Netter Versuch: 2 Sterne

Ich weiß nicht so genau, was mit Heinrich Steinfest los ist, und ich frage mich das schon länger. Seine Bücher sind derart merkwürdig, man kann sie keiner Kategorie zuordnen. Früher hab ich  alte Krimis von ihm gelesen, dann Das grüne Rollo, und das war schon recht gewöhnungsbedürftig, aber mit Die Büglerin schießt er endgültig den Vogel ab. Während der Lektüre hab ich ungefähr alle Emotionen durchlebt, die man so haben kann bei einem Buch: Ich war begeistert, angerührt, ich hab mich geärgert, ich war genervt. Alles nacheinander, alles gleichzeitig. Da gibt es Sätze, die mochte ich sehr, da gibt es Sprachbilder, die bewundere ich. Fein erzählt, mit einer sehr eigenen Sprachmelodie, wirklich wunderbar. Der Inhalt allerdings gibt Rätsel auf: Tonia Schreiber verschenkt ihr gesamtes Vermögen und wird Büglerin, weil sie sich selbst bestrafen möchte für die Rolle, die sie beim Tod ihrer Nichte gespielt hat. Dieser Tod ist hochgradig seltsam, Tonia selbst ist es auch, die gesamte Story ebenfalls, eigentlich passt nichts zusammen, alles ist einfach nur abstrus und unglaubwürdig. Einerseits reizt mich das Kuriose, weil es anders ist und originell – und weil mich doch der übliche Einheitsbrei ohnehin so schrecklich fadisiert –, andererseits denke ich zu oft: Also, Heinrich, im Ernst jetzt? Was erzählst du mir da für einen Blödsinn? Und es scheint kaum möglich zu sein, doch es gelingt ihm, das bis zum Ende noch zu steigern, der Schluss ist der Gipfel des Absurden. Ein Buch, über das man euphemistisch sagen könnte: Es ist … interessant.

Die Büglerin von Heinrich Steinfest ist erschienen bei Piper (ISBN 978-3-492-05663-2, 288 Seiten, 20 Euro).

Netter Versuch: 2 Sterne

Nadia und Saeed müssen fliehen aus dem Land, in dem sie zuhause sind, weil es auf einen Bürgerkrieg zusteuert, weil es nicht mehr sicher ist. Sie sind verliebt, vielleicht, oder zumindest empfinden sie Zuneigung füreinander, so genau weiß man das nicht beziehungsweise kann man sich da schon mal irren, wenn man sich ständig in Gefahr befindet und einem das Adrenalin durchs Blut schießt. So weit, so gut, die beiden machen sich also auf den Weg in eine andere Welt, in der es ihnen hoffentlich besser geht, und: Ein Buch über Flucht zu schreiben in einer Zeit wie dieser, sollte das nicht eigentlich eine sichere Bank sein? Also hab ich gedacht, Mohsin Hamid, der kann das bestimmt, wenn der sich schon so ein Thema vornimmt, dann hat er dazu auch was zu sagen, dann lässt er all die Emotionen hochkochen, die mit Migration und Heimatlosigkeit verbunden sind. Dann zeigt er, wie es wirklich ist. Stattdessen hat der liebe Mohsin mich schwer enttäuscht, weil er es eben nicht sagt und eben nicht zeigt: Nadia und Saeed fliehen durch eine Tür. Einfach so, sie gehen durch Türen und kommen woanders heraus, das ist alles, daraus besteht ihre Flucht, und ich finde das, Entschuldigung, ein bisschen schwammig, ein bisschen feig, denn wenn man schon die Chance hat, gehört zu werden, sollte man das nicht verharmlosen, nicht so tun, als sei es leicht, ein Durchschlüpfen bloß, haha, eine Tür, nichts sonst, unglaublich eigentlich, dass Menschen dabei sterben. Was ist das, Mohsin, ein Märchen, eine Verarschung, ein Witz? Lest dieses Buch nicht, lest lieber ein gutes, eines, das die Sorgen und Nöte, die Angst und den Kummer von Menschen auf der Flucht ernst nimmt.

Exit West von Mohsin Hamid ist erschienen bei Dumont (ISBN 9783832198688, 224 Seiten, 22,70 Euro).

Netter Versuch: 2 Sterne

Prahs„Wir sind kurz vor dem Verfallsdatum, und deshalb wird jetzt noch einmal richtig gefeiert“

„Nun waren sie drei endgültig verschmolzen. Zu einem einzigen, aufrechten und stolzen Mittelfinger.“

Diese drei, das sind der arbeitslose Herr Kramer, die krebskranke Buttkies und die junge Studentin Jersey. Sie wohnen in einem „sanierungsbedürftigen“ Haus, einer absoluten Bruchbude, die „leergewohnt“ und abgerissen werden soll. Obwohl das Haus nicht mehr sehr wohnenswert sein kann, wollen die drei da nicht weg. Jeder von ihnen hat seine eigenen Schwierigkeiten, und sie können einander nicht ausstehen, aber um den Abbruch des Hauses zu verhindern, müssen sie sich zusammenraufen. Das ist jedoch einfacher gesagt als getan – ein Glück, dass das Haus das Problem schließlich einfach selbst löst.

