Bücherwurmloch

Vom Lesen über das Lesen
Erst vor drei Jahren habe ich angefangen, mich mit der Blogwelt zu beschäftigen – als ich selbst das Bücherwurmloch gegründet habe. Die Zahl der Blogs geht wohl ins Unendliche, und viele davon haben die Literatur zum Inhalt. Dabei gibt es, wie ich schnell festgestellt habe, Blogs, deren Buchauswahl sich eher mit meiner deckt als die anderer. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich jene Perlen gefunden habe, die heute meine Blogroll schmücken und die ich sehr schätze. Je intensiver ich mich mit der Art, wie Blogger rezensieren, auseinandergesetzt habe, umso mehr ist mir etwas aufgefallen: der große Unterschied zwischen dem Feuilleton und den Buchblogs.

Dieser Unterschied besteht für mich in erster Linie darin, dass die professionellen Rezensenten gern den Eindruck vermitteln, allwissend zu sein, indem sie ihre subjektive Meinung als objektiv hinstellen. Sie zeigen sich gebildet und belesen, machen Querverweise und werfen mit Fremdwörtern um sich. Es ist beispielsweise von “karnevalesker Mythentravestie” die Rede, von “kapriolenschlagenden Versen”, “Sprachpartitur” und “der Kontrollierbarkeit von literarischen Eskalationsprozessen”. Das sind nun natürlich banale und nur kurz gefasste Gedanken über das Feuilleton, die so oder ähnlich in vielen Köpfen schwirren und nicht fundiert sind. Ich lese durchaus gern Rezensionen, die mich derart umfassend formulieren, aber ich finde sie auch oft genug anstrengend, obwohl ich einen Magistertitel habe.

Buchblogs dagegen machen’s persönlich. Sie sind anders, weil sie subjektiv sind – und das auch zugeben. Ein Blogger schreibt über ein Buch und erzählt, was es mit ihm gemacht hat, wie es sich angefühlt hat, diesen Roman zu lesen, was es ihm gebracht hat. Die Königin dieser Art des Rezensierens ist mit Sicherheit die Klappentexterin, die von ihren Fans und mir dafür geschätzt wird, dass sie die richtigen Worte für ihre Gefühle bei der Lektüre findet. Das gelingt auch der Bibliophilin, Caterina, Svenja und Ada, um nur einige wenige ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu nennen, bei denen ich gern stöbere.

Es hat seine Zeit gebraucht, bis ich meinen eigenen Weg gefunden habe, denn anfangs habe ich mich dagegen gewehrt, zu viel von mir in meine Rezensionen zu legen. Ich dachte, sie müssten so distanziert und altklug sein, wie ich es gelernt hatte. Und diese Rezensionen waren nicht gut. Erst als ich zugelassen habe, dass das Wörtchen “ich” in meinen Besprechungen vorkam, fiel es mir leichter, von meiner Lektüre zu berichten und Begeisterung oder Enttäuschung zu formulieren. Denn darum geht es doch: Bloggen ist, meinen Freunden zu sagen, was mir gefallen hat und warum.

Das Bloggen ist zudem kein Dozieren, sondern ein Miteinander, das is einem Medium stattfindet, in dem ganz einfach und direkt kommentiert und diskutiert werden kann. Die Blogger sind eine virtuelle Gemeinschaft, die sich eng vernetzt und durchaus zum “Multiplikator” für ein Buch werden kann. Die Erfolgsgeschichte mancher Titel – wie aktuell “Fifty Shades of Grey” – zeigen, dass die Blogger-Community eine Größe ist, die man ernst nehmen muss.

Es sei dahingestellt, wem welcher Stil besser gefällt, wer sich bei den Hobbyrezensenten oder den Profis besser aufgehoben fühlt. Es lässt sich mit Sicherheit viel darüber diskutieren, weil das Ansehen der Blogger oft nicht groß ist und sie als Laienrezensenten abgestempelt werden, denen man jegliche Ahnung über Bücher abspricht. Was aber bedeutet das? Muss man Literaturwissenschaften studiert haben, um eine Meinung über ein Buch haben und kundtun zu dürfen? Ist nicht vielleicht in der heutigen Zeit mit der neuen Art der Kommunikation ein direkterer, unverfälschter Weg besser bzw. spricht er nicht vielleicht mehr neue Leser an, die nicht die Sprache des Feuilletons sprechen? Darüber will ich nicht urteilen. Aber ich will sagen, dass ich Buchblogs mag.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Nacktes Überleben
„Wolken schienen an den weit entfernten Bergen zu zerbrechen, dunkle rollende Massen, die von Gipfeln zerrissen wurden und den blauen Himmel grimmig befleckten. Frostiges Nass fiel, nicht als Schneeflocken oder Regen, sondern in winzigen weißen Knäueln, die beim Aufprall zu Tropfen zerstoben und in plötzlichem Glanz auf dem Schnee gefroren. Der Wind, der sie brachte, rüttelte am Wald, ließ die Äste gegeneinanderschlagen, und dieser wild klopfende Lärm trug weit. Ab und zu gab ein zitternder Ast nach, brach vom Stamm und fiel mit einem letzten Knurren zu Boden.“ Derart unwirtlich präsentiert sich die Welt dort, wo die 16-jährige Ree Dolly mit ihrer weggetretenen Mutter und ihren kleinen Brüdern lebt, im Hinterland von Missouri. Die Dollys sind bekannt für ihre Fähigkeiten als Meth-Köche und für ihre Gewalttätigkeit. Rees Vater Jessup ist ebenfalls Meth-Spezialist und ein Junkie, und er ist verschwunden. Das ist nicht weiter ungewöhnlich, doch er hat das Haus der Familie für seine Kaution verpfändet, und wenn er seine Haftstrafe nicht antritt, steht Ree mit der geisteskranken Mutter und den Buben mitten im härtesten Winter vor dem Nichts. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als ihren Vater zu suchen – was dazu führt, dass die gewissenlosen Menschen der Gegend, statt ihr zu helfen, sie zum Schweigen bringen wollen …

