Gut und sättigend: 3 Sterne

Zu Besuch bei einem sizilianischen Freund
Commissario Salvatore Montalbano hat ein wunderschönes Haus direkt am Strand der fiktiven Stadt Vigàta in Sizilien. Weniger schön ist, dass da eines Morgens ein zu Tode geprügeltes Rennpferd liegt. Noch bevor der Commissario dieses Rätsel jedoch genauer untersuchen kann, ist der blutige Kadaver auch schon wieder verschwunden. Dafür taucht die äußerst attraktive Reiterin Rachele auf, die ihr wertvolles Pferd vermisst und dem Commissario schöne Augen macht. Eifersüchtig reagiert da Montalbanos Bekannte Ingrid, und seine Freundin Livia darf nicht einmal Wind davon bekommen, dass ihr Salvo zum verwirrten Zielobjekt weiblicher Begierden geworden ist. Wenigstens behält der Commissario den Überblick in Sachen Pferdemord – denn wie sich herausstellt, sind gleich zwei Pferde verschwunden, und da die Geschichte in Sizilien spielt, ist die Mafia natürlich auch nicht weit …

Mit Die Spur des Fuchses – in diesem Fall ein Pferd – habe ich meinen alten Freund Montalbano im wunderschönen Sizilien besucht. Es gab eine Zeit, da kannte ich ihn gut und verfolgte in meiner heißen Krimiphase vor etwa 10 Jahren all seine spannend-kuriosen Fälle. Andrea Camilleri gehört zu den wenigen Autoren, von denen ich nicht nur mehr als eins oder zwei, sondern sogar mehr als fünf Bücher gelesen habe, manche davon sogar im Original, wo sie freilich noch weitaus lustiger sind. Irgendwann hab ich mich von ihm und Krimis generell ab- und anderen Schriftstellern zugewendet. Als ich nun Montalbanos zwölfte Geschichte in der Buchhandlung liegen sah, bekam ich große Lust auf einen Kurzurlaub im herrlichen Sizilien. Also klopfte ich bei Salvo an, und wir verstanden uns auf Anhieb wieder so gut wie früher. Ich amüsierte mich über seinen unvergleichlichen Grant: „Jedenfalls glaube ich, dass der Vertrotteltere von uns beiden ganz zweifellos Sie sind“ und schüttelte lachend den Kopf über seinen tollpatschigen Umgang mit Frauen. Ich stand ihm bei der Suche nach des Rätsels Lösung zur Seite und genoss mit ihm die grandiosen Köstlichkeiten aus dem Meer: Krebse, Garnelen, geräucherten Thunfisch, Tintenfische in Orangenmarinade, Carpaccio vom Schwerfisch … hmmm. Dann verabschiedete ich mich und schloss hochzufrieden das Buch. Vielleicht sehe ich den alten Salvo ja mal wieder. Und nach Sizilien muss ich wirklich unbedingt …

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein garstiges Cover, wenigstens ein Pferd wäre schön gewesen.
… fürs Hirn: von den literarischen Ermittlern, die ich kenne, ist Montalbano für mich der sympathischste.
… fürs Herz: ans Herz ist Salvo mir schon vor vielen Jahren gewachsen.
… fürs Gedächtnis: die vielen schönen Erinnerungen an meine literarischen Erlebnisse in Sizilien. Und der Gedanke, dass ich mich nicht so dagegen sträuben sollte, mal wieder ein Buch eines Autors zu lesen, mit dem ich etwas verbinde.

Gut und sättigend: 3 Sterne

„Erinnerungen sind eine Art Hafen, und vielleicht sind sie auch das Einzige, was wirklich uns gehört“
„Mein Sexualleben gleicht einem schwedischen Kinofilm. Manchmal sogar ohne Untertitel.“ Und das ist nicht das einzige Problem des jungen Ich-Erzählers: Vielmehr raubt ihm der Tod den Großvater und versetzt ihm damit einen Schock. Die Großmutter wird ins Altersheim verfrachtet, wo sie unglücklich ist, und ihr Enkel tut sein Bestes, um sie so oft wie möglich zu besuchen. Allerdings ist er tagsüber eigentlich mit Schlafen beschäftigt, weil er nachts an einer Hotelrezeption arbeitet. Das tut er nur in der Hoffnung, von der nächtlichen Arbeit zu schriftstellerischen Höchstleistungen inspiriert zu werden, denn er möchte als Autor tätig sein. Doch daraus wird vorerst nichts, denn als seine Großmutter aus dem Altersheim verschwindet, muss er sie suchen – und findet dabei nicht nur einen Weg in ihre Vergangenheit, sondern trifft auch eine Frau, in die er sich auf der Stelle verliebt …

Ich habe David Foenkinos schon vor einigen Jahren mit dem Buch Das erotische Potential meiner Frau kennengelernt, war damals aber nicht sprachlos vor Begeisterung. So erging es mir dann jedoch mit Nathalie küsst, das ich 2011 im Zuge meiner Jurybeteiligung für den Buchpreis der Mayerschen Buchhandlung lesen durfte und das ja mittlerweile mit Audrey Tatou verfilmt wurde. Dieses Buch hat mich mit seiner Leichtigkeit und Fröhlichkeit verzaubert. Dann kam Souvenirs – und mit Souvenirs ist es schwierig. Weil es ein bisschen was vom Zauber, aber auch einiges von der Enttäuschung für mich hat, die ich mit David Foenkinos schon erlebt habe. Der französische Bestsellerautor nimmt mich mit seinem neuesten Roman mit auf einen Spaziergang durch eine herbstliche Landschaft, die noch von den letzten goldenen Strahlen des Sommers durchzogen ist. Die Blätter fallen langsam durch die Luft und symbolisieren die Vergänglichkeit des Lebens – die Natur legt sich zur Ruhe wie der Großvater des Protagonisten. Es geht um Abschiede und Verlust, um das Wissen, dass nichts von Bestand sein kann und alles sich immer im Fluss befindet – was bedeutet, dass niemand ewig lebt. Ich streife durch die Wiesen, die im Schatten versinken, und erinnere mich an den Sommer, an das Leben, wenn man jung ist und voller Zuversicht. Denn die Souvenirs sind abgespeichert im Kopf und im Herzen, es sind die Erinnerungen, die als Einziges bleiben, wenn alles andere verschwindet. David Foenkinos will mir klarmachen, dass ich wertschätzen soll, was mir wichtig ist – meine Familie, meine Erlebnisse –, weil alles davon jederzeit fort sein kann.