Die junge Autorin Madeleine Prahs erzählt in ihrem zweiten Roman Die Letzten eine Geschichte, die in Ansätzen ganz witzig ist. Sie hat drei sehr klassische Figuren zusammengebracht: den Mittelalten, dem die Frau weggelaufen ist, weil er gar so langweilig ist, eine Alte, die sterben möchte und der eh schon alles egal ist, und die Junge mit der schweren Kindheit und dem leichten Drogenproblem. Wirklich interessant ist dagegen die außenstehende, alleswissende Erzählinstanz:

„Wenn nicht bald irgendwas passiert, was Gutes, ein Zauber vielleicht, ein Wunder, dann steuern wir hier auf ein Drama zu, und das wäre mir dann doch peinlich, weil ich mir eigentlich vorgenommen hatte, Ihnen eine Komödie zu erzählen.“

Aber: Komödie. Das ist halt so eine Sache mit dem Humor. Die Letzten ist gut geschrieben, mit einer netten Idee und liebenswerten Figuren, in die Tiefe geht’s auch ein bisschen, aber nicht viel, nur meinen Humor trifft’s nicht. Dazu ist es zu flach und bedient die Klischees zu sehr, statt mit ihnen zu spielen – allein der Einfall, der den drei Protagonisten kommt, um dem Hausbesitzer eins auszuwischen, ist derart unoriginell, dass das ganze Potenzial der Szene verschenkt ist. Ich könnte das auch nicht besser, denn es ist verflucht schwer, etwas Humoriges zu schreiben – das dann auch noch jeder witzig findet. Bei diesem Buch hab ich einen Gedanken, der mich sogar selbst überrascht: Es wäre anders, hätte ein Österreicher es geschrieben. Unser Humor ist viel niedrigschwelliger, böser, derber, damit hab ich in Deutschland immer wieder Probleme. Und Die Letzten ist für mich sehr deutsch: Es ist nur leicht sarkastisch, nicht wirklich fies, es übertritt keine Grenzen, bricht keine Tabus. Für mich als Österreicherin ist das noch kein richtiger schwarzer Humor, sondern Basisstufe 1, ein Anfang. Da einen Maßstab anzulegen, ist aber natürlich müßig, zu subjektiv ist das Humorempfinden. Für mich hätte es schärfer und schwärzer sein müssen, nicht so klamaukig. Aber ich weiß, ihr Deutschen, ihr mögt das ((insert wink emoticon here)).

Die Letzten von Madeleine Prahs ist erschienen bei dtv (ISBN ISBN 978-3-423-28134-8, 304 Seiten, 21 Euro). Gérard empfindet das Buch übrigens als schwarzhumorig (da seht ihr schon, was ich meine).

Netter Versuch: 2 Sterne

Mbue„Mein Körper ist hier, aber mein Herz ist nachhause zurückgereist“

„Für Leute wie uns ist Bildung alles. Ohne guten Schulabschluss haben wir keine Chance in dieser Welt“,

sagt Neni zu ihrem Sohn, dem kleinen Liomi, um ihn dazu zu bringen, fleißig zu sein in der Schule. Sie hält sich auch selbst daran: Wie eine Besessene lernt sie für ihren College-Abschluss und erhofft sich eine Greencard. Sie möchte Apothekerin werden, um jeden Preis. Neni, Liomi und Jende leben in New York, stammen aber aus Kamerun. Jende arbeitet als Chauffeur für einen stinkreichen Bankmanager namens Clark, der für Lehman Brothers tätig ist. Jende ist ein gutmütiger, freundlicher Mann, der froh ist um seinen Job, denn was sein Arbeitgeber nicht weiß: Ob Jende Asyl in Amerika bekommen wird, ist ungewiss. Natürlich empfindet Jende Neid, wenn er Clark oder dessen Ehefrau Cindy durch Manhattan kutschiert, wenn er ihr glamouröses Leben sieht und mitbekommt, wie viel Geld sie haben, aber er sieht auch die Schattenseiten: Die Familie ist zerrüttet, Cindy ist zutiefst unglücklich, genau wie ihre Söhne. Als Neni erneut schwanger wird und Jendes Asylantrag abgelehnt wird, geht jedoch auch durch ihre Familie ein Riss: Neni will unbedingt in Amerika bleiben, während Jende sich mit dem Gedanken anfreundet, zurückzugehen nach Kamerun. Und ihre Kinder geraten zwischen die Fronten.

Ich bin mal wieder zu spät dran. Das geträumte Land von Imbolo Mbue war vor einigen Wochen das Buch der Stunde – sogar Oprah Winfrey hat es empfohlen, was in Amerika einem Ritterschlag gleichkommt. Ich hatte es zu jenem Zeitpunkt längst gelesen, und ich konnte den erneut aufwogenden Hype nicht nachvollziehen. Verstehen kann ich ihn, ja, denn Amerika muss sich auseinandersetzen mit dem Thema Migration, mit Einwanderung und Abschiebung, mit Integration und Rassismus. Das sind sehr wichtige Punkte, die (nicht nur) Amerika bewegen, und inhaltlich legt dieses Buch den Finger direkt in die Wunde: Es geht um Afrikaner, um Menschen mit dunkler Haut, von denen es in den USA so viele gibt, um die Schwierigkeiten, mit denen sie zu kämpfen haben, um ihre Geschichte. Aus diesem Grund ist es gut, dass Imbolo Mbue dieses Buch geschrieben hat, dass viele, viele Menschen es lesen – denn wenn es nur ein bisschen zu mehr Toleranz beiträgt, haben wir viel gewonnen. Das möchte ich nicht mindern und auf keinen Fall abwerten, wenn ich nun aber sage, dass ich das Buch an sich trotzdem schlecht finde.