Winters Knochen von Daniel Woodrell ist ein Buch der Extreme, trocken wie ein Bachbett, an dessen Ufer man verdurstet, und lieblos wie ein Schlag ins Gesicht. Davon steckt Ree auf ihrer Suche einige ein, denn in der abgefuckten Gegend, in der sie aufwächst, schreckt absolut niemand davor zurück, zuzuschlagen oder gar zu töten. Es herrscht Hunger, die Kälte ist unbesiegbar, Zukunftsperspektiven gibt es keine. Eilig zusammenverheiratete Teenager hausen mit ihrem ungewollten Nachwuchs im Wohnwagen. Ree kann nicht in die Schule gehen, weil sie sich um ihre Brüder und ihre unfähige Mutter kümmern muss, und ihr größter Traum, von dort fort und zur Armee zu gehen, wird sich wohl nie erfüllen. Der US-amerikanische Autor Daniel Woodrell erzählt von einem Ort, an dem es zugeht wie in der Dritten Welt, obwohl er sich mitten im wohlständigen Amerika befindet. Hier schert sich niemand um nichts, es geht ums nackte Überleben.

Protagonistin Ree kann es sich nicht leisten, eine 16-Jährige zu sein, die sich ihrem Alter entsprechend jugendlich-pubertär verhält. Auf ihren Schultern lastet all die Verantwortung, die die egoistischen Erwachsenen achtlos fallengelassen haben. Während ich mit ihr durch das verschneite, leblose Tal stapfe, kommt es mir vor, als sei ich an einem der Enden der Welt gelandet, wo Gerechtigkeit, Hoffnung und Schönheit niemals hinkommen. Das Leben hier ist Dreck. Sehr direkte, knallharte Worte findet Daniel Woodrell für die Geschichte rund um Verrat, Drogen, Aussichtslosigkeit und Verlust. Sein sparsamer, reduzierter, alltagssprachlicher Stil passt perfekt zum Inhalt. Es ist logisch, dass Winters Knochen mich deprimiert, denn es ist nichts Freudvolles an diesem Roman – weil es eben im Leben vieler Menschen keine Freude gibt, weil nicht einmal und schon gar nicht die Drogen sie glücklich machen können. Und es erfüllt mich mit Dankbarkeit, dass ich dieses trostlose, dunkle Elend am Ende des Buchs verlassen kann. Sehr beklemmend, inhaltlich mächtig, ein Buch der lauten Töne und Drohungen, in dem die leise Traurigkeit am meisten brüllt.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
das Cover ist düster und passt gut, aber wo ist der Schnee?
… fürs Hirn: die Ausweglosigkeit mancher Orte, die so wirken, als führte keine Straße von ihnen weg, sondern maximal im Kreis herum.
… fürs Herz: Ree und ihre selbstlose Tapferkeit im Kampf gegen das beschissene Leben, um das sie nicht gebeten hat.
… fürs Gedächtnis: die Eindringlichkeit des Buchs.

Für Gourmets: 5 Sterne

Vom Hass als Gegenspieler und Bruder der Liebe
Zara hat es richtig scheiße erwischt. Sie folgt dem Versprechen auf Arbeit und Geld nach Westen – und landet als Prostituierte ohne Fluchtmöglichkeit in einem heruntergekommenen Bordell in Berlin. Sie ist Paschas persönliche Sklavin und muss lange auf den Moment warten, in dem sie entkommen kann, als sie gerade in Estland ist. Hier lebt jemand, der Zara vielleicht retten kann: Aliide. Erst bei ihrem Weggang hat Zara erfahren, dass ihre Großmutter in Estland eine Schwester hat, von der niemals gesprochen wurde. Aliide ist misstrauisch und hält Zara für den Lockvogel einer Räuberbande, nimmt sie aber aus Mitleid bei sich auf. Sie erkennt in Zaras Verhalten einen Schmerz, den sie selbst seit Jahrzehnten in ihrem Inneren verborgen hält – seit jener Nacht, in der ihr Gewalt angetan wurde. Jung und zuversichtlich war Aliide einst, und verliebt, über die Maßen verliebt in einen Mann, den sie nicht bekommen konnte. Die Eifersucht hat Aliide zu hinterhältigen Taten und zu einem großen, endgültigen getrieben, der viele Leben für immer veränderte. Aliide ist so hart wie die Zeiten und die Kriege, die sie erlebt hat. Und Zara, die ihr ausgeliefert ist, hinter der die Mafia her ist, weiß nicht, dass Aliides Hass auf ihre Schwester immer noch brennt …

Fegefeuer von der finnischen Autorin Sofi Oksanen ist ein vielfach ausgezeichnetes, sprachgewaltiges und aufwühlendes Buch. „Wer Äußerstes erlebt hat, ist auch zu Äußerstem bereit“ – diese Ankündigung aus dem Klappentext trifft voll und ganz auf beide Protagonistinnen zu. Aliide und Zara sind wie Gefäße, bis zum Rand angefüllt mit Demütigung, körperlichem Schmerz und Sehnsucht. Während Zara eine Verzweiflungstat begeht, um ihrer Opferrolle zu entkommen, hat Aliide Jahrzehnte zuvor rücksichtslos und ohne Gewissensbisse nach ihren eigenen Wünschen gehandelt – auf dem Rücken derer, die sie eigentlich hätte beschützen sollen. Jetzt ist sie alt, einsam, allein, verspottet, aber immer noch nicht unterzukriegen: „Kommt nur, kommt alle, Mafiaknechte, Soldaten, Rote und Weiße, Russen, Deutsche oder Esten, sollten sie doch kommen, Aliide würde überleben. Sie hatte immer überlebt.“ Das Überleben ist eines der zentralen Themen in diesem schockierenden Roman: das nackte Am-Leben-Bleiben, ohne Tageslicht vielleicht, ohne Hoffnung, ohne Liebe, aber leben, leben. Mit Schärfe und Präzision hat die Autorin die endlose Brutalität der Menschen im Umgang miteinander herausgearbeitet, die Lust am Leid der anderen, die Unsicherheit des Krieges.

