Prost Mahlzeit: 1 Stern

Die Kehrseite der Buch-über-seltsames-Kind-Medaille
Hazel ist noch ein Kind und hat trotzdem nicht so richtig Spaß am Leben. In der Schule geschieht wenig Aufregendes, Hazel gehört zum guten Mittelfeld kurz vor dem Außenseitertum. Sie hat einen kleinen Bruder, aber scheinbar keine besondere Beziehung zu ihm. Und dass die Eltern es nicht schaffen, zusammenzubleiben, macht Hazel zu einem von Millionen unspezifischen Scheidungskindern.

An der extrem kurzen Inhaltsangabe merkt man schon, dass in Help me, Jacques Cousteau von Gil Adamson nicht viel passiert. Dieses Buch gehört zu den Worst Cases unter den Romanen über kleine Kinder mit merkwürdigem Verhalten, er ist weder interessant noch witzig. In der Rezension zu Sarah Winmans Buch Als Gott ein Kaninchen war habe ich die zwei Bedingungen beschrieben, unter denen ein derartiger Roman mir gefällt, und im vorliegenden Fall sind sie definitiv nicht erfüllt. Es gibt keine verrückten, sonderbaren Menschen in Hazels Umgebung und somit auch keine erzählenswerten Ereignisse. Ihr Vater ist von Beruf Meteorologe, aber das Potenzial, daraus etwas Kurioses zu basteln, nutzt die Autorin nicht. Der kleine Bruder ist langweilig, Freunde gibt es in Hazels Leben nicht, und das Mädchen selbst ist zwar nett und ein wenig einsam, aber das lässt es nicht zu einer charakterstarken Protagonistin werden. Zudem sind die wenigen Seiten, auf denen Hazel am Ende erwachsen ist, völlig zusammenhangslos und sinnentleert. Deshalb ist dieses Buch von Anfang bis Ende nicht mein Fall, aber dank großer Schrift und Oberflächlichkeit in 1,5 Stunden ausgelesen.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
beim Anblick dieses Covers hätte ich es eigentlich wissen müssen.
… fürs Hirn: der Gedanke, dass es genau so nicht sein soll.
… fürs Herz: pfffff.
… fürs Gedächtnis: nichts.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Zehn herrlich skurrile Kurzgeschichten
Barbara freut sich, dass ihr etwas zurückgebliebener Sohn so gern in seinem neuen Baumhaus sitzt. Bis sie erfährt, was er dort treibt … Eine negative Überraschung erlebt auch Nina, die ihrer wagemutigen Freundin Irma nach Panama folgt und dort mit aller Kraft versucht, ihre siebentausend Ängste zu überwinden. Ellen lernt endlich ihren alten Vater kennen und hat ihm nichts zu sagen, und Rebecca muss sich von einer Großmutter verabschieden, die sie nie gekannt hat …

Viele Blogger rufen regelmäßig Challenges aus, bei denen man ein neues Genre entdecken oder viel Englisch lesen soll. Es ist zwar keine derartige Challenge, aber ich möchte an meiner Aversion gegen Kurzgeschichten arbeiten. Ich habe gemerkt, dass mein Leseverhalten sich verändert hat, dass ich jetzt oft nur für kurze Zeitphasen lese und Short Stories vielleicht besser zu mir passen als früher, da ich für Stunden in einem Roman abtauchen wollte. Bei meiner Suche für die nächste Herausforderung bin ich über eine Empfehlung für Das Glück geht aus von Sonja Heiss gestolpert – und ich bin froh, dass ich ihr gefolgt bin. Die Stories der jungen deutschen Autorin sind tatsächlich so lakonisch, wie der Klappentext behauptet.

Mit ihrem ruhigen, geerdeten Erzählton tut die Autorin so, als sei in ihren Geschichten ja alles ganz normal – obwohl eigentlich nichts normal ist, wenn man genauer hinschaut. In den vermeintlich banalen Alltagsmomenten finde ich mich zum Teil wieder oder kann sie mir zumindest lebhaft vorstellen – doch Sonja Heiss hat meist eine kleine Überraschung in petto, die mich verblüfft auflachen lässt. Ihre Geschichten entfalten keine nachhaltige Wirkung, sie stellen die Welt nicht auf den Kopf, aber sie sind amüsant, schlau, witzig und unterhaltsam – genau das Richtige, um zwischendurch minutenweise oder eine halbe Stunde lang zu lesen. Das bedeutet aber nicht, dass Das Glück geht aus leichte, oberflächliche Kost ist, im Gegenteil: Die Lebensweisheit steckt im Detail. In jeder Story verbirgt sich eine authentische kleine Botschaft darüber, dass der Anschein niemals die Wahrheit ist. Ist doch normal.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt:
… fürs Auge:
sehr lustiges Cover, schön abgefuckt.
… fürs Hirn: dass Lebenswahrheiten nicht immer groß, pathetisch und metaphorisch sein müssen, sondern auch stimmen, wenn sie das Gegenteil sind.
… fürs Herz: all die tragikomischen, tapferen, lebensechten Figuren.
… fürs Gedächtnis: die Geschichte “Sprich mit mir”!