Das hat verschiedene Gründe, der erste ist ein persönlicher: Ich hab ein Problem mit afrikanischer Literatur, ich ertrage sie nicht. Die Bücher afrikanischer Autoren sind mir stets zu überfrachtet, zu dramatisch, zu pathetisch – und dabei gleichzeitig zu langatmig, was eigentlich eine Kunst ist. Ich hab es oft genug versucht, um sagen zu können, dass ich mich mit afrikanischer Literatur nicht anfreunden kann. Das ist nicht schlimm, jeder hat eben seine Vorlieben. Tatsächlich ist Das geträumte Land das einzige Buch einer afrikanischen Autorin in letzter Zeit, das ich bis zum Ende gelesen habe – wenn auch mit einigen Bauchschmerzen. Auch hier: Pathos, so weit das Auge reicht. Sehr, sehr viel Klischee. Zähe, lahme Passagen, die man nur überblättern möchte. Und so viel überdrehtes Drama, dass es komplett unglaubwürdig wirkt. Freilich kann ich mir kein Urteil anmaßen: Ich habe noch nie Asyl beantragt, ich habe ausschließlich banale First World Problems, ich war nie in der Situation, in der Neni und Jende sich befinden. Vielleicht würde ich auch versuchen, meine Seele zu verkaufen, mein Kind zurückzulassen, vielleicht würde ich alles Erdenkliche tun und an einem Traum festhalten, der lange schon keinen Sinn mehr macht – ich weiß es nicht. Fakt ist aber: Literatur kann alles erzählen, alles erlebbar machen, auch wenn man selbst weit weg von der abgebildeten Lebenswelt ist. Imbolo Mbue ist es nicht im Geringsten gelungen, mir ihre Protagonisten näher zu bringen. Im Gegenteil, ich hatte große Schwierigkeiten, unter diesen dicken Schichten an aufgemaltem Klischee irgendwas zu finden, das mich berührt. Die reiche Familie, deren Sohn sich abwendet und nach Indien geht (ausgerechnet), deren Mutter nichts zu tun hat außer Wohltätigkeit und die Tabletten nimmt (was auch sonst), deren Vater rund um die Uhr arbeitet und eine Edelnutte aufsucht (eh klar!), schließlich verdirbt Geld den Charakter. Neni, die neidisch ist, aber – obwohl arm – im Herzen glücklicher (miese Sozialromantik), Jende, der rechtschaffen ist und moralisch über dem Bankmanager steht, vom Leben aber abgestraft wird (gähn). Als gegen Ende auch noch – natürlich! – häusliche Gewalt ins Spiel kommt, ist es mir endgültig zu viel. Es gibt kein Klischee, das Imbolo Mbue ausgelassen hätte. Und ich gönne ihr den Erfolg trotzdem, ihr und dem Buch, weil es – bei allem literarischen Versagen – eine wichtige Botschaft hat, weil es von Fremdsein und Toleranz handelt, von der Suche nach einer Heimat, von der Suche nach dem Glück.

„Es ist nicht leicht. Für dich, für deinen Vater, für jedes Kind, für alle Eltern, für jeden. Es ist nicht leicht, das Leben hier in der Welt.“

Das geträumte Land von Imbolo Mbue ist erschienen bei Kiepenheuer & Witsch (ISBN 978-3-462-04796-7, 432 Seiten, 22 Euro).

Netter Versuch: 2 Sterne

Eggers„Manchmal fordert ein Ort dich auf, zu bleiben, nirgendwohin zu hasten“
Josie ist Zahnärztin, hat aber nach einer Klage keine Praxis mehr. Josie ist Mutter, hat aber nach ihrer Scheidung keinen Mann mehr. Und weil sie plötzlich Panik bekommt, ihr Ex könnte ihr die Kinder wegnehmen, packt sie diese kurzerhand ein und flieht mit ihnen nach Alaska – das ist der einzige Ort, der ihr einfällt, der weit weg ist und für den sie keine Pässe brauchen. Also gurken Josie und ihre Kinder mit einem ranzigen Wohnmobil durch Alaska, ohne Plan, ohne konkretes Ziel, mit wenig Geld und wenig Geduld. Es kommt nicht so schlimm, wie es kommen könnte, aber richtig gut ist das alles auch nicht.

Bis an die Grenze von Dave Eggers ist ein selten dämliches Buch. Ich kann gar nicht glauben, dass der Autor, der für Romane wie The Circle und Hologramm für den König international mit Lob und Preisen überhäuft wurde, einen so schlechten Roman geschrieben hat. Wie ist das möglich? Hab ich mir einfach nur von all seinen bisherigen Werken das falsche ausgesucht? Dabei klingt das eigentlich interessant: Eine Mutter, die mit ihren Kindern auf der Flucht ist – die neu anfangen, sich neu sortieren muss, die sich wegen der Kinder nicht so von ihrem alten Leben lösen kann, wie sie es gern tun würde, die in der Weite Alaskas zu sich selbst findet. Bloß ist es das nicht. Protagonistin Josie ist eine wahnsinnig unglaubwürdige Figur, bei der ich mir eine Frage stelle, die für mich beim Lesen sonst nie eine Rolle spielt: Liegt es daran, dass Dave Eggers ein Mann ist? Kann er sich deshalb nicht in seine weibliche Mutterfigur hineinversetzen? Sie bleibt hölzern, unzugänglich, ist als Identifikationsfigur nicht mal ansatzweise geeignet. Es liegt nicht nur daran, dass Josie sich höchst merkwürdig verhält – es gibt schließlich keinen Standard für das Muttersein, es gibt eben Mütter, die machen es gut, und andere, die sind überfordert, all das ist menschlich, all das ist verständlich, all das ist nachvollziehbar. Allein: An Josies Handlungen ist überhaupt nichts nachvollziehbar. Dave Eggers stellt sie dar als eine Frau, die ihr Leben im Griff hat, da gab es die Praxis, die sie unverschuldet verloren hat, da gibt es ein Haus, Geld, Perspektiven, gesunde Kinder, keine Drogen, kein Alkohol (wobei Josie im Wohnwagen natürlich öfters Wein trinken muss, man hält das ja sonst nicht aus als alleinerziehende Mutter, grüß dich, Klischee, schön, dass du auch wieder da bist). Wir reden nicht von einer Familie, die völlig aus dem Lot gerät, nicht im Geringsten. Das Problem mit dem Vater der Kinder war, dass er ständig auf dem Klo saß. Kein Scherz. Wenn Josie an ihn denkt, sieht sie ihn auf dem Klo beim Pinkeln und Kacken. Das wird oft erwähnt, darauf reitet sie herum, und das macht die Vaterfigur einerseits lächerlich und nimmt andererseits jeglichem Konflikt den möglichen Tiefgang. Der Vater mit der schwachen Blase interessiert sich nicht für seine Kinder, sieht sie nie, ruft sie nie an. Aber wir sollen glauben, dass er Josie die Kinder wegnehmen will? Wir sollen es für realistisch halten, dass sie mit ihnen quer durch die Fremde fährt, sich und die Kinder in Gefahr bringt – ohne Grund? Das ist wirklich lahm.

