Bücherwurmloch

„In unserer Gesellschaft gibt es keinen Platz für die Wut von Frauen“
Wie verzerrt die Wahrnehmung von Frauen in der Öffentlichkeit ist, zeigt sich am Umgang mit Annalena Baerbock, die oft gleich viel oder weniger Redezeit hatte als ihre männlichen Mitbewerber und trotzdem als forscher, aggressiver, unsympathischer wahrgenommen wurde. Auch die Humorforschung weiß: Machen Frauen am Arbeitsplatz einen Witz, gelten sie als inkompetent – während Männern jeder noch so dämliche Schenkelklopfer lachend verziehen wird. Und das sind Beispiele ganz normal sprechender Frauen. Wie ist es dann erst, wenn Frauen wütend werden? Wenn sie laut und zornig für ihr Recht eintreten, wenn sie sich aufregen, so richtig Gas geben? Wie sehen wir solche Frauen?

„Die Gesellschaft straft eine wütende Frau ab. Wie unter anderem mit dem Unwort, das jede Frau an einem gewissen Punkt hören musste, und zwar hysterisch.“

Ciani-Sophie Hoeder hat darüber ein ganzes Buch geschrieben: In „Wut und böse“ beschäftigt sich die Journalistin und Gründerin von RosaMag, dem ersten Onlinemagazin für Schwarze FLINTAs, mit internalisierter Wut und Selbstkontrolle, mit sexueller Belästigung und Wutmüdigkeit.

„Wut ist egoistisch, und Frauen sollen selbstlos sein.“

Sie tut dies auf eine bedächtige, sachliche Weise, findet genau den richtigen Ton und kreiert einen guten Mix aus allgemeinen Informationen und persönlichen Einblicken. Sie erzählt von ihrer Mutter und ihrer eigenen Sozialisierung, vom gesellschaftlichen Gaslighting und dem Wandel der Wut im Wechsel der Generationen. Ein sinnvolles, wichtiges Buch über Entmachtung und strukturelle Unterdrückung, über eine verschmähte Emotion und die Kraft, die in ihr steckt.

„Wir sehen Frauen, die für ihre Wut verurteilt werden. Dabei ist Wut Selbstliebe. Frauen, die sie ausleben, sind nicht unsympathisch. Sie sind stark. Und starke Frauen können die Welt verändern.“

Wut und Böse von Ciani-Sophie Hoeder ist erschienen bei Hanser.

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„Meinen Eltern habe ich nichts von dem Kind erzählt“
Jeden Tag wird von Frau Shibata an ihrem Arbeitsplatz erwartet, dass sie neben ihren üblichen Aufgaben alles übernimmt, was so im Büro anfällt, Kaffee kochen, Geschirr abräumen, Süßigkeiten verteilen – weil sie die einzige Frau ist. Keiner der anwesenden Männer käme auch nur die Idee, selbst in die Büroküche zu gehen. Als es ihr eines Tages reicht, behauptet sie spontan, schwanger zu sein. Sie ist 34 und unverheiratet, ab sofort wird sie völlig anders behandelt: Man begegnet ihr zuvorkommend und freundlich, sie muss keine Überstunden mehr machen, hat auf einmal Zeit für sich. Die sie zum Kochen, Essen, Filmeschauen und für Schwangerschaftsyoga nutzt – schließlich bekommt sie bald ein Kind. Sie besucht Aerobic-Kurse, um sich fitzuhalten und nicht mehr als nötig zuzulegen, freundet sich mit anderen Schwangeren an und hat die beste Zeit ihres Lebens.

Für diesen Roman hatte die japanische Autorin Emi Yagi selbst eine geniale Idee: Anhand einer Fake-Schwangerschaft erzählt sie von Kapitalismus und Ausbeutung, von Sexismus und der verzerrten Wahrnehmung schwangerer Körper, letztlich sogar von der übersteigerten Erwartung an Mütter sowie deren Erschöpfung. Ein schmales, intelligentes und wirklich gut gemachtes Buch, das mich zum Schmunzeln, aber auch zum Nachdenken gebracht hat und das seine Kritik an der Gesellschaft auf verschmitzte Weise und gut verpackt anbringt. Absolute Empfehlung!

Frau Shibatas geniale Idee von Emi Yagi ist erschienen bei Atlantik.