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Auf dem Weg ins Ungewisse
Das Dorf liegt am Rande eines Waldes. Das Leben hier ist beschaulich und von jener Härte, die eine Dorfgemeinschaft gemeinsam bewältigen kann. Männer und Frauen tun sich zusammen, zeugen Kinder, bewirtschaften die Felder, wärmen einander in der Nacht. Als kurz vor der nächsten Ernte plötzlich ein Seilende am Waldrand liegt, wundern sich alle. Und bald werden sie neugierig: Wo ist das andere Ende des Seils? Wer hat es hier hingelegt und warum? Voller Abenteuerlust beschließen die Männer, mit Proviant und Gewehren gerüstet, das Rätsel zu lösen. Sie folgen dem Seil, marschieren weiter und weiter in den Wald hinein, ohne an ein Ende zu kommen – und befinden sich auf einmal an einem Punkt, an dem Umkehren unmöglich ist: „Je länger die Männer gingen, desto stärker wurde die Wirkung, die das Seil auf sie übte, jeder war von dem starken und das Herz pochen machenden Gefühl durchdrungen, etwas zu erleben, das in der Geschichte des Dorfes niemals da gewesen war und über alles Verstehbare hinaussschoss.“ Doch was die Männer nicht bedenken, ist, dass die Frauen sie bald tot glauben und dass das Dorf nicht funktionieren kann, wenn die Gemeinschaft nicht mehr besteht …

Stefan aus dem Siepen hat in seinem dritten Roman Das Seil eine denkbar simple Situation geschaffen: Auf dem Boden liegt ein Seil und es hat, so scheint es, kein Ende. Forsch und selbstsicher, wie sie nun mal sind, machen die Männer sich auf, um diese Absonderlichkeit, die nicht geduldet werden kann, aus der Welt zu schaffen. Ihre großen Mäuler werden jedoch immer kleiner, als sich der unendlich wirkende Wald vor ihnen ausbreitet und das Geheul der Wölfe ihnen den Schlaf raubt. Sie sind der Gesellschaft enthoben und können sich verhalten, wie sie wollen, doch sie folgen ihrer innersten Natur und lassen zu, dass einer von ihnen – dessen äußerliche Gestalt das eigentlich unwahrscheinlich machen würde – zu ihrem Anführer wird. Stefan aus dem Siepen porträtiert diese Männer mit wenigen Sätzen, wie ein guter Zeichner mit skizzenhaften Strichen das Wesen eines Gesichts einfängt. Der Draufgänger Michael wird beispielsweise so charakterisiert: „Er liebte rasche Entschlüsse, die nie besonders klug waren, ihm auch häufig Schwierigkeiten einbrachten, dabei aber seiner Fröhlichkeit nicht schadeten.“ In seinem Stil ist der Autor so geradlinig und konsequent wie die Männer, die am Seil entlangmarschieren.

In diesem Buch befinde ich mich – einige Jahrhunderte? – vor der Zeit von Handy und Google Earth, und ich überlege zeitweise schmunzelnd, wie schnell diese Geschichte heute mit ein paar Anrufen oder einem Helikopterflug erledigt wäre. Dadurch wird der Roman nicht nur zu einem Ausflug in den Wald, sondern auch zu einer Reise in eine prädigitalisierte Zeit, in der eigentlich alles aussah wie jetzt und doch vollkommen anders war. Denn schon eine simple SMS hätte die zuhause ausharrenden Frauen erlöst, selbst wenn sie – typisch männlich – nur zum Inhalt gehabt hätte: „Geht uns gut. Kommen bald.“ Aber nein, jegliches Mittel zur Kommunikation fehlt, und so sind die Männer auf ihrem bizarren Abenteuer auf sich gestellt. Sie sind ausgezogen, um das Chaos zu beseitigen, sie können nicht zurück, ehe ihre Mission erfüllt ist – und es ist nur logisch, dass sie auf ihrer Suche noch mehr Chaos finden. Wunderbar ironisch und zugleich bitterböse ist diese absurde Geschichte, die eine unheimliche Sogwirkung auf mich ausübt. Eineinhalb Stunden lang war ich nicht im Flug München–Kopenhagen, sondern in einem mittelalterlichen Wald mit ungewaschenen, aufgeregten, kurz vor der Explosion stehenden Männern, und diese Stunden haben sich zu Tagen gedehnt, in denen wir nur marschiert sind. Und was wir am Ende gefunden haben – das würdet ihr mir nie glauben …

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein sehr gelungenes Cover, das die unheimliche Stimmung perfekt in ein Bild umsetzt.
… fürs Hirn: die Frage – wenn ich jetzt umdrehe, wie weit wäre es noch gewesen bis zum Ziel?
… fürs Herz: der Kummer der bangenden Frauen.
… fürs Gedächtnis: die geniale Idee, auf der diese Parabel beruht.