Um Josies Verrücktheiten irgendwie zu erklären, zaubert der Autor plötzlich eine Kindheit aus dem Ärmel, die nicht ganz geglückt war, und das finde ich noch viel furchtbarer, weil: noch mehr Klischee. Zudem frage ich mich, ob er selbst Kinder hat bzw. die aufwachsen sieht, denn Ana und Paul – die Kinder im Buch – machen permanent unverhältnismäßige Sachen, die überhaupt nicht zu ihrem Alter passen. Es wirkt, als hätte ein kinderloser Mann sich gedacht: Ah, ich schreib mal über eine Mutter und ihre zwei Kinder, lasse alles einfließen, was ich über Mütter und Kinder so gehört habe, was soll schiefgehen? Alles!

„Anas niemals schwankendes Vertrauen in sich selbst, darin, wie ihre Gliedmaßen funktionieren würden, verriet, dass sie immer alles so machen würde, wie sie es für richtig hielt, und sich niemals fragen würde, ob es so richtig war – was bedeutete, dass sie Präsidentin werden könnte und garantiert immer glücklich sein würde.“

Ach nein! Vertrauen in meine Gliedmaßen bedeutet also, dass ich a) Präsidentin werden kann und b) immer glücklich sein werde? Eine Schlussfolgerung, die mir, gelinde gesagt, nicht unbedingt logisch vorkommt. Und so, meine Damen und Herren, klingt alles in Josies wirrem Hirn.

Am schrecklichsten aber finde ich, dass Dave Eggers derart langweilig schreibt, dass ich fast eingehe. So ein Roadtrip durch Alaska könnte spannend sein, inspirierend, aufregend, bei ihm ist er aber nur fad. Andauernd muss ich banalste Alltagsbeschreibungen lesen, die von Tanken über Autofahren bis hin zum Essen reichen:

„Ana hatte Hunger, also machte Josie sich auf die Suche. Sie fand Joghurt, und sie aßen zusammen einen Becher. Sie fanden Trauben und Cracker und aßen sie. Sie fanden Eier, und Josie machte Omeletts. Während Ana ihre zweite Portion aß, bemerkte sie das Schaukelgerüst im Garten und lief hin. Paul schlief noch, deshalb ging Josie wieder zum Kühlschrank, fand Schokoküsse und aß sechs von acht.“

Da schreit eine Stimme in mir schon: WEN INTERESSIERT DAS! Und: Weil Paul noch schläft, geht Josie wieder zum Kühlschrank? Konsekutivsätze, in denen das eine die Folge des anderen ist, sind anscheinend nicht so Dave Eggers’ Ding. Das gesamte Buch strotzt vor sprachlichen Schludrigkeiten. Das Feuilleton gibt daran zum Teil den Übersetzern die Schuld, was ich nicht fair finde: Wo waren denn das orginal und später das deutsche Lektorat?

Abschätzig und missbilligend hat der Autor seine Protagonistin gemacht, eine Frau, die aus unerfindlichen Gründen über jeden schlecht denkt. Die sich mit wildfremden Leuten anlegt, an Tankstellen, in Restaurants, in Supermärkten, die über jeden herzieht und ein Urteil fällt.

„Robert war garantiert ein schlechter Mann. Irgendwas an ihm, alles an ihm, war unsympathisch, unglaubwürdig, lüstern und frivol. Sein Hemd stand offen bis zu der Falte, wo die Trichterbrust auf den prallen Bauch traf.“

Ja, ja, die Intelligenzler rufen jetzt: Das muss so sein, das ist wichtig, der Autor repräsentiert dadurch die weiße amerikanische Mittelschicht. Dass Josie voller Vorurteile ist und nicht über den Tellerrand schauen kann, ist gesellschaftskritisch. Nun, wenn ihr meint, Aaber: Das macht das Buch auch nicht besser. Lückenhaft, unrealistisch, verkitscht, viel zu banal und letzten Endes ohne einen einzigen klugen Gedanken: Bis an die Grenze geht an die Grenze dessen, was ein Leser ertragen kann.

Bis an die Grenze von Dave Eggers ist erschienen bei Kiepenheuer & Witsch (ISBN 978-3-462-04946-6, 496 Seiten, 23 Euro).