Der Großteil der Handlung spielt in dem kleinen Dorf in Estland, in dem Aliide lebt. Ihre Erinnerungen an die estnische Zeit, an die Russen und die Deutschen gibt mir Einblick in die Geschichte dieses Landes, mit der ich mich zuvor nie im Detail beschäftigt habe. Es ist eine Geschichte, die – wie könnte es anders sein – von Vertreibung und Krieg erzählt, von Vergewaltigung, Hunger und Opportunismus. Scharfkantig und perfide ist dieses Buch, auf manchen Seiten springt es mich mit spitzen Krallen an und zwingt mich, mir schreckliche Bilder von Verletzungen anzusehen, äußerlichen und inneren. Mehr als einmal bleibt mir fast die Luft weg. Ich schätze es sehr, dass Sofi Oksanen nicht einfach zwei bemitleidenswerte Frauen kreiert hat, die von den Männern benutzt und vom Zeitgeschehen gebeutelt werden, sondern dass sie beide – aus unterschiedlichen Beweggründen – zu Täterinnen macht und dem Roman damit Gewicht und Glaubwürdigkeit gibt. Mein Mitleid gilt deshalb einer ganz anderen Frau im Buch. Dies ist ein Roman, der mich regelrecht in einen Sumpf zieht, und ich habe das Gefühl, über splitternde Knochen zu gehen und durch Angst zu waten. Ein sehr extremes, stilistisch ausgefeiltes, interessantes und bewegendes Leseerlebnis, das sicher niemanden kalt lässt.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
tolles Lila! Die Fliege – naja, aber sie hat inhaltlichen Bezug.
… fürs Hirn: die Hintergründe des Romans liegen in der estnischen Geschichte, die so voller Gewalt ist wie die Vergangenheit jedes einzelnen Landes.
… fürs Herz: Zaras Zerbrochenheit.
… fürs Gedächtnis: mein Nach-Luft-Schnappen bei vielen Szenen.

Prost Mahlzeit: 1 Stern

„Jeder Gast bekommt bei seinem Besuch eine Geschichte geschenkt“
Helene und Lena: Zwei Frauen, die es aus unterschiedlichen Gründen in ein kleines Dorf an der spanischen Nordwestküste verschlägt. Helene hat hier einst schöne Momente verbracht und weiß nach einem schweren Schicksalsschlag keinen Ort, an den sie sonst gehen könnte. Sie wird von der Klosterschwester Hermana Consuelo liebevoll umsorgt und gepflegt. Lena ist erst 18 und liegt mit der ganzen Welt im Clinch, weil niemand sie versteht und keiner sie liebt. Die spießigen Eltern hatten genug von Lenas Rebellion und schickten sie zum Onkel, wo sie die Kinder hüten soll. Wie alle Dorfbewohner wird Lena aufmerksam auf die stumme verzweifelte Frau, die jeden Tag ruhelos am Strand entlangrennt, um dann zusammenzubrechen und lethargisch aufs Meer zu starren: Helene. Sie will Helenes Geheimnis ergründen und nähert sich ihr an. In ihrer Jugendlichen Großkotzigkeit geht sie beim Herumstöbern in Helenes Vergangenheit nicht gerade feinfühlig vor – und bringt sich schließlich selbst in die Bredouille …

Es gibt Bücher, die machen es mir schwer. Sie zeigen mir Seiten, die mir außerordentlich gut gefallen, und enthalten Sätze, bei denen ich zustimmend nicken mag. Gleichzeitig sind sie aber stellenweise so anstrengend, langweilig und bescheuert, dass ich nicht weiterlesen will. Vom Leben und Sterben der Pinguinfische von Juliane Hielscher ist so ein Buch. Das Setting ist schön, das Meer rauscht, die Menschen in dem spanischen Dorf tragen ihre Geschichten im Herzen und auf der Zunge. Zwei Frauen treffen hier aufeinander, die verschieden sind, aber sich selbst im Schmerz der anderen erkennen. Wobei Helene viel authentischer wirkt als Lena, die mit ihrer Bockigkeit und ihrem Selbsthass ein richtig blödes Gör ist. Ihre Art, mit Helenes Traurigkeit umzugehen, ist unerträglich, und weil ich dauernd lesen muss, dass sie dumme Dinge sagt wie: „Die hat doch so ein Trauma wegen dieses Kindes. Die kapiert doch gar nicht, was mit ihr los ist“, würde ich das Buch am liebsten in die Ecke pfeffern. Aber dann wieder hält mich ein schöner Gedanke, ein guter Satz bei der Stange und ich breche das Buch nicht ab (wer mich kennt, weiß, dass ich ja generell ein Problem damit habe). Hätte ich es mal lieber gemacht. Denn natürlich ist ein Roman, der mich nicht gleich überzeugt, fast immer Zeitverschwendung – das hat mich meine lange Leseerfahrung gelehrt. Und als dann das dicke Ende kommt, ist es dermaßen überzogen und unbegreiflich, dass … ich gar nicht mehr darüber reden mag.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein uninteressantes Buch, aber ein wahnsinnig tolles Cover – das bisher schönste 2012. Wenn man den Schutzumschlag entfernt, ist man am Meer.
… fürs Hirn: für mich nur die Qual, das Buch schlecht, aber nicht schlecht genug zu finden.
… fürs Herz: Helenes großer, sehr trauriger Verlust.
… fürs Gedächtnis: endlich zu lernen, Bücher abzubrechen.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Von einer Liebe, die nicht sein kann und deshalb umso größer ist
William Miller, der schmächtige Sohn eines Bodybuilders, tut umgeben von den Unmengen Fleisch, die sein Vater und seine Brüder verdrücken, das einzig Logische: Er wird Vegetarier. Als seine Mutter stirbt, rückt Will noch weiter in die Unscheinbarkeit, hört auf zu sprechen und zu wachsen. Doch er findet zu sich selbst zurück, als eines Tages ein bezauberndes Mädchen vor seinem Haus sitzt: Lulu. Sie zieht zusammen mit ihrer Mutter bei ihm ein, und sie wird Wills Stiefschwester, seine große Liebe und sein Untergang. So eng ist die Bindung zwischen Will und Lulu, dass sie eine eigene Sprache erfinden müssen, um ihre Gefühle füreinander zum Ausdruck zu bringen. Doch dann, in jenem Sommer, in dem sie 15 ist, geschieht etwas – und Lulu verändert sich. Sie stößt Will von sich, so weit, dass er fast an seiner plötzlich unerwiderten Liebe erstickt. Mit aller Kraft kämpft Will um Lulus Aufmerksamkeit, er begehrt und hasst sie zugleich. Zwar bemüht er sich um eine Ausbildung, eine Karriere, eine Zukunft, doch sein Herz ruft mit jedem Schlag nach Lulu – und es dauert lange, viel zu lange, bis er endlich die Wahrheit erfährt.