Das Seil von Stefan aus dem Siepen ist erschienen bei dtv (ISBN 978-3-423-24920-1, 180 Seiten, 14,90 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Von der Grausamkeit der Geschichte
Eigentlich, erklärt die Ich-Erzählerin, würde sie die Geschichte gar nicht aufschreiben, doch ihr Sohn Thomas Kinsman drängt sie im Jahr 1898 dazu. Und so setzt sie sich hin, taucht die Feder in die Tinte und berichtet von der jungen Julie, die in den 1820er-Jahren als Haussklavin auf einer Zuckerrohrplantage in Jamaika schuften muss. Sie ist durch einen Akt der Willkür in der Villa gelandet und muss Caroline, der dicken Schwester des Hausherrn, persönlich zu Diensten sein. Die auf die Insel verschleppten Afrikaner werden nicht wie Menschen behandelt, sondern schlechter noch als Tiere, sie sind Leibeigene, die als geistig zurückgeblieben gelten und aufs Bitterste ausgebeutet werden. Und langsam regt sich Widerstand gegen die brutale Unterdrückung – die Gewalt bricht sich auf beiden Seiten Bahn. Doch bis zur Freiheit ist es für die Sklaven ein weiter, ein ewig langer Weg, der so voller Hürden, Qualen und Hindernisse ist, dass viele von ihn sein Ende nie erreichen werden. All die Grausamkeit, die diese Menschen erfahren, bringt Ich-Erzählerin Julie – denn es ist ihre eigene Geschichte, die sie für die Nachwelt festhält – schmerzhaft auf den Punkt: „All of my bones have a voice to speak to me. Even the smallest oft them chats the language of pain.“ Und als sie nach all den Jahren der Schmerzen und des Wartens endlich frei ist, wird das Leben für Julie nicht besser …

Andrea Levy stammt von jamaikanischen Sklaven ab, ihre Eltern kamen 1948 nach England – und wurden dort aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht gerade herzlich aufgenommen. Erst in späten Jahren hat sie zum Schreiben gefunden, und ihre Romane sind wichtige, mit Preisen gekrönte Zeugnisse der Verbindung zwischen Großbritannien und seinen ehemaligen Kolonialstaaten sowie der unmenschlichen Verhaltensweisen, die Kolonialherren hier wie dort an den Tag gelegt haben. Ihr Buch Small Island hat mich vor einigen Jahren sehr beeindruckt, und so folge ich Andrea Levy in The Long Song auf eine Zuckerrohrplantage in Jamaika, um dem „langen Lied eines Lebens“ zu lauschen. Es ist heiß hier auf der Insel und es stinkt, es riecht nach verbranntem Gras, nach Durst und nach Tod. Hier wird die tiefschwarze Julie als Tochter einer bärenstarken Sklavin geboren, und schon als Baby ist sie – an den Rücken ihrer Mutter gebunden – den ganzen Tag auf dem Feld. Als Julie Haussklavin in der Villa wird, gibt sie mir Einblick in das dekadente, verfressene, vermeintlich wertvollere Leben der Plantagenbesitzer, deren Reichtum auf der Ausbeutung anderer Menschen beruht. Das Leben der „Neger“ ist ihnen weniger wert als das einer Fliege. Deshalb lassen sie sie auch wie die Fliegen sterben.

Andrea Levy sagt im dem Roman angeschlossenen Interview, sie wolle in ihren Büchern nicht urteilen. Das braucht sie auch nicht, denn das Urteil ist seit Jahrhunderten in der Geschichte festgeschrieben. Die Kolonialherren gingen in ihrer Unterdrückung mit unfassbarer Grausamkeit vor. Das Konzept, sich andere Menschen als Sklaven zu halten, ihnen alles zu nehmen, sie nach Gutdünken auszupeitschen, ihre Kinder zu verkaufen und sie hungern zu lassen, ist mir derart und so vollkommen fremd, dass ich manchmal das Gefühl habe, Science Fiction zu lesen. Ich kann, ich mag nicht glauben, dass all dies tausendfach, millionenfach geschehen ist – dass die Erde so viel Leid gesehen und so viel Blut getrunken hat. Ich lebe in einem reichen Land, und ich bin frei. Dieses Glück durchströmt mich mit jedem Herzschlag – und mit jeder Seite von The Long Song wird mir das wieder bewusst. Andrea Levy hat nicht nur etwas zu sagen, etwas anzuklagen, sie kann auch richtig gut schreiben. In den Slang der Sklaven, in ihr Pidgin-English muss ich mich erst einfinden, aber das erkennbare Muster macht das nicht allzu schwer. Dies ist ein Buch, das atmet. Es flüstert und ächzt, es weint und es blutet. Dies ist ein tieftrauriges, wunderschönes, überaus kluges Buch, das von einer Zeit erzählt, die lange vorüber ist, deren Ausläufer sich aber in zu vielen Teilen der Welt heute noch finden. Und es kann nur die Hoffnung bleiben, dass es auch einmal eine Zeit geben wird, in der alle Menschen der Welt an einem Tisch sitzen werden und jeder genug auf seinem Teller hat.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein sehr ansprechendes Cover.
… fürs Hirn: die ewige Frage, wie es sein kann, dass der Mensch seinen Brüdern Leid antut.
… fürs Herz: Julies Erzählton, der so herrlich ironisch, vermeintlich distanziert und in Wahrheit doch sehr emotional ist.
… fürs Gedächtnis: Andrea Levys Wichtigkeit als eine Autorin, die zum Leben erweckt, was nicht vergessen werden darf.