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„Du musst es mir sagen: das, was die anderen niemals erfahren dürfen, wofür wir uns schämen und was uns so gefällt“
Beatrice Rossetti ist die bekannteste Influencerin Italiens, sie ist ein Name, sie ist ein Imperium. Aber auch sie war einmal ein Mädchen, ein unbedeutender Teenager in einem kleinen Ort, und damals war sie vor allem eins: die beste Freundin von Elisa. Was ist zwischen den beiden geschehen, warum kam es zum Zerwürfnis und dem Schweigen, das seit Jahren andauert? Elisa erzählt von Anfang an: von ihrem Umzug mit der alleinerziehenden Mutter, die sie überraschend beim Vater zurückgelassen hat, vom Dasein als Außenseiterin, von der Bewunderung für die schönere, reichere Freundin, die sich schon in der Geburtsstunde des Internets für Fashion-Bilder interessiert und einen eigenen Blog eingerichtet hat. Zwischen den beiden gibt es viel Eifersucht und emotionale Erpressung, die Beziehung hat etwas Toxisches. Und während Bea zum aufsteigenden Star wird, hat Elisa später das Gefühl, auf der Strecke geblieben zu sein.

Ich kenne die italienische Autorin Silvia Avallone von ihrem 2013 erschienenen Buch „Marina Bellezza“, das mir wegen der gehörigen Portion Drama und der übersteigerten Leidenschaft in Erinnerung geblieben ist. In ihrem neuen Roman ist es ähnlich: Auch er hat das, was wir gern „typisch italienisch“ nennen und dem Südländischen zuschreiben, Protagonistinnen, die überreagieren, Ehepaare, die sich im Restaurant anschreien, Revierkämpfe, emotionales Feuer überall. Das ist einerseits spannend, andererseits anstrengend. Während ich den Schilderungen von Elisa anfangs wirklich gern gefolgt bin, weil Silvia Avallone den pubertären Zustand zwischen Selbstmitleid und Aufbruchsstimmung glänzend eingefangen hat, hat sie mich im letzten Drittel verloren – was aber auch daran lag, dass mir das Buch mit 500 Seiten zu lang war. Das hätte man prägnanter und fokussierter zu Ende führen können, das hätte nicht so ausfransen müssen. Der Schluss ist einigermaßen pathetisch und passt daher zum Gesamtkonzept. Viel Lärm, viel Gefühl, ein klarer Blick auf eine Mädchenfreundschaft und ein ebenso klares Urteil über die Welt der Influencer:innen, aber auch leise Töne und schöne, sehr kluge Sätze: „Bilder meiner besten Freundin“ ist auf jeden Fall einen genaueren Blick wert. Und eine kleine Reise in den Süden ist es allemal.

Bilder meiner besten Freundin von Silvia Avallone ist erschienen bei Hoffmann & Campe.

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„Wenn wir es schaffen würden, egal, was man mit uns macht, nichts zu sagen, für den Rest unseres Lebens zu schweigen, könnten wir dann – irgendwann – zu Dingen werden?“

Das fragt Kojima den namenlosen Ich-Erzähler, den sie Schielauge nennen, als sie gemeinsam unterwegs sind zum Heaven. Was das ist, weiß er nicht, die Klassenkameradin, die ihm zur Freundin geworden ist, will es ihm zeigen. Was sie verbindet, ist das Mobbing, das beide erleben. Der Ich-Erzähler, weil er schielt, Kojima, weil sie sich nicht wäscht und unmodisch kleidet. Welchen Grund sie dafür hat, erfährt er nach einer Weile – denn Kojima vertraut sich ihm an. Die beiden schreiben sich heimlich Briefe, kleben sie unter ihre Schultische, fiebern der Antwort des anderen entgegen, haben plötzlich etwas, für das es sich zu leben lohnt. Denn ansonsten ist da nicht viel: Sein Vater hat ihn bei der Stiefmutter zurückgelassen, ihre Mutter hat wieder geheiratet. Zuhause erfahren beide Kinder keinen Rückhalt und keine Liebe, sie werden nicht vernachlässigt, aber es gibt keine Kommunikationsebene, keine Möglichkeit, von ihrem Leid zu erzählen. Und die anderen Kinder sind brutal. Sie denken sich jeden Tag neue Grausamkeiten aus, mit einer erschreckenden Beiläufigkeit. Als der Ich-Erzähler wegen seiner Verletzungen ins Krankenhaus muss, erfährt er etwas, das sein Leben verändern könnte – aber Kojima reagiert darauf völlig unerwartet.