Mit William Miller hat Jonathan Evison einen tragikomischen Alltagshelden geschaffen, dem das Leserherz sofort zufliegt. Weil er umgeben ist von testosterongesteuerten Männern, weil er schwach ist, weil er seine Mutter verliert und weil er sich mit jener Heftiskeit verliebt, die einen mit dem Gesicht unter Wasser drückt, immer wieder. Ganz zu Beginn erinnert Will mich an eine von John Irvings von mir so geliebten jugendlich-schrägen Figuren, doch das ändert sich, als Will aufgrund der Verletzung, die Lulu ihm zufügt, in sich zusammensackt und verbittert wird. Mit ihm gemeinsam krache ich von seiner Wolke auf die Erde, und der Roman verliert an diesem Punkt für mich viel von seiner Zauberhaftigkeit. Denn nun muss ich mit Will der Hässlichkeit einer Liebe, die einen Verzweifelten auffrisst, ins Gesicht schauen. Und das bedeutet einen sehr einsamen, öden und sehnsuchtsvollen Alltag.

Mit seiner Sprache hat Jonathan Evison mich überzeugt. Er ist begabt darin, Cliffhanger zu platzieren, geht sparsam mit Metaphern um und erlaubt es einzelnen Sätzen, aus ihrem Umfeld herauszuleuchten. Mein einziger Kritikpunkt an seinem hochgelobten Roman All about Lulu ist ein inhaltlicher, denn ich bin mit seinem Ende, mit der Auflösung des ganzen Wirrwarrs, nicht unbedingt zufrieden – zu viele Fragen bleiben für mich offen, die ich aus Spoiler-Vermeidungsgründen nicht nennen kann. Es erscheint mir unrealistisch, dass die komplette Familie Will die Tatsachen so lange verschweigt, und ich mag den Seifenopern-Touch nicht, der dann am Schluss alles überzieht. Aber ich mag Will und ich kann der Dramatik und Zwanghaftigkeit, die er an den Tag legt, durchaus etwas abgewinnen, war ich doch selbst einmal ein blind verliebter Teenager, der glaubte, ohne den anderen ginge die Welt unter. Wobei meine Welt wohl nie dermaßen untergegangen ist wie jene von Will.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
eins der schönsten Cover bisher 2012, wenn man das Buch öffnet, sieht man das ganze Gesicht.
… fürs Hirn: ein sehr emotionaler, mutiger, ergreifender Roman, der mich in erster Linie mit Protagonist Will mitleiden lässt. Danz zufrieden ist mein Hirn aber mit des Rätsels Lösung nicht.
… fürs Herz: Liebeskummer! Und zwar sehr großer. Der Schmerz eines Abgewiesenen, der umso mehr liebt, je öfter es ihm verboten wird.
… fürs Gedächtnis: vor allem der Anfang des Buchs, wo alles noch herrlich skurril und zauberhaft ist – bevor der große Crash kommt.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Gänsehaut am ganzen Herzen
„Spontane Entschlüsse waren Harolds Sache nicht.“ Und trotzdem tut der Pensionist eines Tages etwas, das so spontan ist, dass es an Verrücktheit grenzt: Statt den Brief an seine frühere Arbeitskollegin Queenie abzuschicken, läuft er am Briefkasten vorbei und an der Post auch. Und dann einfach immer weiter. Er setzt sich in den Kopf, zu Queenie zu gehen. Das klingt noch nicht verrückt genug? Nun, Queenie liegt 1000 Kilometer von Harolds Ausgangsort Kingsbridge entfernt in einem Hospiz im Sterben. Und Harold hat nichts bei sich außer der Kleidung, die er trägt, seinen Segelschuhen, seiner Geldtasche und Queenies Brief. Er war nie verliebt in die Buchhalterin aus der Brauerei, in der er jahrzehntelang gearbeitet hat, aber sie hat ihm einmal selbstlos aus der Patsche geholfen – und Harold hat sich nie bedankt. Das will er nun nachholen, und er beschließt, den ganzen Weg zu Fuß zurückzulegen – einmal der Länge nach von Süden nach Norden durch England bis nach Berwick-upon-Tweed. Dieser Entschluss und diese Wanderung werden zu einer Zerreißprobe für Harolds Ehe mit Maureen. Sie sind sehr lange verheiratet und einander abhandengekommen, ihr Zusammensein besteht nur noch aus Schweigen oder Nörgeleien. Harolds unwahrscheinliche Pilgerreise zwingt Maureen zu der Erkenntnis, dass sie putzen kann, so viel sie will, der Schmerz über das, was vor Jahren geschehen ist, wird nicht weggehen. Während sie ihrem Mann in Gedanken wieder näher kommt, bringt er jeden Tag mehr Kilometer zwischen sich und Maureen: „Er zog die Schultern hoch und trieb seine Füße an, als laufe er nicht so sehr zu Queenie, sondern vor sich selbst davon.“