Netter Versuch: 2 Sterne

Cline„Mein Schweigen hielt mich im Reich des Unsichtbaren“
Im Kalifornien des Jahres 1969 ist Evie Boyd 14 Jahre alt und weiß noch nicht so recht, wo ihr eigenes Ich aufhört und die Welt beginnt. Sie sucht nach ihren Konturen und glaubt, sie nur durch Blicke anderer bekommen zu können. Sie hungert nach Aufmerksamkeit. Doch ihre Mutter ist nach ihrer Scheidung mit sich selbst beschäftigt, die beste Freundin serviert Evie ab. Da kommen ihr diese langhaarigen, entrückt wirkenden Mädchen gerade recht, die in einer Art Kommune rund um den Aussteiger Russell leben. Hier gehört niemand niemandem und jeder jedem, es gibt wenig Lebensmittel, aber umso mehr Marihuana. Besonders fasziniert ist Evie von der unnahbaren, gleichgültigen Suzanne, der sie wie ein Hündchen folgt. Sie lässt sich von ihr und Russell zu Sexpraktiken überreden, die sie eigentlich gar nicht will, sie ist leicht zu manipulieren, keine eigenständige Persönlichkeit und viel zu jung, um zu verstehen. Sie kann sich nicht vorstellen, dass ihre neue Ersatzfamilie Böses im Sinn hat. Doch genau das ist der Fall.

Wie ihr sicher mitbekommen habt, ist dies ein Buch, das einen Hype hat. Die Verlage battelten sich angeblich mit Millionenbeträgen um das Manuskript, auch hierzulande gab es bereits zahlreiche hymnische Besprechungen. Das Buch soll verfilmt werden, und allerorts gibt es ein großes Huch wegen der angedeuteten inhaltlichen Verbindungen zu Charles Manson. Ich hinke wie immer der großen Welle der Aufmerksamkeit hinterher, aber das macht ja nichts, so gehe ich wenigstens nicht darin unter. In solchen Fällen stellt sich ja dann immer die Frage: Ist der Hype berechtigt? Ich sage: Nein. Das sollte ich jetzt freilich begründen. Here we go.

Grund 1: The Girls beruht auf einer spannenden Idee, hat aber einen beschissenen Aufbau. Die Rahmenhandlung, in der Evie mittelalt ist, ist völlig unnötig und abartig langweilig. Da das Buch damit beginnt, hätte ich beinahe schon aufgehört zu lesen vor Fadesse. Irgendwann habe ich diese Kapitel nur noch überflogen, sie hatten ohnehin nur eine einzige wichtige Aussage, und dafür hätten auch zwei Sätze gereicht. Ich habe zudem Schwierigkeiten mit Romanen, die schon zu Beginn ihre gesamte Handlung offenbaren und sich immer wieder selbst kommentieren: „Ich hätte schon damals merken müssen, dass …“, heißt es dann, und: „Später, als ich alles wusste, dachte ich …“ Da bekomme ich den Eindruck, dass eh schon alles gelaufen ist – und zwar ohne mich. Das nimmt der Story jegliche Dynamik.

Grund 2: Emma Cline übertreibt es. Sie hat die Sache mit dem Schönschreiben zu ernst genommen und jeden einzelnen Satz herausgeputzt wie einen König. Voller Glanz und Prunk und Mäntelchen, geschmückt mit Adjektiven. Schon auf den ersten Seiten fühle ich mich erschlagen von all den bedeutungsschwangeren Ausdrücken. Es gibt kaum Ruhepausen, wenig Informationspolster, deshalb können gute Sätze kaum herausstechen, nicht leuchten. Wüchsen Adjektive auf einer Wiese, Emma Cline hätte sie vollständig abgegrast, und die anderen Autoren müssten jetzt warten, bis neue nachkommen. Diese verschwurbelte, überladene, metaphernbelastete Art des Schreibens hat mich furchtbar genervt. Damit ihr euch selbst ein Bild machen könnt, hier ein paar Beispiele:

„Kultivierte eine vornehme Unsichtbarkeit in geschlechtslosen Kleidern, mein Gesicht verschleiert vom anmutigen, vieldeutigen Ausdruck einer Gartendekoration.“

„Wie unpersönlich und habgierig unsere Liebe war, wie sie das Universum absuchte und auf einen Wirt hoffte, der unseren Wünschen Form geben würde.“

„Seine Atemzüge wie Perlen eines Rosenkranzes, jedes Ein und Aus ein Trost.“

„Ich war wie ein Kind, das nur verkürzte Gefühle rechtfertigte.“

„Der Tod kam mir vor wie die Eingangshalle eines Hotels.“

„Ein altes Holzhaus, das einer durchweichten Hochzeitstorte glich.“

 

Gleichzeitig muss ich aber sagen: Diese absolute Gefühlsgenauigkeit ist beeindruckend. Ich war ja selbst irgendwann ein vierzehnjähriges Mädchen, und an einigen Stellen im Buch dachte ich: Oh, wow, ja, ganz genau so hat sich das angefühlt. Das ist ein Aspekt, der mir an The Girls ausnehmend gut gefallen hat. Andererseits ist diese Nabelschau einer Vierzehnjährigen, die derart eng um sich selbst kreist und dabei so schrecklich dumm und verblendet ist, wie Teenager eben sind, über 350 Seiten auch recht anstrengend und flach. Selbst die alte Evie in der Rahmenhandlung erzählt von nichts anderem als ihrem eigenen Empfinden. Das war übrigens Grund 3. Von dem angekündigten Charles-Manson-Drama ist wenig zu lesen, Sektenführer Russell ist eine Nebenfigur, die nur eine Funktion hat und keinen ausgeprägten eigenen Charakter. Zu guter Letzt: die Atmosphäre. Es gelingt Emma Cline ausgezeichnet, das Bedrohliche, Unangenehme einzuweben. Das ist wohl nicht erstaunlich, wenn man bedenkt, dass sie schon zu Beginn verrät, dass alles grausam endet. Dennoch ist es eine Kunst, diese drückende Unabwendbarkeit der Gefahr über so viele Seiten hinweg spürbar zu machen. Ich kann also durchaus verstehen, warum so viele Leser von The Girls begeistert sind. Nur teilen kann ich die Begeisterung nicht.