In diesem Sinne ist Souvenirs ein sehr trauriges und sentimentales Buch. Es berichtet vom Übergang von der alten zur jüngsten Generation, vom Sterben, Erinnern und Nach-dem-eigenen-Weg-Suchen. David Foenkinos schreibt wie gewohnt flüssig, klug und gewitzt und überrascht mich mit amüsanten, themenfremden kleinen Einschüben, die nicht ganz so originell sind wie bei Nathalie küsst, die ich aber trotzdem grandios finde. Sie bringen mir Interessantes über die Romanfiguren, aber auch über Presönlichkeiten wie Francis Scott Fitzgerald oder Serge Gainsbourg näher. Inhaltlich kann ich mich jedoch nicht so richtig festhalten an diesem Buch. Ich fühle mich auf meinem Spaziergang seltsam verloren, und als metaphorisch gesehen der Winter beginnt, bricht die Realität mit ihrem tausendfach dargestellten Alltag herein und erzählt mir Trostloses: dass Menschen depressiv werden, weil sie ihr Leben nicht ertragen, dass Träume sich verflüchtigen und dass die Liebe niemals bleiben kann. Desillusioniert und alles andere als verzaubert stehe ich da – die Sonne ist untergegangen, Nebel zieht auf, und mir ist kalt. Natürlich hat David Foenkinos Recht damit, was er mir auf so berührende, eindrucksvolle und emotionale Weise zeigt. Alles, was er sagt, stimmt: Der Lebensabend kommt für uns alle, ebenso wie der Tod. Aber ich vermisse etwas. Eine einzelne blaue Blume, die dem Wind trotzt. Ein letztes optimistisches Lächeln. Eine Erinnerung.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
das Cover passt von der Gestaltung her zum Vorgängerroman bei C. H. Beck, sehr sanfte Töne.
… fürs Hirn: das stets präsente Wissen um die Vergänglichkeit.
… fürs Herz: ach, alles, weil es uns Menschen immer so wehtut, jemanden gehen zu lassen, den wir lieben.
… fürs Gedächtnis:die Hoffnung, die ganz vorsichtig immer wieder um die Ecke lugt.

Souvenirs von David Foenkinos ist erschienen im C. H. Beck Verlag (ISBN 978-3-406-63947-0, 333 Seiten, 17,95 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Zwei Seelen wohnen – ach! – in diesem Buch
Dora und Luka lernen sich kennen, als sie zwei und er fünf Jahre alt ist: Die Begegnung ist so erschütternd, dass Luka ohnmächtig wird. Von diesem Tag an sind sie unzertrennlich, sie treffen sich an einem geheimen Felsen an der Küste ihres Heimatorts Makarska in Kroatien, sie beobachten die Wolken und verstehen einander mit Blicken. Die Luft verändert sich, wenn die beiden zusammen sind, und alle bemerken es. Doch dann greift das Schicksal in Form von Doras Eltern ein: Sie ziehen mit ihrer Tochter nach Paris. Der Schock betäubt Dora und Luka für Jahre, beide vermissen einander so sehr, dass sie den Schmerz tief in ihrem Inneren vergraben – zusammen mit der Erinnerung. An den Felsen, an die Wolken, an den Geruch des Meeres. Bis zu einem denkwürdigen Tag 16 Jahre später, als das Leben sich wieder gnädig mit Dora und Luka zeigt und sie in Paris erneut zusammenbringt. Doch diese Laune des Schicksals hält nur drei Monate, bevor sie erneut umschlägt und Dora und Luka sich widrigen Umständen gegenübersehen, die ein Zusammensein verhindern. Das ist schlimm. Aber schlimmer noch ist: dass die Liebe nicht aufhört.

Nataša Dragnić, die selbst in Split geboren ist und in Deutschland lebt, hat mit Jeden Tag, jede Stunde einen sehr dramatischen Liebesroman geschrieben. So groß ist die Liebe zwischen Dora und Luka, dass Luka regelmäßig sprichwörtlich die Luft wegbleibt und sogar ich mich schon ein bisschen erdrückt fühle. Als die beiden noch Kinder sind, ist ihr Umgang miteinander spielerisch und geschwisterlich, doch selbst da ist ihre Liebe schon schwer wie ein Anker. Niemals hätte jemand die beiden trennen sollen, denn sie können ohne einander zwar existieren, aber nicht zufrieden sein. Schon früh entdecken beide ihr jeweiliges Talent und machen daraus später ihre Berufe: Luka hat Erfolg als Maler, Dora wird eine großartige Schauspielerin. Alles fällt ihnen leicht, und alles scheint vorgezeichnet zu sein: wer sie sind, und dass sie zusammensein müssen. Doch Nataša Dragnić macht es ihren Protagonisten alles andere als einfach.