Rachel Joyce hat mit Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry einen Überraschungshit vorgelegt, und während der Lektüre erschließt sich mir das Geheimnis ihres Erfolgs: Dies ist ein Buch mit Herz. Wer es öffnet und sich auf die Geschichte einlässt, bekommt eine Gänsehaut am ganzen Herzen. Weil der Roman so ehrlich, schmerzhaft und berührend ist. Harold ist das Sinnbild für einen Menschen, der es sich bequem gemacht hat in seinem Leben wie in einem Bett, aus dem er nicht mehr aufstehen mag. Jedes Jahr dasselbe Urlaubsziel, zurückhaltende Beziehungen zu den Nachbarn, jeden Tag dieselbe Langeweile in der Arbeit – und zuhause immer dieselbe Frau, die lange schon in einem anderen Zimmer schläft. Harold ist sehr englisch, sehr verklemmt und traurig. Als Queenie ihm schreibt, dass sie stirbt, drängt viel Verschüttetes in ihm an die Oberfläche, und er kann nicht mehr stillhalten. Während er geht, denkt er nach über die Fehler, die er begangen hat, und alles, was er nie gesagt und nicht getan hat. Dann kann Harold nicht mehr stehenbleiben. Er schüttelt ab, was ihn gefangen gehalten hat, er verliert sich dabei selbst. Die Wanderung, die ihn zu vielen hilfsbereiten Menschen und in immer neue Situationen führt, verlangt ihm alles ab: „Harold saß lange auf einer Bank vor der Kathedrale und überlegte, wohin er gehen sollte. Ihm war, als hätte er seine Jacke abgelegt, sein Hemd und dann mehrere Schichten Haut und Muskeln.“

Ich gehe mit Harold durch ganz England – und ich folge ihm in seine Vergangenheit. Von Anfang an rührt mich das kauzige, verzweifelte Kerlchen zutiefst. Rachel Joyce ist keine meisterhafte Autorin, die aus poetischen Sprachbildern feine, glitzernde Netze spinnt. Aber sie hat das Talent bewiesen, eine rundherum glaubwürdige, lustige, aufwühlende und originelle Geschichte zu erzählen, die mit klaren Sätzen besticht und absolut stimmig ist. Sehr amüsiert habe ich mich darüber, wie die Medienwelt Harolds Reise vermarktet – diese Abschnitte geben dem Buch in meinen Augen viel Authentizität. Absolut sympathisch war mir auch das realistische Ende, das nicht (nur) mit viel Kitsch aufwartet, sondern mit der Einsicht, dass man dem Schmerz, den man in sich trägt, nicht entfliehen kann. Und dass der Tod unbesiegbar ist. Rachel Joyce sagt, sie habe ihr Herz in dieses Buch gelegt. Und das Schöne ist, dass man das mit jeder Zeile spürt.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
schönes Cover im Stil einer alten Pergamentkarte.
… fürs Hirn: der unfassbare Kraftakt, der Harolds Reise ist – für seinen Körper wie für seine Seele.
… fürs Herz: die Hilfe, die Harold immer wieder bekommt. Und die Hoffnung, dass unter all den Schichten aus Bequemlichkeit, Lethargie und Schweigen irgendwo noch ein bisschen Liebe ist.
… fürs Gedächtnis: der ewig gültige Vorsatz, es nie so weit kommen zu lassen wie Harold – nie zu schweigen, wenn man reden sollte, nie sich umzudrehen, wenn man jemanden umarmen sollte.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

„Aber die Erde ist grenzenlos, genau wie das Glück und wie früher unser Volk“
„Unser Sterben begann vor dem Schneefall, und wie der Schnee fielen wir immer weiter.“ Im Winter 1912 tötet das Fleckfieber Hunderte Indianer in Argus in North Dakota. Der alte Nanapush muss alle seine Frauen und Kinder in den Bäumen beerdigen, und die Trauer bringt ihn beinahe um. Eine einsame Überlebende wie er ist die junge Fleur Pillager, die ihm schweigsam in seiner Hütte Gesellschaft leistet, beide fallen fast dem Hungertod in die Hände und können die Namen ihrer Toten nicht aussprechen, damit die Geister nicht bleiben. Aber Fleur ist stark und kehrt zurück in ihr abgelegenes Haus im Wald. Die Indianer fürchten sie, weil sie bereits zwei Mal ertrunken ist und jeweils ein Mann ihren Platz beim Tod einnehmen musste und weil sie sie für zaubermächtig halten: „Sie ließ sich auf einen fast vergessenen Zauber ein und befaßte sich mit Praktiken, über die wir gar nicht reden sollten. Sie legte sich das Herz einer Eule auf die Zunge, so daß sie nachts sehen konnte, und ging hinaus zum Jagen, aber nicht in ihrer Gestalt.“ Doch trotz dieser Kräfte kann Fleur nicht verhindern, dass ihr in der Stadt Schlimmes widerfährt, und als sie ein Kind zur Welt bringt, gibt es Gerede, dass es nicht von Eli stammt, der Fleur über die Maßen liebt. In Gang gebracht wird dieses Gerede vor allem von Pauline, die mit Fleur zusammen in der Stadt gearbeitet hat und fast an ihrem Neid erstickt, weil sie unscheinbar und ungeliebt ist. Die Eifersucht treibt sie zu einer hinterhältigen Tat und schließlich in die Arme von Jesus, dem sie im Kloster als unerbittliche Märtyrerin ihr Leben widmet: „Ich stecke mir Kletten in die Achseln meines Kleides, Sandgras in meine Strümpfe und Nesseln in den Halsbund. Die Oberin zwang mich, meine Schuhe richtig herum anzuziehen, aber ich ließ mir die Zehennägel wachsen, bis das Gehen wieder weh tat und jeder Schritt mich an SEINEN Schritt auf dem Weg nach Golgotha erinnerte.“ Jeden Winter kämpfen die Indianer gegen den Hunger, denn die Regierung hat ihnen so gut wie alles weggenommen – und die, die auch das letzte Land der Ureinwohner wollen, kommen immer näher …