Mieko Kawakami, die mit „Brüste und Eier“ weltbekannt wurde, schlägt in „Heaven“ einen ganz anderen Ton an. Erzähltechnisch hat mir dieser Roman wesentlich besser gefallen, weil er nicht so ausufernd ist. Thematisch ist er erneut modern und am Punkt, greift wieder ein großes gesellschaftliches Problem auf, das es nicht nur in Japan gibt. Ungeschönt schildert sie das Verhalten mobbender Jugendlicher, und das zu lesen, bohrt sich tief rein. Ich muss gestehen, dass sie mich ab der Hälfte mehr und mehr verloren hat, weil der „Dawson’s Creek Effekt“ aufgetreten ist: wenn junge Menschen Gespräche führen, bei denen man kopfschüttelnd denkt, dass so doch wirklich niemand spricht. Die seitenlangen philosophischen Dialoge zwischen Opfer und Peiniger waren mir zu meta und unglaubwürdig, ich glaube nicht, dass sie derart reflektiert miteinander reden würden. Aber ich mag mich täuschen, vielleicht seht ihr das anders. So oder so ist „Heaven“ ein einprägsames, wichtiges, aufrüttelndes Buch, das wieder einmal zeigt, wie tiefgreifend seelische Verletzungen sind, selbst oder vor allem wenn sie unbemerkt bleiben.

Heaven von Mieko Kawakami ist erschienen bei Dumont.

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„Nein, wir sind nicht darüber hinaus, auf diese Dinge achten zu müssen. Es wird gerade erst interessant“
Ich wünsche mir, dies wäre DAS Buch im Literaturherbst 2021. Ich wünsche mir, ihr würdet es alle, alle lesen und verschenken, es posten und darüber sprechen. Eine Welle erzeugen, einen Aufschrei der Buchbranche: Denn wir brauchen ihn dringend. Das zeigt Nicole Seifert sehr eindrücklich anhand Dutzender Beispiele. Alles, was sie hier schreibt, sollte eigentlich bekannt sein – aber noch niemand hat es so gut aufbereitet wie die Literaturwissenschaftlerin mit dem berühmten, ausschließlich Büchern von Frauen gewidmeten Blog Nacht und Tag. Schlimmer noch: Wahrscheinlich ist es gar nicht allen bekannt. Deshalb gehe ich noch weiter in meinem Wünschen: Ich hätte gern, dass das Schullektüre wäre. Allen Deutschlehrer:innen möchte ich dieses Buch vors Gesicht binden, damit sie endlich, endlich etwas ändern. Es geht darin um die bewusste Vernachlässigung weiblicher Stimmen, um das Herabwürdigen von Autorinnen durch Kritiker, um das Schreiben von Frauen, dem seit jeher so viele Steine in den Weg gelegt wurden und werden.

„Vergessen ist in diesem Zusammenhang ein Euphemismus, denn tatsächlich geht es nicht um etwas Passives, nicht um etwas, das dem Literaturbetrieb unbewusst unterliefe. Tatsächlich sind des aktive Entscheidungen, ein Werk nicht zu lesen, es nicht zu besprechen, es nicht neu aufzulegen, es nicht in die Literaturgeschichte aufzunehmen.“

Wie lese ich so ein Buch, wenn ich selbst Autorin bin, Teil der Branche, wenn ich dicht dran bin und betroffen? Nicht nur, weil – wie bei Nicole Seifert – meine gesamte Lesebiografie von männlichen Autoren geprägt war und ich mir erst später eine eigene, weibliche Lektüreliste erarbeiten musste, sondern auch, weil ich es kenne, wenn einem das Talent abgesprochen wird, die Berechtigung zum Erzählen, wenn man gefragt wird, wem man einen geblasen hat, um einen Buchvertrag zu bekommen. Ich lese es wütend, empört, resigniert, dennoch hoffnungsvoll. Ich weiß nicht, wie lange es noch dauert, bis die Branche aufwacht. Aber ich wünsche mir, dass es geschieht.

Frauenliteratur von Nicole Seifert ist erschienen bei Kiepenheuer & Witsch.