Für Gourmets: 5 Sterne

Von den Wundern einer Kindheit
“Unsere Eltern hatten uns nie von ihren Plänen, eine Frühstückspension zu eröffnen, erzählt, und nie hatten sie diesen unnatürlichen Wunsch zu erkennen gegeben, Menschen zu beherbergen, die sie normalerweise nicht ermuntern würden, unser Leben zu teilen.” Doch dann ist dieser Wunsch auf einmal da, und für Eleanor Maud Portman ändert sich alles. Sie muss nach Cornwall umziehen und ihre beste Freundin Jenny Penny zurücklassen, sie wird zum Außenseiter in der Schule und kann nur noch mit Gott, dem Kaninchen, reden. Zum Glück ist Gott ziemlich klug. Er ist für Elly fast so wichtig wie ihr großer Bruder Joe, der mit seinem Anderssein kämpft und Vorbildwirkung für seine kleine Schwester hat. Und dann wird es eigentlich ganz gut in Cornwall, denn der alte Arthur, der die ganze Welt bereist hat und täglich Yoga macht, zieht als Dauergast in die Pension ein und bringt Ginger mit, eine in die Jahre gekommene Sängerin, die Wildes erlebt und Probleme mit Gefühlsduseleien hat. Komplettiert wird die Familie von Ellys lesbischer Tante Nancy, die schon lange in Ellys Mutter verknallt ist. Als Ersten spült es Joe aus dem Haus, er beendet die Schule in London, und Elly vermisst ihn schmerzlich. Auch als die beiden erwachsen sind, bleibt ihre Bindung eng, doch Joe entgleitet Elly immer mehr: „Er war wie Ginger geworden. Man musste sein Tun interpretieren, denn es wurde selten von Worten begleitet, weil seine Welt eine stille Welt war; ein abgekoppelter, gebrochener Ort.“ All die Jahre hat Joe seine kleine Schwester unterstützt, und nun ist es an ihr, etwas zurückzugeben. Doch Elly hat keine Ahnung, wie schwer das sein wird …

Ich liebe Bücher, in denen der Protagonist ein merkwürdiges kleines Kind ist – aber nur, wenn zwei wichtige Bedingungen erfüllt sind. Erstens: Die Familie des Kindes muss verrückt sein, es muss umgeben sein von seltsamen, gerade noch glaubwürdigen Leuten, die eine Fülle an abstrusen Geschichten mitbringen. Denn einen Roman über eine ganz gewöhnliche Kindheit, in der das Aufregendste ein neuer blauer Pyjama zum zehnten Geburtstag ist, will ich nicht lesen. Umso wunderbarer, dass es in diesem Buch eine Freundin gibt, die bescheuerterweise Jenny Penny heißt, dass Gott ein Kaninchen ist und Tante Nancy in einer Soap mitspielt und sogar ein Mord geschieht. Zweitens wünsche ich mir, dass der Roman nicht schwächer wird, sobald das Protagonistenkind erwachsen wird, denn allzu oft gibt es dann einen Bruch im Erzählton, der alle Kraft verliert. Diese Schwierigkeit hat Sarah Winman in Als Gott ein Kaninchen war exzellent gemeistert. Ich mag die erwachsene Elly immer noch, auch wenn sie arg antriebs- und leblos ist, und ich mag das ganze Buch. Es ist einer jener Romane, von denen man sich verzaubern lassen kann – weil das Leben sonderbar, aber dennoch lebenswert wirkt, weil man an die eigene Kindheit erinnert wird, weil man viel schmunzeln und fast ein bisschen weinen muss und weil man letztlich das Gefühl hat, etwas über das Leben gelernt zu haben, was freilich nicht im Geringsten stimmt. Als Gott ein Kaninchen war ist wie ein Ausflug in den Vergnügungspark, wo Zuckerwatteduft und Achterbahnsausen positive Erinnerungen wecken, wo es geheimnisvolle Ecken mit magischen Tricks gibt und auch ein wenig Gefahr lauert. Es ist schön dort, ich will bei Elly bleiben, gebrannte Mandeln essen und nicht nachhause gehen. Zwar entsetzt mich eine Wendung kurz vor Schluss, doch das Ende ist genau so, wie ich es brauche, um glücklich zu sein. Es ist das vergängliche, oberflächliche Glück von Schokoladeneis und neuen Schuhen, aber Glück.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
schön gemacht, nichts daran auszusetzen.
… fürs Hirn: ach. Muss ja nicht immer.
… fürs Herz: alles, alles, alles!
… fürs Gedächtnis: mein Lieblingszitat (über Ellys Mutter): “So war sie immer: dankbar für das Leben an sich. Ihr Glas war nicht nur halbvoll, es war vergoldet, und man konnte sich immer nachschenken.”