Louise Erdrichs Wurzeln liegen in North Dakota, sie ist die Tochter einer Indianerin. In ihren zahlreichen Büchern lässt sie eine Welt erblühen und Menschen auferstehen, die längst ausgelöscht sind. Der Hunger und der drohende Tod kriechen mir aus jeder Zeile von Spuren entgegen, jeder Atemzug der Indianer ist ein verzweifeltes Ankämpfen gegen ihr Schicksal, das die Weißen ihnen bringen. Dies ist ein unruhiges, ein aufwühlendes Buch, dessen Seele gequält aufschreit, wenn man es berührt. Es mag nicht jammern, dieses Buch, vielmehr setzt es sich mit mir an ein fast erloschenes Feuer und erzählt mir mit heiserer, schwindender Stimme von dem, was war. Die Winter sind hart in Argus, North Dakota, und die Kräfte der dezimierten Indianer sind klein. Sie sind stolz, sie tragen ihr Haar in prächtigen langen Zöpfen, sie kennen die Wirkung der Kräuter und die Wege der Tiere. Sie haben kein Mitleid miteinander, und in ihren Reihen stehen Verräter. Zwei Ich-Erzähler gibt es in diesem Roman, die sehr gegensätzlich sind: den alten Nanapush, der alles verloren hat bis auf ein wenig Humor, und die junge Pauline, die so süß ist wie eine grüne Zitrone. Zusammen mit ihnen tauche ich ein in eine verschwundene Zeit, in der es Wassergeister gab und letzte Büffel, in der ein Liebestrank Wirkung zeigte und das Christentum mit den indianischen Gottheiten zusammenkrachte.

Vieles von dem, was Nanapush und Pauline mir berichten, kann ich kaum verstehen, so fremdartig erscheint es mir. Und das ist auch gut so, denn es macht ihre Geschichte lebendig und glaubwürdig. Ich fühle mich angelockt von Louise Erdrichs Buch über den Untergang der Indianer, weil es verheißungsvoll wispert und kichert, und es stößt mich fort, weil ich weiß bin und der ahnungslosen modernen Zeit entstamme. Louise Erdrich will nicht Mitleid heischen für ein Volk, dem nicht geholfen ist mit allem Mitleid dieser Erde. Sie will Zeugnis ablegen und erinnern. Und das gelingt ihr so gut, dass für kurze Zeit im Schnee Spuren sichtbar werden.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ja. So kann man sich das wohl vorstellen.
… fürs Hirn: die Möglichkeit, teilzunehmen am Leben eines sterbenden Volks, von dem man im Geschichtsunterricht viel gehört hat und doch wenig weiß.
… fürs Herz: Mut, Tapferkeit und die überhebliche Dummheit der Indianer.
… fürs Gedächtnis: die Wichtigkeit von Louise Erdrich als Autorin und der Vorsatz, eventuell zu ihr zurückzukehren mit dem Club der singenden Metzger, weil sie so furchtlos schreibt und weil der Buchtitel einfach genial ist.

Prost Mahlzeit: 1 Stern

“Ich bin eine Grille, ich spiele Lieder in der Sonne”
„Wir lebten am Rand der Welt und konnten jederzeit herunterfallen.“ Im Fall von Ludwig ist das wörtlich gemeint: Früher wohnte er mit seiner Mutter an der englischen Ostküste in einem Haus, das so nah an den Klippen stand, dass das Meer ihnen den sandigen Boden unter den Füßen wegfraß – bis schließlich alles versank. Auch zuvor hatte Ludwig einmal seine Heimat verloren, als er nach dem Weggang des Vaters mit seiner Mutter Alexandria verließ. Nun ist er erwachsen, verdient sein Geld als Pianist in Bars und kehr für eine Beerdigung nach Reading zurück. Die Asche seiner Mutter hat er in einer Urne bei sich. Was ist geschehen zwischen damals und heute? Ludwig erzählt es seiner Barbekanntschaft in den gemeinsamen Nächten: wie er seiner Mutter, einer Pornodarstellerin, in die USA folgte und sich dort verliebte und wie er schließlich den Vater, einen der Welt entrückten und völlig wahnsinnigen Künstler, fand.

Tommy Wieringa ist ein vielgerühmter Autor, der 2006 mit Joe Speedboat Beachtung fand. Ich bin durch eine Empfehlung zu diesem Schriftsteller gekommen – aber ich konnte seinem zweiten Roman wenig abgewinnen. Zwar klingt die Geschichte in ihren Möglichkeiten vielversprechend – Mutter Pornodarstellerin, Vater Künstler, wie entwickelt sich der Sohn? –, doch in der Umsetzung war sie mir zu langweilig. Protagonist Ludwig hat sich zwar viel bewegt in jungen Jahren, er wurde abgeschoben, umgesiedelt, zurückgelassen, aber wenig davon, so scheint es, hat ihn bewegt. Natürlich ist seine abgebrühte Art nur ein Schutz – aber ich möchte von solchen Männern, die nie Zugang zu ihrer Gefühlswelt geben, nicht lesen. Ludwig wirkt auf mich wie einer jener Männer, die reden und reden und dabei wenig sagen. Er schneidet sich seine große Liebe grundlos aus dem Herzen und gibt sich cool.

