben, der ebenso mystisch wie poetisch ist. Es ist ihr hervorragend gelungen, das Meer und seine Bewegungen zu schildern, die Faszination der Menschen, die glauben, den Ozean zu beherrschen, und ihm in Wahrheit ausgeliefert sind. In der zweiten Hälfte wird das Buch immer rätselhafter, manche Absätze musste ich mehrmals lesen, um das Gefühl zu bekommen, sie zu verstehen. Trotzdem oder gerade deshalb hat der Roman eine sehr besondere Anziehungskraft, der man kaum entgehen kann. Die Sprache murmelt und plätschert, schlägt Wogen und versprüht Nebel, der die Sicht erschwert. Ein eigenartiges, einprägsames Buch mit einer Geschichte voll von Unerwartetem. 

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„The world needs new experiences and thoughts and feelings, and new ways of expressing them“

Das Cover hätte mich fast vom Kauf abgehalten, und was für ein großartiges Buch hätte ich verpasst! Zum Glück war ich neugierig genug auf den Inhalt, um über das fraglich bunte kinderzeichnungsartige Design hinwegzusehen – aufhorchen lassen hat mich, dass die Protagonistin des Romans autistisch ist, die Autorin ebenso. Ich halte es nicht nur für wichtig, sondern für essenziell, dass wir mehr über Neurodiversität zu lernen, und da das in der Schule nicht passiert und im allgemeinen Diskurs auch nicht, müssen wir die Arbeit selbst leisten. Bücher wie dieses und Serien wie „Love on the Spectrum“ – an der es auch Kritik gibt, die ich aber gern geschaut habe, weil autistische Menschen so unterrepräsentiert sind – tragen dazu bei und sorgen dafür, dass wir mehr über neurodivergent minds erfahren können. 

„Privilege seems to be the result of conquering things, and stealing things, and copying things, and trying to make money out of things, before moving on to the next thing to conquer, steal, copy, and make money out of.“

Zufällig habe ich mich dem Roman und der Serie zeitgleich gewidmet, und die Parallelen waren faszinierend. Eine davon finde ich besonders schön: wie liebevoll diese autistischen Menschen über sich selbst sprechen. Die junge Ich-Erzählerin im Buch macht sich für eine Party zurecht, es ist der Abend vor Weihnachten, sie lebt allein. Sie achtet genau darauf, was sie anzieht, was sie isst, keine Sinneserfahrung geht verloren, sie ist im Hier und Jetzt. Wir erfahren, wie sie andere Menschen und die Interaktion mit ihnen wahrnimmt, die Dialoge, in denen die meisten sich verstellen und lügen. Autismus ist nicht, wie die Definition sagt, eine Störung, und oft genug denke ich: nicht die autistischen Menschen sind diejenigen, die sich in sozialen Situationen seltsam verhalten, sondern wir neurotypischen Menschen. Ich hatte mit diesem Buch so eine wunderbare, lehrreiche, heiter-leichte Zeit, es ist klug, pointiert, ehrlich und einfach richtig, richtig gut.

„It’s difficult for women to be honest and direct because for centuries we were burned at the stake, or persecuted, or shamed, or exiled, or rejected, or excommunicated, or divorced, or shamed, or socially excluded, for saying what we truly thought and felt.“

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„I also want feminism to be led by the nonwhite and the queer“

Mona Eltahawy ist eine muslimische, in Ägypten geborene Feministin, Autorin und Aktivistin, die durch mehrere Aktionen für internationale Aufmerksamkeit gesorgt hat. Dieses Buch ist ihr Manifest, es ist eine flammende Rede für mehr Wut, mehr Power, mehr Aufmerksamkeit – und ein völliges Umdenken in der Erziehung von Mädchen. Sie sollen nicht mehr still und klein und schwach sein, sie sollen ihre Kraft bündeln und dem System den Kampf ansagen.

„Feminism should terrify the patriarchy.“

Mona erzählt von sexualisierter Gewalt, die ihr sogar an vermeintlich heiligen Orten angetan wurde, von ihrem Protest und ihren Verhaftungen. Sie fasst zusammen, was Frauen weltweit genommen wird, und zeigt Wege auf, das für die nächsten Generationen zu verhindern. Am besten an diesem Buch finde ich nicht nur seine Klarheit, die direkten Worte und den ausformulierten berechtigten Zorn, sondern auch die vielen intersektionalen Beispiele: dass Frauen in Äypten, Saudi-Arabien, Argentinien sich genauso auflehnen wie in Irland, den USA und Deutschland, dass wir alle zusammenarbeiten und zusammenhalten müssen, dass der weiße, eurozentristische Feminismus Teil des Ganzen, aber nicht das Maß aller Dinge ist. Dies ist ein zeitgeistiges, wütendes und wichtiges Statement, das einen Themenüberblick gibt und erkennen lässt, dass der Feminismus ein Feuer ist, das in allen Ländern dieser Welt brennt. Das beweisen vor allem die mutigen Frauen im Iran.

„We will not let ourselves be burned because this time the fire is ours.“

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„Ich glaube denen nicht, die sagen, sie könnten nur leben, wenn sie schreiben. Sie würden anders leben, aber leben würden sie schon“

Das Kind hat einen Vater und eine Mutter, einen Namen hat niemand. Und vielleicht sind Namen nicht notwendig, weil die Geschichte so exemplarisch ist: das Aufwachsen in der DDR, die Sprachmächtigkeit des Vaters, die Sprachlosigkeit des Kindes. Das Machtgefällt innerhalb der Familie, die Frage, woher die Ahnen stammen und wohin die Nachkommen gehen. Viele Fragen, die Elke Lorenz zu beantworten versucht, indem sie sich auf die Sprache fokussiert, auf die Worte konzentriert: Der Titel verrät es, und wir wissen, dass das, was gesagt wird – wer sprechen darf, wer Redezeit erhält, wer den allgemeinen Diskurs bestimmt – immer mit Macht einhergeht.

„Schreiben vielleicht, das kann gehen. Aber dann soll man auch wieder reden mit denen, die es gelesen haben. Dabei hat man doch alles gesagt.“

Sehr klar, ein wenig spöttisch, ohne Schnörkel und mit einer fast schon scharfen Ungeduld treibt die Autorin die Lesenden durch dieses Buch: schau hin, sagt sie, erkennst du all die Muster wieder? Gut, und jetzt geh weiter, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit. Das finde ich kurios und amüsant, ich habe selbst oft genug geschmunzelt – und mir viele Zitate markiert, weil sie so grandios und treffend sind. Ich mag auch den sarkastischen, leicht gereizten Ton, und das Aufgreifen von Plattitüden, um sie zu sezieren.

„Einen Roman könnte man daraus machen, würden die Leute sagen. Ja, dann sollen sie ihn sich doch daraus machen. Ich kann hier jetzt nicht jeder Geschichte hinterherrennen.“

72 Jahre ist Elke Lorenz alt, und dies ist ihr Debütroman. Doch sie hat ihn nicht im hohen Alter aus einem Guss geschrieben, sie hat schon in den Achtzigern mit Skizzen angefangen und sie über die Jahre immer mal wieder erweitert. Das Leben ist ihr dazwischengekommen, und das ist vielleicht – aus literarischer Sicht – tragisch, aber eigentlich ist es auch schön. Und ich rechne es dem Verlag hoch an, dass er nicht, wie in der Branche üblich, dankend abgelehnt hat – sondern erkannt hat, dass in diesem Buch viel Talent, viel Überlegung und viel Lebenserfahrung stecken.

„Geschichte wiederholt sich nicht, aber die Menschen bleiben sich gleich.“