Die Autorin arbeitet sehr stark mit dem Stilmittel der Wiederholung. Das mag ich prinzipiell sehr, ist mir im vorliegenden Fall aber einfach zu viel. Genau wie die ständige Betonung darauf, wie übermächtig und bedeutend diese Liebe ist, wie viel Pathos – gewürzt mit Gedichten von Pablo Neruda – und Ausweglosigkeit in ihr stecken. Ihre ganze schriftstellerische Kraft gebraucht Nataša Dragnić, um mir klarzumachen, dass Dora und Luka Seelenverwandte sind. Ich bin auch eine Zeitlang geneigt, ihr das zu glauben, doch mir kommen Zweifel, als sich herauskristallisiert, dass eine sooo gewichtige Liebe sooo banale Hindernisse nicht überwinden kann. Dora und Luka verhalten sich ab einem gewissen Zeitpunkt derart konträr zu ihren angeblich so großen Gefühlen, dass ihre Beziehung zeitweise zu einer reinen Bettgeschichte degradiert wird. Das ist nicht schön. Und als eine unerwartete Wahrheit ans Licht kommt, fühle ich mich – wie Luka – doch ein bisschen verarscht. Trotzdem sonne ich mich während des Lesens in den funkelnden Strahlen, die von dieser Liebesgeschichte ausgehen. Die Leichtigkeit, die manchmal zwischen Dora und Luka liegt, passt zu meiner Urlaubsstimmung, denn ich habe diesen Roman am Strand von Kroatien gelesen, wo ich mir den Felsen der beiden und ihre Wolkenbilder gut ausmalen konnte. Meine Zuneigung galt diesem besonderen Paar, dem die Autorin so viel Hoffnung gibt und dem sie dann so übel mitspielt. Sie kann wunderbar schreiben, und ihr Stil hat mir sehr zugesagt. Aber ich hätte mir einfach mehr Übereinstimmung zwischen der Größe der Liebe und ihrer Lebbarkeit gewünscht. Deshalb endet Jeden Tag, jede Stunde in meinem Kopf ganz anders.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
das Cover gefällt mir gar nicht, das Foto ist auf merkwürdige Weise angeschnitten und zeigt nur eine Frau statt ein Paar. Der Titel stammt aus einem Gedicht von Pablo Neruda.
… fürs Hirn: ich kann nicht glauben, dass eine Liebe, die zu Ohnmachtsanfällen führt, gesellschaftliche Konventionen nicht besiegen kann.
… fürs Herz: eine Achterbahn der Gefühle. Um es mit Goethe zu sagen: himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt.
… fürs Gedächtnis:das andere Ende in meiner Fantasie.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Eine Stadt, eine Zeitung und elf interessante Persönlichkeiten
1953 gründet der reiche Investor Cyrus Ott eine englische Tageszeitung in Rom. Es beginnt eine Zeit des Erfolgs, die jedoch über 50 Jahre später ihr Ende findet, das vor allem dem Generationenwechsel bei den Otts sowie fehlenden Investitionen geschuldet ist. Diese Veränderung ist ein großer Einschnitt im Leben der Menschen, die diese Zeitung seit vielen Jahren jeden Tag produzieren. Zu ihnen gehört die Textredakteurin Ruby, die ihren Job hasst und ihr Leben auch. Erfüllung in seinem Beruf findet dagegen nach einem schweren Schicksalsschlag Arthur, der früher nur die Nachrufe schrieb. Chefredakteurin Kathleen begegnet in Rom einer alten Liebe und erhält Gewissheit, dass ihr Mann sich eine außereheliche Affäre gönnt. Kein glückliches Händchen in Liebesdingen hat die Wirtschaftsreporterin Hardy. Und Paris-Korrespondent Lloyd muss sich nach Jahrzehnten als gefragter Reporter eingestehen, dass er zum alten Eisen gehört. Schließlich kommt der Tag, an dem die Druckerpressen stillstehen und sich die Wege der Redakteure für immer trennen.

In elf kurzen Geschichten porträtiert Bestsellerautor Tom Rachman verschiedene Charaktere, zeigt sie in ihrer Funktion bei der namenlosen Zeitung genauso wie in ihrem Privatleben. Die Zeitung ist die Klammer, die all diese Menschen zusammenhält, jeder ist ein Rädchen bei der täglichen Zusammenstellung der wichtigsten Nachrichten. Am Ende eines jeden Kapitels erzählt Tom Rachman in knappen Episoden von Cyrus Ott, dem Gründer der Zeitung, und deren langsamen Niedergang. Diese Einblicke in die Vergangenheit hätten für mich ruhig umfassender ausfallen können, damit die Geschichte mehr Fundament bekommt. Tom Rachman hat sich jedoch – zu Recht – dafür entschieden, anhand der Menschen über Entstehung und Herstellung einer Tageszeitung zu berichten, was dem Roman natürlich viel Leben einhaucht. Es geht sehr wohl um Meldungen, um den Zeitdruck vor dem Redaktionsschluss, um den Kampf gegen das Internet und für Abonnenten – aber all das spielt sich im Alltag, im Hintergrund ab und beeinflusst Tom Rachmans Figuren nur während der Arbeitszeit. Sie führen jedoch ein von ihren Jobs unabhängiges Leben, das beim einen erfüllter und glücklicher ist als beim anderen.