Prost Mahlzeit: 1 Stern

Der Krieg, der Krieg, nichts als der Krieg
Marija ist in Jugoslawien geboren, lebt aber lange schon in Wien. Als sie 50 ist, stehen die Zeichen in ihrem Heimatland auf Krieg, und Marija zieht es nach Zagreb. Ihr Mann und ihre Tochter, die in den USA wohnt, haben dafür kein Verständnis, aber Marija setzt sich durch und verschwindet in der bedrohten Stadt. Während sie dort wild mit einem jungen Soldaten vögelt, erlebt der traumatisierte Polizist Ludwig absurde Situationen in Brasilien als Adjutant im Haus von Don Filipo, der einst als Fallschirmjäger im Zweiten Weltkrieg auf Seiten der Deutschen gekämpft hat. Er ist in Brasilien im Exil mit seiner jungen Frau Claudia, die sich mit Ludwig vergnügt: “Er hatte noch nie eine Frau gekannt, die ihrem Mann mit einer solchen Hingabe Hörner aufsetzte, wie sie es tat, nie eine, die so hartnäckig immer neue Varianten ersann, als gäbe es genauso viele Möglichkeiten, ihn zu betrügen, wie es die Anatomie unter Verrenkungen zuließ, und sie war dabei so laut und wollte es auch sein, daß Ludwig die ganze Zeit auf die Tür starrte und hoffte, es würde davon so wenig nach draußen dringen wie von den Schüssen aus dem Raum nebenan.” Und Don Filipo ist Marijas Vater. Sie glaubt ihn tot, seit sie ein kleines Mädchen war, und hat doch nie aufgehört, auf ihn zu warten: „ (…) ein Warten, das längst nicht mehr das Warten auf ihren Vater war, sondern ein Warten darauf, daß etwas passieren würde, das ihr Leben endlich in Schwung brachte, während sie gleichzeitig nichts mehr fürchtete, als aus ihrem verträumt abwesenden Zustand herausgerissen zu werden.“ In Zagreb, das jederzeit explodieren könnte, findet Marija sozusagen Minuten vor dem Krieg heraus, dass ihr Vater lebt. Und dass er sie sucht.

Norbert Gstrein ist ein mit Preisen bedachter österreichischer Autor, von dem mir derart viel vorgeschwärmt wurde, dass ich mich entschlossen habe, einen seiner Romane zu lesen. Die Winter im Süden handelt von einer Frau und einem Mann, die nichts miteinander zu tun haben und abwechselnd erzählen, von einem Alten, der ein Kriegsfanat ist und noch mal kämpfen will, dieses Mal in Kroatien, und von einem Land, das an jenem Punkt ist, kurz bevor alles überkocht. Norbert Gstrein fackelt nicht lange herum, seine Sätze sind klar, logisch, geradeheraus und wirklichkeitsnah. Anfangs lasse ich mich gefangen nehmen von den Geschichten dieser Menschen, von denen keiner weiß, was er will und wo er es bekommen soll, doch dann merke ich von Seite zu Seite, wie ich aus dem Buch herausrutsche, als säße ich auf einem eisigen Hang. Meine Aufmerksamkeit nimmt ab, mein Unwille nimmt zu, denn es geht um den Krieg, den Krieg, nichts als den Krieg – jenen, der vorbei ist, und jenen, der beginnt – und das ist in Ordnung, doch in diesem Fall langweilt es mich. Aber dafür schäme ich mich, denn was könnte wichtiger sein als das Zuhören und das Erinnern, ich kämpfe mich weiter durch den Roman. Aber weder zu Ludwig noch zu Marija finde ich Zugang, beide Protagonisten bleiben blutleer für mich, ich nehme sie nur in ihren Handlungen wahr und in den Reaktionen der anderen darauf. Immer noch weigere ich mich, mir einzugestehen, dass das Buch mir so fremd bleibt wie die Ereignisse darin, weil man ein derart gepriesenes Buch doch gut finden muss, doch dann kommt das Ende. All die Energie, die sich aufgestaut hat, die ganze Erwartungshaltung, die der Autor aufgebaut hat, verpufft. Und übrig bleibt nichts. Außer mein Gähnen.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
man muss genau hinschauen, das Foto ist toll!
… fürs Hirn: viel altes, gefährliches, nie vergrabenes Gedankengut.
… fürs Herz: nichts, nichts, nichts.
… fürs Gedächtnis: das persönliche Versagen, wieder mal an vermeintlich großer Literatur gescheitert zu sein.