 

 

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„So ein menschliches Leben ist doch aufwendiger, als man denkt“

„Wahre Macht zeigt sich nicht in dem, was du jemandem antust – wahre Macht ist, wenn du alles tun kannst oder auch nur tun könntest, und der, dem du es antust, wird es nie verraten.“

Und tatsächlich verraten die drei Geschwister nicht, was der Vater ihnen antut: Außerhalb des Hauses weiß niemand, dass die Fassade der glücklichen Familie bloß Schein ist, woher die Gehirnerschütterung der Schwester wirklich rührt – und wohin der Vater in Wahrheit verschwunden ist. Der liegt nämlich tot auf dem Grund eines Brunnens. Aber der Reihe nach. Wobei, so eine Reihe gibt es nicht in diesem Roman. Eine Wahrheit auch nicht. Unchronologisch, voller Lügen und mit doppelten Böden erzählt ein namenloser Protagonist, was gerade passiert ist, was in seiner Kindheit geschehen ist – und in den Jahrzehnten dazwischen. Wahrscheinlich darf man ihm kein Wort glauben, vielleicht ist aber auch alles wahr.

Sylvia Wage hat mich mit diesem Buch überrascht. Und diese Überraschung ist umso größer, wenn man bedenkt, wie viele Tausend Romane über gewalttätige Väter es gibt, ich hab allein in diesem Jahr schon mehrere gelesen. Aber keinen, der so war wie „Grund“. Keinen, den ich in wenigen Stunden verschlungen, weggezischt und gefeiert habe: weil er originell ist und böse, lakonisch und absurd, völlig abwegig und gerade deshalb so großartig. Außerdem wartet er zwischendrin immer wieder mit hervorragend formulierten Sätzen auf, mit moralischen Fragen und unmoralischen Antworten.

„Aber welchen Grund hat ein Mensch, seine Kinder zu vernichten, zu zerbrechen, ihnen jedes Ich aus der Seele zu fetzen und zugleich alles zu tun, dass sie nach außen hin gelungen und intakt und stark scheinen?“

Sylvia Wage hat 2020 mit diesem Buch den Blogbuster-Preis gewonnen, und ich kann nur sagen: zu Recht. Es liest sich wie ein Horrorfilm und eine Sozialstudie, wie ein Gruselmärchen und eine Satire. Es liest sich einfach richtig gut.

Grund von Sylvia Wage ist erschienen bei Eichborn.

 

 

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„Eine Gothic Novel für unsere Zeit“
Verschiedene Zeiten, verschiedene Frauen, was eint sie? Mit Sicherheit die Unterdrückung, die sie durch Männer erfahren: diese reicht von miesen Dating-Erfahrungen bis hin zu Stalking, Gewalt und Mord. Ruth lebt mit ihrem Mann, dessen zwei Söhne aus erster Ehe die meiste Zeit im Internat sind, in dem Haus, das Generationen später Viviane ausräumen und zum Verkauf vorbereiten soll. Dazwischen entspinnt sich ein zusätzlicher Handlungsstrang, der noch weiter in der Vergangenheit liegt: Ein Pfarrer ist mit seinem Sohn und einem Mädchen, das als Hexe verbrannt werden soll, auf der Flucht. Wie hängt das zusammen? Eigentlich gar nicht, aber irgendwie doch: Der gemeinsame Nenner aller Episoden in Evie Wylds umfangreichem Roman „Die Frauen“ ist das Patriarchat.

Die Autorin, die in Australien aufgewachsen ist, wo auch dieses Buch spielt, ist mir bereits mehrfach untergekommen, sie wurde mit vielen Preisen bedacht und in zahlreiche Sprachen übersetzt. „The Bass Rock“, wie ihr dritter Roman im Original heißt, hat mich zu gleichen Teilen begeistert und verwirrt. Ich bin die Erste, die aufspringt und laut „Hier!“ ruft, wenn es um Geschichten geht, die Gewalt gegen Frauen thematisieren und aufzeigen, wie Frauen seit Jahrhunderten behandelt werden. Ich habe bei diesem Buch aber eine Art Auflösung erwartet, auf einen größeren Zusammenhang gehofft, der ausgeblieben ist, trotz über 500 Seiten hat „Die Frauen“ etwas Episodenhaftes, Springendes, Unerklärliches und Ungeklärtes. Als Essenz habe ich herausgelesen, dass alle, wirklich ausnahmslos alle Männer zu Tätern werden, der vermeintlich empathische Pfarrerssohn und der freundliche Ehemann, der Fremde, der auf dem Supermarktparkplatz neben dem Auto hockt, der Typ vom Sexdate, der die ausdrücklich formulierten Grenzen nicht respektiert. Bleibt zu sagen: Dieser Roman ist außerordentlich gut geschrieben, außerordentlich wichtig ist er zudem, aber mit seinem plötzlichen, in der Luft hängenden Ende unbefriedigend.

