„Aber die Erde ist grenzenlos, genau wie das Glück und wie früher unser Volk“
„Unser Sterben begann vor dem Schneefall, und wie der Schnee fielen wir immer weiter.“ Im Winter 1912 tötet das Fleckfieber Hunderte Indianer in Argus in North Dakota. Der alte Nanapush muss alle seine Frauen und Kinder in den Bäumen beerdigen, und die Trauer bringt ihn beinahe um. Eine einsame Überlebende wie er ist die junge Fleur Pillager, die ihm schweigsam in seiner Hütte Gesellschaft leistet, beide fallen fast dem Hungertod in die Hände und können die Namen ihrer Toten nicht aussprechen, damit die Geister nicht bleiben. Aber Fleur ist stark und kehrt zurück in ihr abgelegenes Haus im Wald. Die Indianer fürchten sie, weil sie bereits zwei Mal ertrunken ist und jeweils ein Mann ihren Platz beim Tod einnehmen musste und weil sie sie für zaubermächtig halten: „Sie ließ sich auf einen fast vergessenen Zauber ein und befaßte sich mit Praktiken, über die wir gar nicht reden sollten. Sie legte sich das Herz einer Eule auf die Zunge, so daß sie nachts sehen konnte, und ging hinaus zum Jagen, aber nicht in ihrer Gestalt.“ Doch trotz dieser Kräfte kann Fleur nicht verhindern, dass ihr in der Stadt Schlimmes widerfährt, und als sie ein Kind zur Welt bringt, gibt es Gerede, dass es nicht von Eli stammt, der Fleur über die Maßen liebt. In Gang gebracht wird dieses Gerede vor allem von Pauline, die mit Fleur zusammen in der Stadt gearbeitet hat und fast an ihrem Neid erstickt, weil sie unscheinbar und ungeliebt ist. Die Eifersucht treibt sie zu einer hinterhältigen Tat und schließlich in die Arme von Jesus, dem sie im Kloster als unerbittliche Märtyrerin ihr Leben widmet: „Ich stecke mir Kletten in die Achseln meines Kleides, Sandgras in meine Strümpfe und Nesseln in den Halsbund. Die Oberin zwang mich, meine Schuhe richtig herum anzuziehen, aber ich ließ mir die Zehennägel wachsen, bis das Gehen wieder weh tat und jeder Schritt mich an SEINEN Schritt auf dem Weg nach Golgotha erinnerte.“ Jeden Winter kämpfen die Indianer gegen den Hunger, denn die Regierung hat ihnen so gut wie alles weggenommen – und die, die auch das letzte Land der Ureinwohner wollen, kommen immer näher …
Louise Erdrichs Wurzeln liegen in North Dakota, sie ist die Tochter einer Indianerin. In ihren zahlreichen Büchern lässt sie eine Welt erblühen und Menschen auferstehen, die längst ausgelöscht sind. Der Hunger und der drohende Tod kriechen mir aus jeder Zeile von Spuren entgegen, jeder Atemzug der Indianer ist ein verzweifeltes Ankämpfen gegen ihr Schicksal, das die Weißen ihnen bringen. Dies ist ein unruhiges, ein aufwühlendes Buch, dessen Seele gequält aufschreit, wenn man es berührt. Es mag nicht jammern, dieses Buch, vielmehr setzt es sich mit mir an ein fast erloschenes Feuer und erzählt mir mit heiserer, schwindender Stimme von dem, was war. Die Winter sind hart in Argus, North Dakota, und die Kräfte der dezimierten Indianer sind klein. Sie sind stolz, sie tragen ihr Haar in prächtigen langen Zöpfen, sie kennen die Wirkung der Kräuter und die Wege der Tiere. Sie haben kein Mitleid miteinander, und in ihren Reihen stehen Verräter. Zwei Ich-Erzähler gibt es in diesem Roman, die sehr gegensätzlich sind: den alten Nanapush, der alles verloren hat bis auf ein wenig Humor, und die junge Pauline, die so süß ist wie eine grüne Zitrone. Zusammen mit ihnen tauche ich ein in eine verschwundene Zeit, in der es Wassergeister gab und letzte Büffel, in der ein Liebestrank Wirkung zeigte und das Christentum mit den indianischen Gottheiten zusammenkrachte.
Vieles von dem, was Nanapush und Pauline mir berichten, kann ich kaum verstehen, so fremdartig erscheint es mir. Und das ist auch gut so, denn es macht ihre Geschichte lebendig und glaubwürdig. Ich fühle mich angelockt von Louise Erdrichs Buch über den Untergang der Indianer, weil es verheißungsvoll wispert und kichert, und es stößt mich fort, weil ich weiß bin und der ahnungslosen modernen Zeit entstamme. Louise Erdrich will nicht Mitleid heischen für ein Volk, dem nicht geholfen ist mit allem Mitleid dieser Erde. Sie will Zeugnis ablegen und erinnern. Und das gelingt ihr so gut, dass für kurze Zeit im Schnee Spuren sichtbar werden.
Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge: ja. So kann man sich das wohl vorstellen.
… fürs Hirn: die Möglichkeit, teilzunehmen am Leben eines sterbenden Volks, von dem man im Geschichtsunterricht viel gehört hat und doch wenig weiß.
… fürs Herz: Mut, Tapferkeit und die überhebliche Dummheit der Indianer.
… fürs Gedächtnis: die Wichtigkeit von Louise Erdrich als Autorin und der Vorsatz, eventuell zu ihr zurückzukehren mit dem Club der singenden Metzger, weil sie so furchtlos schreibt und weil der Buchtitel einfach genial ist.
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