Bücherwurmloch

Grimm & Co. in 160 Zeichen
Vor einiger Zeit habe ich einen Zeitungsartikel über die Bibel und ihre neue Erscheinungsform geschrieben: Sie wurde nämlich getwittert. Das war verrückt und womöglich blasphemisch, aber ich vertrete die Einstellung, dass es gut ist, wenn überhaupt gelesen wird. Und ich kenne als (wenig ins Historische verliebte) Linguistin das Begehren nicht, alte Sprachzustände zu erhalten, denn Sprache ist lebendig und immer in Bewegung. Deshalb finde ich es originell, wenn die Bibel getwittert wird. Und ich finde es lustig, wenn die berühmten Grimm’schen Märchen aus dem beginnenden 19. Jahrhundert 200 Jahre später in nur 160 Zeichen erzählt werden – wie in einer SMS. Dieses Sprachexperiment hat nun der Italiener Fabian Negrin gewagt – und Rosemarie Griebel-Kruip hat seine Märchen verblüffend genial ins Deutsche übertragen. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie das aussehen soll? Ich zeige es euch:

Fabian Negrin hat auch eigene SMS-Märchen kreiert und die Mini-Kurzgeschichten mit sehr schönen Scherenschnitt- bzw. Schattenriss-Illustrationen geschmückt. Die Idee für das Buch hatte er angeblich auf einer Zugfahrt, auf der er seiner Freundin seine kreativen Einfälle per Handy schickte. Sie mussten somit in das Format einer SMS passen. Und das Witzige daran ist: Die Märchen funktionieren. Sie sind extrem kurz, aber sie erzählen dennoch eine Geschichte. Nicht immer die Geschichte, die wir aus unserer Kindheit kennen. Aber umso besser. Mehr Geschichten braucht das Land! Auch, wenn sie nur 160 Zeichen haben. Und wenn ihr der Meinung seid, dass ihr das auch so gut könnt wie Fabian Negrin, schickt doch einfach eine SMS mit eurem 160-Zeichen-Märchen an den Verlag unter 0049/172/140 47 36. Als Antwort bekommt ihr ein 14. Märchen gratis, die schönsten Märchen werden außerdem auf der Website vorgestellt. Euer Märchen könnt ihr natürlich auch auf Facebook posten: www.facebook.com/smsmaerchen.

Gewinnen, gewinnen!

Wer kein Märchen schreiben, aber trotzdem etwas gewinnen will, der errät einfach, welches das oben gezeigte Märchen ist. Schreibt mir eine Nachricht an buecherwurmloch@hotmail.com oder unter www.facebook.com/buecherwurmloch! Einsendeschluss ist der 31. Mai 2012, der Gewinner wird per Zufall ermittelt. Und was es zu gewinnen gibt? Natürlich ein nagelneues Exemplar der SMS-Märchen! Das andere hat sich schon mein Sohnemann geschnappt. Viel Glück!

SMS Märchen von Fabian Negrin ist erschienen im mixtvision Verlag, der schöne Kinderbücher publiziert (ISBN 978-3-939435-44-0, 36 Seiten, 13,90 Euro).

Für Gourmets: 5 Sterne

Der Feind im eigenen Inneren
„Heute ist jedoch ein schöner Tag im Februar, halb drei Uhr nachmittags, und ich bin gerade geschieden worden.“ Das stimmt die junge Künstlerin Sofia fröhlich, denn ihr Ex-Ehemann Nicola leidet an Depressionen, und das Leben mit ihm war über die Maßen anstrengend. Sofia fühlt sich befreit, widmet sich wieder ihren Bildern und Fotografien, und lernt bald gleich zwei neue Männer kennen: den charmanten Arturo und den verheirateten Marcello. Mit beiden beginnt Sofia eine Affäre, und für eine Weile scheint es so, als könnte sie sich entspannt zurücklehnen und ihr Leben genießen. Doch dann wird die Dreiecksbeziehung immer mehr zur Belastung, denn sowohl Arturo als auch Marcello sind labil, wenn nicht gar depressiv, sie verlangen extrem viel Aufmerksamkeit. Von ihrem Vater kann Sofia kaum Unterstützung erwarten, er treibt auf dem offenen Meer, stets auf der Suche nach dem nächsten Hai, mit dem er tauchen kann. „Mein Vater ist ein fröhlicher Mensch. Man sieht es an seinen Falten, die ihm die Sonne und nicht der Kummer eingeritzt hat. Er hat den Dämon außerhalb seiner selbst gefunden.“ Regelmäßig schickt er Sofia ein Video von den Haien und erzählt ihr das Neueste. Das hilft ihr jedoch wenig, als es ihr wegen Arturo und Marcello, die beide an ihr herumzerren, immer schlechter geht: „Mit meiner spitzen Zunge halte ich alle in Schach und fühle mich trotzdem völlig ausgeliefert.“ Die Depression zieht sich wie ein roter Faden durch Sofias Leben: Auch ihre Mutter litt daran. Als Sofia nun anfängt, die Briefe ihrer Mutter zu lesen, verliert sie endgültig das Gleichgewicht …

Caterina Bonvicini thematisiert in ihrem Roman Das Gleichgewicht der Haie, für den sie mit Preisen bedacht wurde, die gespenstische Krankheit Depression. Ihre Ich-Erzählerin, die junge Sofia, ist umgeben von Menschen, die depressiv sind oder es zumindest glauben – und sie schafft es irgendwann nicht mehr, mit Mut und Lebensfreude dagegenzuhalten. In einer eindrucksvollen, sehr lebendigen und klaren Sprache erzählt die Autorin von den Formen und Auswirkungen der Depression. Sie schreckt vor direkten Aussagen und krassen Situationen nicht zurück, hat doch diese Krankheit etwas sehr Endgültiges, das alle, die mit ihr in Berührung kommen, hilflos macht. Ich habe bereits viele italienische Romane gelesen – vor allem beruflich – und bin immer wieder verblüfft, wie gern die vermeintlich so lebenslustigen und lässigen Italiener sich in der Literatur mit Traurigkeit und Selbstmord beschäftigen und welch melancholischen Erzählton sie dabei anschlagen. Immer schimmert aber eine sehr gefasste So-ist-das-Leben-eben-Einstellung durch. Das ist auch im vorliegenden Buch der Fall.

