Bücherwurmloch

Theresia Enzensberger: Auf See

„Sie ließ die Wut durch sich hindurchrollen und fühlte sich im Einklang mit den Naturkatastrophen, die überall ihr Unwesen trieben“

Die knapp achtzehnjährige Yada lebt auf einer künstlichen Insel mitten in der Ostsee, die von ihrem Vater, einem Tech-Unternehmer mit einst großer Vision, und seinen Mitstreitern gegründet wurde. Alle ihre Tage laufen gleich ab, sie bekommt via Bildschirm Unterricht, macht Yoga, nimmt spezielle Medikamente, frühstückt mit den Mitarbeitenden und isst zu Abend mit ihrem Vater, der oft wochenlang unterwegs ist. Ihre Mutter soll an einer Krankheit verstorben sein, über die Yada nichts weiß. In einem zweiten Handlungsstrang widmet der Roman sich der Künstlerin Helena, die versehentlich zu einem Orakel geworden ist und ebenso versehentlich eine Sekte gegründet hat. Sie ist ein ungezähmtes, verantwortungsloses, chaotisches Wesen mit einer Art Wahlfamilie, die aus ihrer Freundin Kamilla, ihrem Halbbruder August, Sektenmitglied Sophia sowie deren kleiner Tochter besteht. Wie gehören nun diese beiden Figuren zusammen? Und was hat das alles mit historisch belegten Ereignissen zu tun rund um Menschen, die Inselstaaten gegründet oder eigene Länder erfunden und andere betrogen haben?

Das erzählt Theresia Enzensberger, Gründerin des BLOCK Magazins und Trägerin der Alfred-Döblin-Medaille, in ihrem aktuellen Roman. Gekonnt fügt sie die beiden Erzählperspektiven an der exakt richtigen Stelle zusammen, was das Buch ebenso rund wie raffiniert macht. Besonders gefallen hat mir, dass sie stets sehr nah an ihren Frauenfiguren bleibt, dass die Männer zwar beeinflussende Parameter sind, generell aber zu vernachlässigen. Durchmixt ist das Ganze mit zusammengefasst wiedergegebenen Geschichten zu entdeckten Inseln, ausgebeuteten Völkern und krassen Umweltproblemen, die alle real sind. Dadurch erhält die Fiktion einen authentischen Unterbau, und allein die zugrundeliegende Thematik macht den Roman sehr zeitgeistig: Im Kern geht es um die Klimakatastrophe und den drohenden Systemzusammenbruch, um ungerechte gesellschaftliche Strukturen, Armut und Anarchie. Dank des sehr angenehmen Stils ohne Effektheischerei lässt das Buch sich regelrecht verschlingen, was ich in wenigen Stunden in einem völlig überfüllten Zug (oh, the irony) getan habe: Ich wollte unbedingt wissen, wie es ausgeht, und war sehr zufrieden mit dem Ende. Wie auch mit dem ganzen Buch.

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