Beim Schreiben hält Tom Rachman einen kleinen Scheinwerfer in der Hand, den er nacheinander auf seine Charaktere richtet. Verstohlen folge ich ihm, um einen Blick in deren Schlafzimmer und Herzen zu werfen. Das auf ewig imposante Rom bildet dabei die Kulisse, mit der ich selbst viele liebe Erinnerungen verbinde. So geht es mir auch mit dem Redaktionsleben, das ich aus meinen fast drei Jahren als Korrektorin bei einer großen österreichischen Tageszeitung kenne und dessen Beschreibung mir öfters ein Lächeln entlockt. Eher unzufrieden bin ich allerdings mit Tom Rachmans eher dünner Erklärung für die Beweggründe, die Cyrus Ott dazu bewogen haben, seine Familie in Amerika zurückzulassen und dauerhaft – der Zeitung wegen – in Rom zu bleiben. Viele Seiten lang hab ich sehr gespannt auf diese Erklärung gewartet, aber als sie dann kam, warf sie für mich Fragen auf, die unbeantwortet blieben. Trotz dieser minimalen Enttäuschung hat Die Unperfekten mich gut unterhalten, informiert und begeistert.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein Cover, an dem es nichts auszusetzen gibt.
… fürs Hirn: die Infos darüber, wie eine Zeitung gemacht wird.
… fürs Herz: die vielen kleinen Details, die zusammengesetzt die verschiedenen fiktiven Schicksale ergeben.
… fürs Gedächtnis: das amüsanteste Zitat mit der originellsten Metapher: “Sie hat heute ein ganz anderes Gesicht, unter matter Pfirsichtönung, dazu orangeroter Lippenstift, Eyelinerbalken um die Augen und die grüne Wimperntusche so dick aufgetragen, dass man beim Augenzwinkern denkt, ein Frosch verhakt seine Zehen.”

Gut und sättigend: 3 Sterne

„I live in a strange place in the world. I live in the space in between people”
Budo ist ein erfundener Freund, und er ist schon seit fünf Jahren am Leben. Das ist ein hohes Alter in der Welt der imaginären Freunde, von denen manche nur ein paar Tage oder Wochen leben – solange sie eben von dem Kind benötigt werden, das sich den Freund erdacht hat. Budo ist der Freund von Max, und der braucht ihn sehr. Denn das Leben ist ein bisschen schwierig für Max, weil er mit Menschen nicht gut umgehen kann, weil er sie oft nicht versteht und spezielle Lernhilfen braucht. Und weil niemand ihn mag. Budo hatte das Glück, dass Max ihn sich wie einen Menschen vorgestellt hat, denn oft sehen die imaginären Freunde aus wie ein Kuscheltier oder ein Löffel, und ihnen fehlen wichtige Gliedmaßen. Inzwischen kennt er sich aus in der Welt der Menschen und weiß, dass nur Max ihn sehen und hören kann. Das stört ihn für gewöhnlich nicht, doch es wird zum Problem, als Max in große Gefahr gerät und nur Budo weiß, was ihm zugestoßen ist. Denn er kann es niemandem sagen und muss seinen ganzen Grips aufwenden, um Max zu helfen …

Matthew Green hat eine sehr traurige, abenteuerliche und amüsante Geschichte über einen kleinen Jungen geschrieben, den es gar nicht gibt. Budo kann die Welt nur betrachten und nicht an ihren Geschehnissen teilhaben. Anfangs verstand er nicht, warum niemand mit ihm sprach, wünschte sich liebevolle Eltern und hatte Angst davor, wieder zu verschwinden, sobald Max ihn nicht mehr brauchen würde. Was er mittlerweile über das Leben als imaginärer Freund weiß, gibt er an Kollegen weiter, wenn er zufällig welche trifft, damit sie nicht so einsam sind. Budo ist klüger als Max und hilft ihm durch den Alltag, der für Max so viele Hürden hat. Max‘ Eltern sind oft überfordert, weil sie gern einen normalen Jungen hätten und nicht wissen, wie sie Max unterstützen können. Er mag keine Berührungen und ist in allem ein bisschen langsamer als die anderen. Deshalb wird er zum Ziel von Gewalt – und nur Budo kann ihn retten, muss dafür jedoch ein großes Opfer bringen.

Matthew Green hat sich sehr bemüht, mit der Stimme eines Jungen zu erzählen und dabei glaubwürdig zu sein. Das ist ihm so gut gelungen, dass mir der Roman zum Großteil zu kindlich ist. Die Sätze sind extrem einfach, es gibt sehr viele Wiederholungen, und auch wenn es nur logisch ist, dass der Autor sich an das Niveau eines Kindes halten muss, ist das für mich bei der Lektüre ganz einfach zu wenig Herausforderung. Budo bringt mich zum Lächeln, und seine Geschichte ist rührend, wäre aber vom Inhalt her im Kinderbuchsektor besser aufgehoben gewesen. Sehr nett und märchenhaft, aber trotzdem unglaubwürdig ist zudem, dass Max mit Budos Hilfe vom lernschwachen Jungen zum mutigen Superheld wird, was dem Buch ein actionreiches Ende beschert und Spaß beim Lesen macht, aber auch ein wenig dämlich ist. Natürlich konnte ich nicht anders, als Max und Budo ins Herz zu schließen, weil sie so unbedarft, chaotisch und liebesbedürftig daherkommen. Gekauft habe ich das Buch wegen des tollen Titels und weil der Klappentext den Autor mit Mark Haddon und Emma Donoghue vergleicht. An beide reicht er jedoch nicht heran.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
mir gefällt die Schrift, ansonsten finde ich das Cover langweilig.
… fürs Hirn: die Kraft der Fantasie – und der schöne Blickwinkel, der sich durch die Erzählung eines imaginären Kindes ergibt.
… fürs Herz: die ganze Geschichte ist herzerwärmend.
… fürs Gedächtnis: wie liebevoll der Autor mit seinen kleinen Figuren umgegangen ist.