Nur für seine Mutter bringt Ludwig sehr wohl Gefühle auf – und zwar sexueller Art. Das ist irritierend. Vielleicht möchte der Autor damit ausdrücken, dass Ludwig mit der Berufswahl seiner Mutter nicht klarkommt. Doch schon als kleiner Junge ist Ludwig von seiner Mutter erregt und später sagt er beispielsweise: „Du schamloses Wesen, dachte ich, mit deinen herrlichen Titten. Ich sah ihr nach, ihrem prallen Po und ihren vollen Schenkeln. Ich warf meine Kleidung ab und folgte ihr. Als ich den Kopf untertauchte, dachte ich an ihren Urin, in meinem Zustand war alles sexuell aufgeladen.“ Ludwigs Konzentration auf seine Mutter hat krankhafte Auswüchse, dennoch ist ihre Beziehung nicht liebevoll. Dass dieses Tabu gebrochen wird, stört mich nicht weiter, aber da sich mir der Grund dafür nicht erschließt, fühle ich mich klarerweise abgestoßen. In all diesen Geflechten im Buch gibt es mit Sicherheit noch mehr zu entdecken, aber mir fehlte das Interesse, nach Bedeutsamkeit zu suchen. Denn Tommy Wieringa hat mit seinem Stil meinen Lesegeschmack nicht getroffen. Ich wünsche mir Bücher, deren Sprache wie eine Melodie erklingt, ganz egal, in welchem Tempo, und abgeschmackte Sätze wie „So ist das Leben, Herzchen … So ist es, wenn man erwachsen wird“ ertrage ich nur schwer. Der verlorene Sohn und ich sind uns nicht nahe gekommen.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
Hanser-Cover sind in ihrer kraftvollen Schlichtheit immer sehr schön. Auch wenn ich nicht weiß, was das mit dem Pferd soll.
… fürs Hirn: die Frage: Was tust du, wenn du einen Porno anschaust und auf einmal deine Mutter mitspielt?
… fürs Herz: Ludwigs Verlorenheit.
… fürs Gedächtnis: merke: weniger online kaufen und öfter in einer Buchhandlung in ein Buch reinlesen. Dann wäre dieser Fehlgriff nicht passiert.

Für Gourmets: 5 Sterne

“Ich habe dem Mann, den ich liebe, nichts als Zugeständnisse zu bieten. Für ihn habe ich kein einziges Nein”
Elsa stirbt. Als die Ärzte sich vor dem Tod ergeben, kommt Elsa nachhause zu Martti, ihrem Mann, mit dem sie ihr ganzes Leben geteilt hat. Elsa bleiben nur noch Tage, um Abschied zu nehmen von ihrer Familie, die sie nicht verlassen will. „Vom Tod wissen die Lebenden nichts, aber das Sterben, dieses allmähliche Vollziehen, drängt sich deutlich in ihre Tage. Die Zeit verlangsamt sich, und die Wirklichkeit bekommt Wände aus Trauer, innerhalb derer der Sterbende und die Seinen ihre inbrünstigen Rituale vollziehen.“ So ergeht es Elsas Tochter Eleonoora und ihren Enkelinnen Anna und Maria. Eleonoora, selbst Ärztin, stemmt sich der Trauer wütend entgegen, Ehemann Martti dagegen nimmt den Gedanken, Elsa zu verlieren, wie einen Becher bitterer Medizin und trinkt sie Schluck für Schluck. Anna verbringt viel Zeit mit ihrer Großmutter, die zerbrochene, stille Anna, die sich im Studienabschluss verrennt und sich einen Freund gesucht hat, der so weich ist, dass er sie nicht verletzen kann. Denn Anna hat geliebt und verloren. „Doch Annas Trost ist ungeschickt, sie hat nichts als ihre sperrigen Arme, die die Umarmung schon auf halbem Weg verweigern.“ Und trotzdem ist es sie, die selbst nichts erzählt, mit ihrem Gespür für das Ungesagte, die ein fremdes Kleid und damit ein Geheimnis entdeckt. Denn das Kleid gehörte einer Frau, die einst wichtig war für Martti: Eeva.

Ich habe mich nicht auf den ersten Blick in Wahr von Riikka Pulkkinen verliebt. Vielmehr habe ich nach der digitalen Leseprobe entschieden, das Buch nicht zu lesen. Dann aber hat es mir ein aufmerksamer Mensch geschenkt, und wir haben einander über das Regalbrett hinweg immer wieder angeschaut. Eines Tages habe ich ihm spontan doch eine Chance gegeben – und es war um mich geschehen. Plötzlich hat die junge finnische Autorin ihre sperrige, hölzerne und doch so klare Sprache um mich gelegt wie Arme und hat mich so festgehalten, dass ich nicht mehr gehen wollte. Die Geschichte ist denkbar klischeehaft: Eine Frau liegt im Sterben, sie hat eine Karriere gehabt und eine Familie, und ihr Mann hat sie einst betrogen, er war verliebt in eine andere. Aber es ist ebendiese ausgezeichnete, kluge Sprache, die mal hart werden und dann wieder weich sein kann, die dafür sorgt, dass ich mich trotzdem für diese Geschichte interessiere. Alle Sätze sind eingebettet in ein großes Gewebe, das in seiner Gesamtheit funktioniert und keine einzige Lücke aufweist.