Mir ist der Roman fast ein bisschen zu angefüllt mit depressiven Menschen; die unbekümmerte Fröhlichkeit von Sofias durchgeknalltem Vater ist da zwischendurch eine Wohltat. Insgesamt hat mich Caterina Bonvicini mit ihrer gelungenen Mischung aus Sofias Perspektive, den Kommentaren des Vaters, der stets Parallelen zwischen Haien und Menschen aufzeigt, und den aufschlussreichen Briefen der Mutter sehr für dieses Buch eingenommen. Das Gleichgewicht der Haie ist vielseitig und komplex, sehr klug, trotz der übergroßen Menge an Kranken einigermaßen glaubwürdig und zudem richtig gut geschrieben. Es gefällt mir, dass Caterina Bonvicini durch Sofias Mund nicht lange um den heißen Brei herumredet, sondern jede Regung sehr deutlich zur Sprache bringt. Das geschieht auch in den – nach italienischer Art – hitzigen Dialogen, die sich auf diese Weise niemals zwischen zwei Menschen in unseren Breiten entspinnen könnten. Dieser Roman ist somit eine lesenswerte Auseinandersetzung mit einer übermächtigen Krankheit, das ausdrucksstarke Porträt einer jungen Frau – und ein Einblick in die italienische Seele.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein sehr schlichtes, logische, auch ein bisschen langweiliges Cover.
… fürs Hirn: der Versuch, Depression zu verstehen. Irgendwie. Wenigstens ansatzweise.
… fürs Herz: auf jeden Fall Sofia und ihr Kampf um das Gleichgewicht.
… fürs Gedächtnis: Sofias Vater und seine interessante Darstellung der Haie.

Prost Mahlzeit: 1 Stern

Ringelreia in einem grönländischen Dorf
Der dänische Krankenpfleger Jesper kommt für ein Jahr in die Krankenstation eines kleinen Dorfs am östlichen Rand Grönlands. Er leitet sie zusammen mit einer Krankenschwester, einen Arzt gibt es nicht. Angesichts der Probleme ist Jesper oft hilflos: In Grönland stirbt man schnell. Man stirbt an einer Eileiterschwangerschaft, an einer Kopfverletzung, an einer Lungenentzündung – weil niemand da ist, der operieren kann; weil der dänische Hubschrauber wegen eines Sturms nicht fliegen kann. Jesper versucht sich mit Frauen abzulenken. Ob verheiratet oder nicht, spielt dabei keine Rolle, denn die Grönländer nehmen es mit der Treue überhaupt nicht genau. Sie spielen gern Karten, sitzen auf dem Boden und essen vergorenes Robbenfleisch. Das Leben ist beschwerlich, es ist kalt, stürmisch und dunkel, die Laune ist nicht immer die beste, Komfort sucht man vergebens. Und so vertreiben sich die Grönländer so gut es geht die Zeit, hier an diesem Ort, den man das Ende der Welt nennen könnte, wäre die Erde nicht rund.

“Die Handlung dieses Buches könnte sich in nahezu jeder der sechzig übrigen Siedlungen Grönlands abspielen, denn die Stimmung ist immer die gleiche: die Nähe zum Meer, die Gemütsschwankungen, die parallel zum Wetterwechsel verlaufen, die Schlepperei beim Beschaffen von Wasser und Heizöl, das Gefühl der Ausgesetztheit, Geborgenheit, Sorge, Vertrautheit”, schreibt der dänische Autor Kim Leine über sein Buch Die Untreue der Grönländer.Er stellt darin in einer Art „interlinking short stories“ ein grönländisches Dorf anhand seiner einzelnen Bewohner vor. Jedes Kapitel ist einem anderen Menschen gewidmet, aber sie gehören zusammen, erwähnen einander in ihren persönlichen Geschichten, weil sie Haus an Haus leben – und es gar nicht viele Häuser gibt in dieser Gegend. Die Bezugsperson im Buch, die alles locker zusammenhält, ist der Krankenpfleger Jesper, der aus Dänemark für ein Jahr nach Grönland kommt. Es ist möglich, dass Die Untreue der Grönländer für viele Leser ein interessanter Roman ist – aber mir ist es nicht gut ergangen damit.