Für Gourmets: 5 Sterne

This guy’s a super freak!
Ich stelle mir vor, dass Paul Bokowski früher eines dieser Kinder war, die unfreiwillig komisch sind. Dass er damals schon eine nerdige Brille trug, sich dumme Polenwitze anhören musste und irgendwann aus der Not eine Tugend machte, indem er sein Leben der Satire verschrieb. Ich stelle mir außerdem vor, dass Paul Bokowski im alltäglichen Umgang ein eher grantiges Kerlchen mit einem feinen Sinn für Humor ist, das nur wenig von dem, was die Welt bietet, lustig findet. Nichts davon weiß ich, das sind nur Vermutungen. Sicher ist aber, dass Paul Bokowskis Buch Hauptsache nichts mit Menschen unfassbar komisch ist. Sehr intelligent ist sein Witz, herrlich böse seine Darstellungsweise und wunderbar raffiniert sind die vielen kleinen fiesen Pointen. Geschickt bringt er verschiedene Tabus rund um Sex, Kinderarbeit und Körperlichkeit zur Sprache, sodass der Leser seine Hemmungen überwinden und dem Schrecken ins Gesicht lachen kann. Was ja die Definition von Schwarzem Humor ist. Ein wildes Sammelsurium aus Dialogen, E-Mails, kurzen Alltagsbeobachtungen und amüsanten Notizen findet sich in diesem Buch, das mich wunderbar unterhalten hat. Ein besonderes Highlight ist die Schlager-Nackt-Party, grenzgenial das Evangelium nach Facebook, zum Schmunzeln die Skype- und Telefongespräche mit den Eltern. Den Berliner Bezirk Wedding, in dem Paul Bokowski wohnt, macht er immer wieder zum Thema und nimmt dabei dessen Bewohner, die hippen Berliner und sich selbst auf die Schippe. Zwar war ich erst zwei Mal in der deutschen Hauptstadt und kenne den Wedding nicht, aber Paul Bokowskis Schmäh ist städte- und staatenübergreifend. Und Berliner sollten das Buch sowieso lesen! Genau wie alle anderen. Für gewöhnlich bin ich mit Empfehlungen zurückhaltend, wenn jemand fragt: „Hast du was Lustiges zu lesen?“, weil ich der Annahme zustimme, dass das Witzverständnis sehr individuell ist und jeder eine andere Art von Humor hat. In diesem Fall verhält es sich aber anders. Denn wer dieses Buch nicht witzig findet, hat gar keinen Humor!

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
nun, da wäre noch Luft nach oben gewesen.
… fürs Hirn: das Hirn wird ab und zu sogar benötigt, weil die Witze nicht gedankenlos sind. Oft darf man es aber auch getrost ausschalten und einfach nur lachen.
… fürs Herz: nicht allzu viel, denn wer Mitgefühl hat, kann niemanden mehr auslachen.
… fürs Gedächtnis: der Autor, von dem es im Satyr Verlag hoffentlich bald Nachschub gibt!

Hauptsache nichts mit Menschen von Paul Bokowski ist erschienen im Satyr Verlag (ISBN 978-3-9814891-1-8, 160 Seiten, 11,90 Euro).

Prost Mahlzeit: 1 Stern

Drei Merkwürdigkeiten
Sie sind Geschwister, und sie haben den Absprung nicht geschafft: Rita und Richard verbringen ihr ganzes Leben zuhause und lassen sich von der grantigen Mutter traktieren. Nach dem Krieg, der ihnen den Vater genommen hat, breitet sich endlose Langeweile vor ihnen aus, die in der Sinnlosigkeit eines Lebens auf einem einsamen Bauernhof mit zwei alten Frauen ihren Höhepunkt findet. Wanda dagegen hat ihren Vater noch: Er ist Deutschprofessor und mehr mit der deutschen Sprache verheiratet als mit seiner Gattin. Wanda kann ihm nur gefallen, wenn sie alles, was er ihr beibringt, brav aufsagt, und fällt beim ersten Mal, da sie Widerstand zeigt, sofort in Ungnade. Ihre Mutter braucht lange, um sich auf die eigenen Beine zu stellen – fast so lange wie Rita –, aber schließlich tut sie es doch.

Drei Geschichten sind in Kerstin Hensels Buch Federspiel versammelt. Warum sie als Liebesnovellen bezeichnet werden, vermag ich nicht nachzuvollziehen, geht es doch eher um Ablösung und Unabhängigkeit von Frauen. Die mittlere Geschichte besteht zudem aus einem einzigen Satz, der sich über 6,5 Seiten schlängelt, und scheint mir auch keine Liebesnovelle zu sein. Wie dem auch sei, Kerstin Hensel hat einen recht ruppigen, widerborstigen Stil, der mich kratzt und ein unangenehmes Gefühl auf meiner Haut hinterlässt. Wie so oft finde ich nicht in ein Buch hinein, in dieses nämlich. Die Handlungsweise der Figuren wirkt auf mich verwirrend und befremdlich, ihr Inneres ergründet sich mir in der Kürze der Zeit nicht. Manchmal kommt es mir sogar vor, als hätte ich entscheidende Informationen überlesen, nur um beim Zurückblättern festzustellen, dass sie gar nicht da sind. Keine der diversen Figuren hat Interesse oder gar Zuneigung in mir ausgelöst, und obwohl ich durchaus gespannt war, wie die Geschichten weiter- und ausgehen, hat es mir letztlich nichts bedeutet, sie gelesen zu haben. Ich kam mir vor wie im Museum, wo man mir etwas zeigt, das Kunst ist, und ich nicht verstehe, warum.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
fürs Auge: ein eher langweiliges Cover.
… fürs Hirn: mal zu versuchen, nicht den Faden zu verlieren bei einem Satz, der über 6 Seiten lang ist.
… fürs Herz: da finde ich nicht viel, alles erscheint mir ein wenig krampfig.
… fürs Gedächtnis: nichts.