The Girls von Emma Cline ist erschienen bei den Hanser Literaturverlagen (ISBN 978-3-446-25404-6, 352 Seiten, 22 Euro). Es gibt ausschließlich positive Meldungen zu diesem Buch, zum Beispiel bei Herzpotenzial, der Buchbloggerin und der Klappentexterin sowie natürlich in allen großen und kleinen Feuilletons.

Netter Versuch: 2 Sterne

Russo„Ich bin vielleicht alt, aber ein Arschloch erkenne ich, wenn ich einem begegne“
Miles Roby arbeitet schon seit 20 Jahren im Diner von Empire Falls. Eines Tages, so die Hoffnung, könnte es ihm gehören. Fragt sich nur, ob er es dann überhaupt noch will, denn Empire Falls ist ein trauriges, halbverfallenes Kaff, das seine besten Zeiten längst hinter sich hat. Beteiligt an diesen besten Zeiten waren die Whitings, denen die großen Fabriken der Stadt gehörten und auch sonst ungefähr alles. Von ihnen ist nur noch eine alte Witwe übrig, die Miles Jahr für Jahr vertröstet. Das eben hat es mittelgut mit ihm gemeint: Er ist geschieden, seine Exfrau heiratet bald einen Fitnessguru, der jeden Tag bei ihm im Diner rumhängt, die gemeinsame Tochter quält sich durch die Highschool. Dort begegnet sie einem jener Teenies, bei denen eine Sicherung wackelt und die knapp vorm Ausrasten sind. Richtig glücklich ist Miles nicht, die großen Wünsche haben sich nicht erfüllt, und klar ist eigentlich nur: Er wird noch viel unglücklicher werden.

2002 hat Richard Russo, der an Universitäten lehrte, für dieses Buch den Pulitzer Preis bekommen. Es wurde mit Paul Newman und Philip Seymour Hoffman verfilmt. Diese gottverdammten Träume ist das Porträt eines Mannes und zugleich das Porträt einer amerikanischen Kleinstadt in einem klassischen Neuengland-Setting. Beide haben ihre Glanzzeiten hinter sich, beide hätten vielleicht Größeres erreichen können – doch der Zug ist abgefahren. Jetzt betreiben sie Tag für Tag Schadensbegrenzung, schlagen sich so durch. Sie tragen ihre Geschichte mit sich, ihr Päckchen, ihre Wunden. Eigentlich geht’s ihnen nicht so richtig schlecht, so richtig gut aber auch nicht. Das ist der Grundtenor des Buchs, das sich dem Alltäglichen widmet, dem Kleinen, dem Unauffälligen. Die Zeit ist ein rücksichtsloser Hund, sie vergeht und lässt dich alt werden, ehe du deine Jugend voll ausgekostet hast.

Richard Russo nimmt sich Zeit für dieses Buch. Und Seiten. Sehr viel Zeit und sehr viele Seiten. Ich gestehe: Für mich hätte es die Hälfte auch getan. Er aber ist akribisch, dreht jeden Stein in Empire Falls um, analysiert jede Gefühlsregung, schreibt detailliert und ausführlich und wahnsinnig langatmig. „Für Burgerbrater Miles fließt das Leben so zäh dahin wie der schmutzige Fluss durch seine einstige Textilindustriestadt“, schreibt der Spiegel, und ich finde auch das ganze Buch sehr zäh. Über weite Strecken verliere ich die Geduld mit diesem Roman, in dessen Zentrum eine Stadt steht, in der nie etwas passiert – und genau das ist mein Problem. Die Träume waren nicht sehr groß, die Enttäuschungen sind es auch nicht, genauso wenig wie die Gefühle. Alles ist Mittelmaß. Man arrangiert sich halt. Als dann doch mal was geschieht, was sehr Schlimmes sogar, sind wir schon fast auf Seite 700, und zwischendurch hab ich viel gegähnt. Man merkt, dass der Autor seinen Protagonisten sehr mag, dass er viel Gefühl aufbringt für das Scheitern im Kleinen. Ich jedoch hätte mir doch noch mehr Großes, Bewegendes, Aufrührendes gewünscht.

Diese gottverdammten Träume von Richard Russo ist erschienen im Dumont Buchverlag (ISBN 978-3-8321-9824-4, 752 Seiten, 24,99 Euro).

 

 

 

Netter Versuch: 2 Sterne

Sasa„Es geht in Unterhaltungen nicht unbedingt darum, einander zu verstehen, sondern es miteinander auszuhalten“
Mo ist immer sehr schnell verliebt, und wenn Mo verliebt ist, dann gibt er alles. Dann schwimmt er zum Beispiel zum Floß von christlichen Menschenrechtsaktivisten, um seinem Schwarm Rebekka nahe zu sein. Ihretwegen fliegt er auch nach Stockholm, wo er das Gemälde einer syrischen Surrealistin stiehlt, das leider sehr hässlich ist. Auf der Romanija steht eine Fabrik, die von Hirten bewacht wird und vielleicht Jahreszeiten produziert. Die Hirten essen am liebsten Mars, und der kleinste Hirte hat, wenn er singt, die Stimme einer alten Frau. Georg Horwath fliegt nach Brasilien und steigt in das Auto von Ali, dem falschen Chauffeur auf dem Weg zum falschen Ort, was sich für Georg Horwath absolut richtig anfühlt. Und dann ist da noch die Uckermark, wo man sich an den Schriftsteller erinnert, der mal da war, und wo alle noch anzutreffen sind: Lada, der jetzt selbst schreibt, Zieschke und Ulli. Neu dazugekommen ist der Fallensteller, der angeblich alles fangen kann, Mäuse und Menschen, und der nur in Reimen spricht. Er ist geheimnisvoll, titelgebend und unergründlich – wie alle Geschichten in diesem Band.