Mich haben der Titel und die Aussicht, etwas über die Lebensart der Grönländer zu erfahren, angezogen, doch das Buch hat mich trotz der ersehnten Informationen über Grönlands Einwohner gelangweilt. Das liegt vielleicht daran, dass in Grönland nicht viel passiert und dass es irgendwann nicht mehr so aufregend ist, wenn jeder mit jedem ins Bett geht. Ich hatte zudem meine Schwierigkeiten damit, mich bei jedem Kapitel auf eine neue Persönlichkeit einzulassen, deren Schicksal dem der anderen immer irgendwie ähnelt. Kim Leines Erzählton konnte mich einfach nicht fesseln, aber nicht einmal das kann ich an einem konkreten Beispiel festmachen – im Gegenteil, denn einige Sätze haben mir außerordentlich gut gefallen, sie beweisen Kim Leines Schreibtalent: „Ein dänischer Vater oder Großvater hat ihre Haut gebleicht, einige Sommersprossen über die Nase verstreut und ihr diesen hellen, nebligen Schimmer in die Augen gelegt“ gehört dazu, genau wie: „Wenn er etwas sagen will, kommen die Wörter viel zu schnell angestürmt, wie panische Bewohner eines brennenden Hauses, die alle auf einmal hinausstürzen und die Tür blockieren.“ Das waren Satzperlen, nur gab es leider zu wenig davon. Und inhaltlich hat mich der sexuelle Ringelreia-Reigen der Grönländer auch nicht überzeugt. Letztlich lässt es sich vielleicht so ausdrücken: Ich konnte einfach keine Geduld für diesen Roman aufbringen. Aber ich wünsche anderen Lesern, dass sie es können.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein gut gemachtes, originelles Cover. Der Titel ist Programm!
… fürs Hirn: der Gedanke: Alter Schwede, dort würde ich nie leben wollen.
… fürs Herz: die eine oder andere Liebschaft im grönländischen Dorf.
… fürs Gedächtnis: mein seltsamer Unwille diesem sperrigen Buch gegenüber.

Netter Versuch: 2 Sterne

Drama pur im Russland des letzten Zaren
Georgi ist der Sohn eines Bauern in einem winzigen russischen Dorf. Im Jahr 1915 ist er 16 und verhindert – eigentlich ohne Absicht – ein Attentat auf einen Verwandten von Zar Nikolaus II. Zum Dank wird er nach St. Petersburg gebracht und zum Leibwächter des jungen Zahrensohnes ernannt. Georgis Leben ändert sich radikal: Gerade musste er noch hungern und auf dem Lehmboden schlafen, jetzt wohnt er in einem Palast, macht Ausflüge auf der Jacht, flaniert durch den Park und hat reichlich zu essen. Mit dem kleinen Zarewitsch freundet er sich an, an dessen Schwester Anastasia verliert er sein Herz. Und Georgi kann all sein Glück kaum fassen: Anastasie liebt ihn ebenfalls. Doch die Zeiten sind gefährlich für die Zarenfamilie – und Georgi. Viele Jahrzehnte später ist Georgi über 80 und lebt seit Langem mit seiner Frau Soja in London. Und er denkt zurück an alles, was damals in Russland geschehen ist …

Um die ermordete Zarenfamilie rund um Nikolaus II. ranken sich viele Legenden und Mythen. Mit 13 Jahren habe ich eine faszinierende Biografie über die Romanows gelesen, deren Knochen damals gerade erst offiziell entdeckt und bestattet worden waren, und einiges über die russische Revolution gelernt. John Boyne, der mit dem Jungen im gestreiften Pyjama Weltruhm erlangt hat, versetzt seinen Ich-Erzähler Georgi direkt zurück in die Zeit des Ersten Weltkriegs und der Unruhen in Russland: Er erweckt das Jahr 1915 und den längst verblassten Glanz von St. Petersburg zum Leben. Sein Georgi ist in der Gegenwart ein alter Mann, sehr ruhig, bedächtig, einer, der viel erlebt und alles überlebt hat. So viel wissen wir also von Anfang an. Nun stirbt seine geliebte Frau Soja, die stets an seiner Seite war, und Georgi ist erschüttert. Schrittweise gibt er Jahr für Jahr seiner Erinnerungen preis, bis zu jenem Punkt, an dem mit der Ermordung der Zarenfamilie alles zusammenläuft. Das Haus zur besonderen Verwendung ist ein angenehmes, mäßig spannendes, manchmal etwas langatmiges Buch, das mir gefallen, mich aber nicht begeistert hat. Ich mag die Figuren, weiß aber – da die Ereignisse von 1918 hinlänglich bekannt sind – zu viel über ihr ausstehendes Schicksal, als dass ich richtig mitfiebern und in ihre Geschichte eintauchen könnte. Zudem muss ich oft daran denken, dass sogar Walt Disney sich des Anastasia-Stoffs angenommen hat, und das ist mir alles zu lieblich, zu überdramatisiert, zu kitschig. Ich glaube, dass John Boyne ein guter Autor ist, ich aber sein schlechtestes Buch erwischt habe.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein Cover, das Sinn macht.
… fürs Hirn: Geschichtsunterricht mit inkludierter Lovestory!
… fürs Herz: sehr viel Pathos.
… fürs Gedächtnis: nicht viel.