Für Gourmets: 5 Sterne

„Wenn du das Quälende nicht abschaffen kannst, musst du dich selbst abschaffen“
In der Sportwelt ist Arne ein Held. Er ist Ruderer, ein Bild von einem Mann, groß, blond, muskulös, fokussiert und unfassbar stark. Es ist seine Kraft, die die Rudermannschaft des Achters von Sieg zu Sieg zieht und bis auf das Siegerpodest bei den Olympischen Spielen bringt. Außer dem Sport gibt es nichts, was Arne etwas bedeutet. Er ist völlig schmerzunempfindlich und holt stets noch mehr aus seinem Körper heraus, als dieser leisten kann: „Die ersten harten Schläge fühlen sich immer ein bisschen zu mühelos an, man täuscht sich leicht. Der Schmerz kommt plötzlich wie ein Brenneisen. Er bildet sich irgendwo in den Knochen und Gelenken, gräbt sich in die Muskeln und dann ins Gehirn. Immer wieder registriert er fast freudig, wie weh es tut.“ Der Sportjournalist Paco Müller verfolgt die Karriere von Arne – und will viele Jahre später das Geheimnis um dessen überraschenden Tod ergründen, weil es ihn nie losgelassen hat. Warum ist dieser kräftige Mann gestorben? Wieso konnte ihm niemand helfen? Müller macht sich auf die Suche nach Antworten, die er – zu Recht – bei Arnes damaliger Freundin Anja und seinem Ruderkollegen Ali vermutet. Er braucht nicht viel, um die beiden zu überzeugen, mit ihm über Arne zu sprechen, denn sie tragen immer noch schwer an dem, was geschehen ist: Als Arne den Sport verlor und in der Folge sich selbst, als er immer weniger wurde und sprichwörtlich verschwand. Anja hatte ein gutes Leben, aber sie kann Arne nicht vergessen: „In meinem Leben spukt es, und das Gespenst trägt den Namen Arne. Ich weiß nicht, warum das nicht vergeht. Je mehr ich darüber nachgedacht habe, umso mehr ist seine Persönlichkeit in meiner Erinnerung verschwunden. Ich weiß nicht, wer Arne war. Aber der Schmerz, den er mir verursacht hat, hört nicht auf.“ Abwechselnd rekonstruieren Anja und Ali eine Vergangenheit, in der sie im Schatten des hünenhaften Arne standen – und hilflos zusehen musste, wie dieser Schatten kleiner wurde, weil Arne sich unbarmherzig selbst vernichtete. „Es gab keinen Ausweg. Ali und ich ahnten beide, dass Arne mit vollen Segeln auf seinen ganz persönlichen Abgrund zusteuerte. Er hatte uns nicht gebeten, auf diese unheilvolle Reise mitzukommen, wir versuchten auszusteigen, aber wir schafften es nicht. Er war wie ein Captain Ahab ohne Wal – und wir waren seine Matrosen.“

Die Sportjournalistin Evi Simeoni zeichnet in Schlagmann das eindringliche, kluge und aufwühlende Porträt eines Mannes, der eine so große Leere in sich spürt, dass er sich von ihr verschlucken lassen muss. Während seiner großartigen und beeindruckenden Sportlerkarriere kann er den Wolf in sich mit Training, mit Härte und Schmerz füttern, doch nach dem Ende als Ruderer bleibt ihm nichts. Protagonist Arne tritt selbst nicht mit seinem Innenleben in Erscheinung, ich lerne ihn nur durch die Augen jener kennen, denen er etwas bedeutet hat. Anja, das Mädchen, das trotz aller Abweisungen in ihn verliebt ist, zerschellt ebenso an seinem Widerstand wie sein Kollege und Kontrahent Ali. Sie erkennen Arnes Magersucht erst, als es zu spät ist, und sie können ihn nicht vor dem Tod retten, weil er ebendiesen sucht. Vorbild für diesen grandiosen Roman ist das Schicksal des deutschen Ruderers Bahne Rabe, der 1988 olympisches Gold holte – und nur zehn Jahre später nicht mehr am Leben war. Evi Simeoni taucht in diesem Buch tief in das Metier ein, in dem sie sich auskennt, und das spürt man mit jeder Zeile, die vor Authentizität vibriert. Sie zeigt im Detail, was Hochleistungssport ausmacht, sie schildert die körperlichen Strapazen, die Grenzüberschreitungen, die Euphorie, den Schlag der Niederlage. Und sie tut das so gut, dass ich sie schnaufen höre, die Ruderer, dass ich sie schwitzen sehe und das fürchterliche Brennen in ihrer Brust spüre. Zutiefst erschüttert folge ich dem Weg, der für Arne vorgezeichnet ist, und empfinde absolutes Unverständnis genauso wie heftiges Mitleid. Ein bedrückendes, einfühlsames, sehr trauriges Buch, das mich restlos überzeugt hat. Lesen!

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
sehr schön.
… fürs Hirn: die Welt des Hochleistungssport, die Evi Simeoni mir eröffnet hat.
… fürs Herz: die ganze Geschichte, in der Menschen sich in einer Spirale rund um Sieg und Niederlage, Verzweiflung und Einsamkeit drehen.
… fürs Gedächtnis: der gesamte genial konstruierte, liebevoll erzählte und unter die Haut gehende Roman.