Die Geschichte von Saša Stanišić und mir geht so: Vor acht Jahren las ich seinen hochgelobten Erstling Wie der Soldat das Grammofon repariert und den mochte ich so, dass ich beschloss, dass Saša Stanišić jetzt mein Freund ist. Es ist halt eher eine einseitige Freundschaft, von der er nichts weiß. Darauf folgte Vor dem Fest, ein Buch, das so anders war und wirr und verrückt, irgendwie manisch, aber Saša Stanišić da schon mein Freund war, hab ich ganz genau hingeschaut und hingespürt und hab mich reinfallen lassen in die Verschwurbeltheit. Und wie das so ist mit Freunden, manchmal siehst du sie nach Jahren wieder, und wenn sie den Mund aufmachen und reden, verstehst du nichts. Dann schaust du hin und spürst du hin und lächelst freundlich, aber innerlich denkst du dir: What the fuck? So ging’s mir nun mit dem Fallensteller. Während der Lektüre hab ich mich gefragt, ob das noch Genie ist oder schon Wahnsinn. Ich würde sagen: beides. Da sind Storys drin, die sind grandios und märchenhaft und tief. Es sind aber auch Storys drin, die sind einfach nur blöd, und welche, die klingen wie arabischer Singsang, unverständlich, einschläfernd, fremdartig.

Wenn ich mich als kleine Bloggerin nun negativ äußere über ein Buch, das gerade einen Staffellauf durch das Feuilleton macht, gelte ich, das hatten wir ja alles schon, als unwissend und unverständig. Eventuell bringt dann die Zeit wieder einen Artikel über die stumpfsinnigen Blogger, die keine Ahnung haben von Literaturkritik und nur Feenstaub verspritzen, und zitiert mich. Möglich. Und unerheblich. Denn auch wenn mir manche Metapher imponiert hat und manche Geschichte sehr poetisch war: Insgesamt ist der Fallensteller ein bisschen wie Porridge. Kann man mögen. Ist jetzt angeblich DER Trend. Schmeckt aber halt einfach nicht. Der Zauber, den alle dem Buch zusprechen, hat mich nicht mit Knistern überzogen, ganz nüchtern war ich, befremdet, abgestoßen. Viele Sätze sehen aus, als hätten sie sich einfach nur herausgeputzt mit schmucken Wörtern, ohne Gefühl. Vielleicht lag es an mir, denn bei allen anderen kam die Botschaft ja offenbar an. Vielleicht ist das aber auch nur eine Phase in der Freundschaft von Saša Stanišić und mir, und ich bin, wenn ich mich erst einmal für jemanden entschieden habe, eine sehr treue Freundin, mit der man solche Phasen durchaus überstehen kann. Vielleicht ist es auch so wie in dem Zitat, das ich für den Titel gewählt habe: Wir müssen uns nicht immer verstehen und halten das auch aus.

Fallensteller von Saša Stanišić ist erschienen im Luchterhand Literaturverlag (ISBN 978-3-630-87471-5, 288 Seiten, 19,99 Euro). Nicht ganz so begeistert wie alle anderen ist übrigens die Besprechung von Zeilensprünge, nur so am Rande.

Netter Versuch: 2 Sterne

LuiselliVerrückt, verrückter, Luiselli
„Ich bin der beste Auktionator der Welt. Das weiß aber keiner, denn ich bin ein zurückhaltender Mensch. Ich heiße Gustavo Sánchez Sánchez, und man nennt mich, liebevoll, wie ich meine, Carretera.“ So stellt er sich vor, und dann erzählt er seine Geschichte: Von seinem Plan, Auktionator zu werden, berichtet er, von dem Weg dorthin, von seiner Besessenheit, sein eigenes Gebiss durch ein wesentlich besseres zu ersetzen. Doch er will nicht irgendwelche Zähne, sondern die von Marilyn Monroe. Auch eine Frau findet Carretera, nicht nur eine, sondern eine nach der anderen, er lässt sich stets aufs Neue scheiden. Seinen Sohn Ratzinger – benannt nach dem Papst, bevor der ein Papst war – darf er nicht sehen. Und genau dieser Sohn wird ihm viele Jahre später zum Verhängnis …

Valeria Luiselli hat dieses Buch als modernen Fortsetzungsroman geschrieben für die Arbeiter einer Saftfabrik in Jumex. Er ist entstanden im Rahmen eines Kunstprojekts, und er ist auch als solches zu lesen: Kunst. Manches daran ist amüsant und anregend, manches schwer verständlich und sinnentleert. Mir persönlich sagt der Beginn des Buchs am meisten zu: die Geschichte, wie Carretera zu Marilyn Monroes Zähnen kommt, ist in sich geschlossen und wäre eine wunderbar unterhaltsame Short Story. Was danach folgt, verwirrt mich zusehends, ich verliere ein wenig den Faden und die Geduld. Es geht um das Versteigern von Objekten, die je nachdem, welche Geschichte über sie verbreitet wird, mehr oder weniger wert sind, um Kunst, die zur Ware wird, um das Verzerren der Wahrheit. Valeria Luiselli bietet eine Art Collage, keine stringente Erzählung. Als am Ende viele Fotos in Kombination mit fiktiven Zitaten auftauchen, bin ich längst ratlos: Mit den zehn parabolischen Stücken kann ich wenig anfangen, genauso wie mit den Verwicklungen rund um den ominösen Ratzinger. Der abrupte Perspektivenwechsel am Ende, der noch eine völlig neue Figur zu Wort kommen lässt, erklärt zumindest so einiges und löst manches Rätsel. Trotzdem lässt das Buch mich unbefriedigt und nachdenklich zurück. Da könnte man jetzt auch sagen: So ist das eben mit Kunst. Sie muss und will nicht verstanden werden.