Es ist nicht Elsa, die – wie der Klappentext behauptet – ihre Erinnerungen formuliert und ihre Geschichte erzählt. Vielmehr ist Eevas Geschichte einfach da, niemand erzählt sie, sie existiert, weil sie passiert ist. Eeva ist die Stimme aus dem Off. Und sie ist allwissend, sie kennt die Vergangenheit und die Zukunft, sie sagt „Er denkt, dass …“ und „Ich weiß noch nicht, dass …“, und das ist so fremdartig, bizarr und unrealistisch, dass ich es genial finde. Eevas Geschichte ist Annas Geschichte und die Geschichte jeder Frau, die einmal unverhältnismäßig geliebt hat: „Aber sie ist der Überzeugung, dass niemand es sich leisten kann, die Liebe vorbeiziehen zu lassen. So reich kann niemand sein. Und deshalb macht sie ihm die Tür auf“, sagt Eeva. Traurig ist dieser feinsinnige, emotionale Roman, sehr poetisch, wunderschön, süß und bitter. Es geht darin um eine starke Ehe, um zwei Lieben – eine davon aufbrausend wie ein Feuer, die andere wärmend wie eine stete Flamme – und um die wilden 1960er-Jahre, die im abgelegenen Finnland nicht so richtig in Gang gekommen sind, um die Künstlerszene und die Beziehung zwischen Mutter und Tochter.

Wahr von Riikka Pulkkinen ist ein Buch, wie ich es brauche, wie ich es mir wünsche, und deshalb für mich das bisher beste Buch, das ich 2012 gelesen habe. Es ist kraftvoll und zynisch, elegant und melodisch, und viele Sätze darin möchte ich mir in geschwungener Handschrift an die Wand schreiben, um sie als Erstes zu sehen, wenn ich aufwache. Dies ist eine Sprache, in der ich schwimmen und unter Wasser atmen kann, sie ist eine Wolke, auf der ich gehen kann, ich möchte mich zudecken mit dieser Sprache und dann einschlafen, in dem Wissen, dass ich zuhause bin.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
die Farbe des Covers finde ich schön, den Rest mittelmäßig.
… fürs Hirn: das Wissen, dass es so ist, das Leben – dass einem passiert, womit man stets gerechnet hat und das man doch nie erleben wollte, und dass es schließlich viel zu schnell zu Ende geht.
… fürs Herz: jede einzelne der Figuren – Elsa, Martti, Ella, Anna und Eeva – und ganz besonders Eeva, deren Stimme so ätherisch durch das Buch schwebt wie ein kaum wahrnehmbares Geräusch, und deren Geschichte doch das Herz des Romans ist.
… fürs Gedächtnis: mein eigenes pures Leseglück bei jeder einzelnen Seite.

Netter Versuch: 2 Sterne

Ein ganzes Leben, erzählt in wenigen Stunden
“Im Grunde genommen ist so ein Foto eine ziemlich armselige Sache. Es vermag nur einen einzigen Moment, von Millionen von Momenten, aus dem Leben eines Menschen oder eines Hauses festzuhalten.” Ausgehend von diesen kurzen Momenten – 20 Fotos sind es an der Zahl – erzählt Rosamond von ihrem Leben, und sie nimmt alles mit dem Mikrofon auf. Sie möchte der blinden Enkelin ihrer Cousine, Imogen, ein Vermächtnis hinterlassen, möchte ihr erklären, woher sie stammt und wie ihre Wurzeln beschaffen sind. Rosamond hat keinen Kontakt zu Imogen, und so liegt es an ihrer Nichte Gill, die junge Frau ausfindig zu machen. Sie hört sich mit ihren zwei Töchtern die Kassetten an und erfährt vieles über ihre Familie, das sie nicht wusste: dass Imogens Großmutter Beatrix, die Rosamonds Cousine war, eine lieblose Kindheit erlebte und die Gefühlskälte an ihre eigene Tochter Thea weitergab. So entstand ein eisiger Kreislauf, den keine der Frauen durchbrechen konnte und der letztlich zu Imogens Erblindung führte. Es ist längst zu spät für Wiedergutmachung, aber Rosamond erinnert sich und bewahrt die Ereignisse, die redet an gegen den Tod, bevor sie sich ihm ergibt.

Jonathan Coe gilt als begnadeter Erzähler. Sein Buch über drei Generationen von Frauen, die in erster Linie durch Lieblosigkeit verbunden sind, wird dominiert von Rosamonds Monolog. Dieser ist – anders als man beim Wort Monolog erwarten würde – nicht langweilig und öde, aber auch nicht überaus spannend. Das liegt jedoch mehr am Inhalt, der – salopp gesagt – nicht viel hergibt. Rosamond bemüht sich, die Vergangenheit zum Leben zu erwecken, aber die Figuren wirken auf mich müde und blass, und dieser Strudel, in dem die Frauen stecken, die jeweils die nächste Generation mies behandeln, ist in seiner Häufigkeit banal. Was Coes Stil betrifft, so habe ich die ganze Lektüre über das Gefühl, als sei das Buch von einer Frau geschrieben worden. Das stört mich nicht, irritiert mich aber insofern, als ich mir für gewöhnlich wenig Gedanken über das Geschlecht des Autors oder geschlechtsspezifische Schreibe mache. Aber Der Regen, bevor er fällt ist für mich milde Frauenliteratur, die nicht im Gedächtnis haften bleibt und die … den Rest hab ich vergessen.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein schönes altes Foto.
… fürs Hirn: die Hartnäckigkeit, mit der sich Lieblosigkeit vererbt.
… fürs Herz: Rosamonds Bestreben, etwas zu hinterlassen, bevor sie geht.
… fürs Gedächtnis: dass das wohl nicht das beste Buch von Jonathan Coe ist.