Schlagmann von Evi Simeoni ist erschienen im Klett-Cotta Verlag (ISBN 978-3-608-93969-9, 276 Seiten, 19,90 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

„Gott hat mir zugelächelt, als er uns zusammenführte. Und wem er sein Lächeln einmal zeigt, dem bleibt er gewogen“
Michael Ratys ist noch Schüler, kurz vor dem Abitur steht er, als er seine Jungfräulichkeit verliert – an die junge Deutschlehrerin Charmaine. Ihre Nachmittage verbringen die beiden fortan im Bett, setzen sich hinweg über gesellschaftliche Konventionen und ignorieren die Gefahr, der sich Charmaine aussetzt beziehungsweise nutzen das erotisierende Potenzial der ständigen Bedrohung. Es ist jedoch nicht der Sex allein, der sie zueinander hinzieht, nein, es ist die Liebe. Eine Liebe, die anfangs nur einen kurzen Auftritt hat, die aber zehn Jahre später erneut entfacht wird und weiter lodert, immer weiter. Die äußeren Umstände sprechen gegen diese Liebe – Ehepartner, Berufs- und Ortswechsel –, aber Michael und Charmaine setzen sich in all den Jahren über jede Art von Widrigkeit hinweg: „Unheimlich fand ich, welche Macht du über mich hast. Ich aber auch über dich, ging mir auf.“ Und jetzt, wo Charmaine nach einem Anschlag im Koma liegt, hat Michael nur diese Liebe, um zu ihr durchzudringen – und damit hat er viel. An ihrem Krankenbett sitzend, erzählt er Charmaine ihre gemeinsame Geschichte – und entwirrt dabei sogar die Fäden, die ihn zum Täter führen.

Der Drehbuch- und Krimiautor Michael Molsner legt mit Dich sah ich einen sehr klugen Roman vor, in dem eine Liebesgeschichte durch die Wirren der Zeit führt, die Deutschland seit den 1960er- Jahren erlebt hat, und der ausschließlich von der mündlichen Rede lebt. Der Schriftsteller hat sich für eine ungewöhnliche Erzählform entschieden: Sein Protagonist Michael ist ein Ich-Erzähler, der mit seinem Gegenüber – der bewusstlosen Charmaine – in direktem Dialog steht, eher noch einen Monolog hält, da er ja keine Antwort bekommen kann. Das gefällt mir sehr, weil ich vom Leser zum Zuhörer werde, der einer angenehmen Stimme lauscht; weil keine anderen Sprecher ablenken; weil die Handlung reduziert ist und der Inhalt des Gesagten intensiv. Auf einer Feier wurde Charmaine bei einem Bombenattentat schwer verletzt, und Michael legt seine ganzen Erinnerungen in die Waagschale, damit diese zugunsten von Charmaines Leben kippt. Alle Erinnerungen, die er hat, sind an Charmaine gebunden, denn sie, seine ehemalige Deutschlehrerin, liebt er schon, seit er 18 Jahre alt ist. Fast ein ganzes Leben haben sie miteinander verbracht – und zwar immer nur in aller Heimlichkeit. Ihre Affäre behält auf ewig das Prickeln, weil sie sich nie einem 24-Stunden-Alltag stellen muss. Dennoch tut Molsner nicht so, als wäre diese Liebe weltbewegend, unerschütterlich und im Himmel gemacht, sondern erfüllt die beiden Liebenden mit einer großen Zuneigung ganz ohne Pathos.

Dich sah ich ist ein politischer Roman, der die Revolte von 1968, den Terror der 1970er-Jahre und die kontroversen Meinungen über den Kommunismus behandelt, Themen, zu denen jede Figur im Buch Stellung nehmen muss und die in sich die Lösung des Attentat-Rätsels bergen. Dich sah ich ist ein Gesellschaftsroman, der das Deutschland der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts abbildet und dessen Moralvorstellungen als Rahmenbedingungen nutzt. Und Dich sah ich ist ein Liebesroman, der die Gefühle zweier Menschen über alles stellt und jene Botschaft verkündet, die wir alle hören wollen, immer wieder, weil sie uns hoffen macht: dass es sie gibt, die ewige Liebe.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
das Cover finde ich sehr passend mit dem schönen alten Foto, in der Buchhandlung hätte es mich aber wohl nicht nach dem Roman greifen lassen.
… fürs Hirn: die Hintergrundinformationen über die politischen Geschehnisse.
… fürs Herz: alles, alles!
… fürs Gedächtnis: der Oktober Verlag, von dem ich hiermit zum ersten Mal ein Buch gelesen habe und dessen Programm Interessantes aufzuweisen hat, sowie mein Lieblingszitat: “Unter den grauen Schläfen erkennst du den braunen Schopf des Achtzehnjährigen. Weil du mich siehst, wie ich dich sehe. Alle meine Gesichter. Wie ich deine sehe. Alle gleichzeitig.”

Dich sah ich von Michael Molsner ist erschienen im Oktober Verlag (ISBN 978-3-941895-21-8, 302 Seiten, 14 Euro).