Die Geschichte meiner Zähne von Valeria Luiselli ist erschienen im Verlag Antje Kunstmann (ISBN ISBN 978-3-95614-092-1, 192 Seiten, 18,95 Euro).

Netter Versuch: 2 Sterne

thumb_IMG_9182_1024„Nie spürt man die eigene Macht so sehr wie in jenen Momenten, in denen man sie missbraucht“
Im Jahr 2031 bezahlt die Menschheit die Rechnung für die Ausbeutung des Planeten: Die Welt geht unter. Zumindest fängt sie damit an. Wirbelstürme, Überschwemmungen, CO2-Kontingente für Benzin und Fleisch sind an der Tagesordnung. Die Regierung besteht aus Frauen – doch die Männer haben ihnen das Ruder nur überlassen, weil es unmöglich ist, das sinkende Schiff noch zu retten. In dieser Endzeitstimmung geht Sebastian Bürger in einem Hamburger Vorort zu einem 50-Jahre-Klassentreffen:

„Auf Klassentreffen geht es überhaupt nicht darum, was aus einem geworden ist, sondern es geht um das, was man einmal war. Je älter man wird, desto wichtiger ist es, Menschen zu treffen, die einen schon gekannt haben, als man noch jung war, ich meine echt-jung.“

Echt-jung ist hier nämlich niemand: Alle schlucken das Verjüngungsmittel Ephebo, das sie aussehen lässt wie Mitte zwanzig. Dass es Krebs auslöst, ist ihnen scheißegal – die Welt gibt es ohnehin nicht mehr lang. Als Sebastian auf seine Jugendliebe Elli trifft, erwidert sie endlich, Jahrzehnte später, seine Gefühle. Alles könnte für die letzten Jahre auf Erden so schön sein! Wenn da nicht Christine wäre – Sebastians Ex-Frau und Mutter seiner Kinder. Die hält er nämlich seit zwei Jahren in seinem Keller gefangen, wo sie – in dem Radius, den ihre Halskette zulässt – Kekse für ihn backen und seinen Schwanz lutschen muss. Sebastians Meinung nach ist dies die natürliche „Haltung“ einer Frau:

„Wieso sollte ich Rücksicht darauf nehmen, dass jemand körperlich schwächer ist als ich? Das ist evolutionäres Pech. Damit hat das Schicksal demjenigen seinen Platz zugewiesen: unter meinen Stiefeln. Alles, was Frauen tun, können sie nur mit der Erlaubnis von uns Männern tun.“

Um mit Elli die frische Liebe zu leben, muss Sebastian Christine loswerden. Doch das ist schwieriger als gedacht …

Macht von Karen Duve ist ein höchst merkwürdiges Buch. Es spaltet die Leser und Kritiker – und auch mich. Während ich zu Beginn sehr angetan bin von der Idee, dem Setting und der gedanklichen Weiterführung gesellschaftlich relevanter Themen, denke ich zum Schluss: WHAT THE FUCK?! Karen Duves Plan von der Abschaffung der Welt ist prinzipiell genial: Sie zeigt, was geschehen wird, wenn wir weitermachen wie bisher. Der Klimawandel wird der Menschheit zum Verhängnis, der Point of no return ist überschritten, die Verjüngungspille Ephebo treibt den gegenwärtigen Jugendwahn auf die Spitze. Das ist herrlich perfide und sarkastisch – und derart realistisch, dass es mir Angst macht. So weit ist 2031 schließlich nicht mehr weg. Was all diese Ideen, Überlegungen und Weltuntergangsmomente angeht, merke ich jedoch ungefähr nach der Hälfte des Romans: Diese Welt des Jahres 2031 zu entwerfen, war bereits der ganze Geniestreich, der nicht weiter umgesetzt und entwickelt wird. Nun gut, vielleicht muss er das auch nicht. Er ist ja schon scharf genug.

Protagonist Sebastian ist ein Arschloch, wie es im Buche steht (Entschuldigung). Selbstherrlich, besessen, voller Hass auf Frauen im Allgemeinen und Christine im Speziellen. Er hält sie wie ein Tier, vergewaltigt und misshandelt sie und fühlt sich dabei stets im Recht. Für den Mut und das Einfühlungsvermögen, aus einer derart abartigen Perspektive zu schreiben, bewundere ich Karen Duve. Es zu lesen, ist jedoch schwer erträglich. Sehr schwer. Ich wechsle von Abscheu zu Übelkeit und zurück. Und dann? Hm. Es kommt mir vor, als hätte die Autorin sich mit ihrer psychisch kranken Figur, dem Kellergefängnis und dem Ende der Welt in eine Ecke geschrieben, aus der sie nicht mehr herauskommt. Also hat sie vielleicht beschlossen, einfach aufzuhören. Anders kann ich mir den abrupten, sinnlosen und irrsinnig langweiligen Schluss nicht erklären. Pffft, macht das Buch, als ihm die Luft ausgeht. Und ähnlich klingt auch das Geräusch meiner Enttäuschung.

Diesen Roman zu lesen, ist, als würde man angekotzt werden. Ein bitterer Schwall aus Hass und Intoleranz, Überheblichkeit und Gewalt geht auf mir nieder. Das nährt die Verachtung, die ich für die gesamte Menschheit hege. Ich hoffe, Karen Duve hat Recht und unsere Zeit auf Erden hat bald ein Ende, damit der Planet befreit wird von dem schlimmsten Parasiten, den er sich jemals eingefangen hat: uns.

Macht von Karen Duve ist erschienen bei Galiani Berlin (ISBN 978-3-86971-008-2, 416 Seiten, 21,99 Euro). Viele weitere kluge Worte über das Buch findet ihr bei Sätze & Schätze, auf zeit.de, faz.net und sueddeutsche.de, außerdem ein Interview mit der Autorin auf welt.de.