Für Gourmets: 5 Sterne

Eine Hommage an die Literatur – und an die Liebe
„Ausgerechnet im Buchladen fing er Feuer. Und so hatte er seine wundersamsten Erlebnisse an einem Ort, wo manche das Abenteuer gar nicht erst suchten, obwohl er doch voll davon war.“ Denn als Yannis eines Tages eine ihm bisher unbekannte alte Buchhandlung in Athen betritt, ist es um ihn geschehen: Er verliebt sich in den geheimnisvollen Ort, in die zahlreichen Bücher – und in die schöne Buchhändlerin Lio. In ihr scheint er eine Seelenverwandte gefunden zu haben, die die Literatur ebenso achtet wie er. Immer wieder kehrt Yannis in die Buchhandlung zurück, in der es außer ihm nie einen Kunden gibt, und wird bereits von Lio erwartet, die mit ihm über die großen Romane der Weltgeschichte spricht, über Dostojewski und Shakespeare, über Huckleberry Finn und Erich Maria Remarque und ihre Bedeutung für die Geschichte. Kaum ist Yannis der bezaubernden Lio begegnet, häufen sich in seinem Leben merkwürdige Ereignisse – und alles wird noch rätselhafter, als Lio plötzlich verschwindet. Yannis muss sie finden, um sie zu retten, und er muss dazu die Grenze zwischen Realität und Fiktion überschreiten, um ins Reich der Fantasie zu gelangen …

Zwitschernde Fische von Andreas Séché ist mein Sommerhighlight 2012. Einigermaßen ratlos habe ich nach einem Buch gesucht, das mir Spaß macht und mich berührt, das mich auf leichten Schwingen durch die von Sonnenstrahlen flirrende Luft trägt. Und dann hat Zwitschernde Fische mich gefunden, es kam zusammen mit einer schönen Karte und einem tollen Button, und es flüsterte mir zu, nicht ins Regal gestellt, sondern gleich gelesen werden zu wollen. Ich bin diesem Zwitschern gefolgt und war von der ersten Seite an so begeistert, dass ich den Roman weggelesen habe wie ein Durstiger, der ein Glas Wasser trinkt, ohne abzusetzen. Eine Geschichte über Bücher! Über einen bibliophilen Leser, der ein gutes Buch zum Leben braucht! Und ein Buch über – ach, herrlich, herrlich – die Liebe!

Andreas Séchés zweiter Roman ist wie eine Waldlichtung, auf die das goldene Licht genau im richtigen Winkel fällt, wie der Zuckerguss auf dem Karottenkuchen, wie ein ausgelassenes Lachen an einem verregneten Tag. Es ist heiter und wunderbar unernst, originell und mystisch, es schert sich nicht um die Konventionen der Wirklichkeit, es wartet mit einer recht vorhersehbaren, aber passenden Auflösung auf – und mit allerlei interessanten Informationen zu den weltbewegenden Romanen unserer Zeit. Zwitschernde Fische verwandelt sich außerdem in einen kleinen Krimi, in dem es nicht nur um die Liebe und das Schöne am Lesen geht, sondern auch um Moral und Mord, um Diebstahl und Gerechtigkeit. Andreas Séché hat zu Papier gebracht, was so bedeutsam am Lesen ist, und auch wenn diese Erkenntnisse oft banal sind, sind sie nicht weniger wahr. Ich mag es, dass das Buch mich mehr als einmal überrascht, und ich freue mich über die versteckte Hommage an Hans Christian Andersen. Ich finde in diesem Buch so viele Sätze, die mir ein zustimmendes Seufzen entlocken, dass ich mir daraus ein Haus bauen möchte. Und um nicht weiter zu versuchen, diesen Sätzen mit meinen eigenen Worten gerecht zu werden, lasse ich sie einfach selbst zu euch sprechen – vielleicht passen sie und dieses Buch auch so gut zu euch Buchliebhabern wie zu mir und diesem Sommer.

„Ein gutes Buch, dachte der Mann, hat es einfach verdient, dass man den Tag, an dem man es in seiner Büchersammlung willkommen hieß, mit einem üppigen Frühstück beginnt.“

„Die Macht der Anziehung trägt Sorge, dass die, die es verdienen, wieder zueinanderfinden, egal, unter welchen Umständen und Zufällen sie einander begegnet sind und wieder auseinandergerissen wurden.“

„Manche fanden erst durch das Lesen wirklich zu sich selbst.“

„Und wie bei der Liebe braucht man beim Lesen nichts weiter als die Fähigkeit, sich fallen zu lassen.“

„Man muss Anna Karenina nicht gelesen haben, aber es schadet nicht zu wissen, dass es sich bei Tolstoi nicht um den Namen eines schwedischen Möbelstücks handelt.“

„Auch ein Menschenleben ist eine Geschichte. Und wäre es nicht eine wunderschöne Möglichkeit, wenn man diese Geschichte jemandem widmen könnte?“

„Wenn diese schwer zu greifende Anziehung zwischen ihnen tatsächlich Liebe war, dann bestand die Zauberformel der Liebe vielleicht darin, dass man Gefühle laut aussprechen musste, damit sie ihre volle Wirkung entfalten konnten, so wie bei jeder guten Beschwörung.“

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
das Cover ist das Einzige, was mir an diesem Roman nicht gefällt. Die Aufmachung und der Titel entsprechen in meinen Augen der Märchenhaftigkeit des Buchs überhaupt nicht.
… fürs Hirn: der Reichtum, den die Literatur uns bietet, das Wunderbare am Leben als Leser.
… fürs Herz: dieses perfekte, verträumte Ende!
… fürs Gedächtnis: der Vorsatz, öfter bei ars vivendi und anderen kleinen Verlagen zu stöbern, um noch mehr solcher Buchschätze zu entdecken.

Zwitschernde Fische von Andreas Séché ist erschienen im ars vivendi Verlag (ISBN 978-3-86913-106-1, 192 Seiten, 16,90 Euro).