Die Frauen von Evie Wyld ist erschienen bei Rowohlt.

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„Man musste kein Psychologe sein, um zu wissen, dass so einer wie der Krutzler keine komplizierte Psyche hatte, weil er gar kein Interesse hatte, eine solche zu entwickeln“
Trotzdem ist rund um den Krutzler alles kompliziert: seine Karriere als Kleinkrimineller zum Beispiel, abrupt unterbrochen von den Nazis, die ihn ins KZ abtransportieren. Wo einer wie der Krutzler aber erst zu seiner wahren Form findet – die er später perfektioniert. Mit dem besonderen Talent für Notwehr etwa, das er hat: Ständig bringt er jemanden um und kommt damit davon. Zu viert wollen der Krutzler, der Wessely, der Sikora und der Praschak sich Wien aufteilen, schon vor dem Krieg, und nachher erst recht. Das gelingt ihnen auch, aber die Sache ist, siehe oben, kompliziert.

„Aber wie sollte man jemanden vor seinem Schicksal bewahren? Das war unnatürlich und fiel auch nicht in seine Zuständigkeit. Jeder musste seine eigene Geschichte fertig erzählen.“

David Schalko ist in Österreicher so etwas wie ein Nationalheld: Verehrt wird er für großartiges Fernsehen wie „Altes Geld“ und „Die Aufschneider“. Böse ist das, was er macht, makaber und schwarz – und göttlich. Das gilt auch für diesen Roman, bei dem ich mir mehr als einmal gedacht hab: Kann der/die Deutsche das überhaupt verstehen? Sprachlich ja, aber so von der Seele her? Es geht dabei nicht nur um die Austriazismen, es geht um den tiefschwingenden Humor, das verschmitzte Lächeln, in dem so viel Herz mitschwingt, dass sogar vom Konzentrationslager erzählt werden kann. Wenn einer das so ehrlich, so ergreifend und dabei so schonungslos darf, dann der Schalko. Das Buch kommt fast zur Gänze ohne direkte Rede aus, alles wird im Konjunktiv erzählt, dieses Fragende, Vage, nicht auf den Punkt zu Bringende hat wiederum selbst etwas arg Österreichisches. Und was dieser Roman auch hat: viel zu viele Seiten. Mit fast 600 ist er einfach zu dick. Das sag ich nicht, weil ich ungern schwere Schinken lese, sondern weil die Geschichte an mehr als einer Stelle ausfasert und verschlankt hätte werden müssen: 150 Seiten weniger hätten es auch getan. So aber gibt es einige Hänger, und das ist schade. Weil ich mich ganz unsterblich in „Schwere Knochen“ verliebt hab (sonst hätt ich die vielen Seiten ja auch nicht gelesen) und es ein wahres Highlight für mich ist. Nicht nur sprachlich, auch von der Seele her.

Schwere Knochen von David Schalko ist erschienen bei Kiepenheuer & Witsch.

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„Das war die geilste Zeit meines Lebens! Wenn ich mich nur an mehr erinnern könnte“

„Eigentlich hätte sich Punk ja nach einem Dreivierteljahr selbst zerstören und dabei alles mit ins Jenseits reißen sollen, was sich in der Nähe befand“, hat er aber nicht. Stattdessen sind die ehemaligen Bandmitglieder auseinandergegangen und haben mehr oder weniger ihr Glück gefunden: Sie arbeiten in einer Content-Marketingagentur oder produzieren Schlager, haben eine Familie gegründet oder verfolgen weiterhin eine steile Drogenkarriere. Fakt ist, da geht noch was. Da ist noch Luft nach oben. Und deshalb beschließen die vier, es erneut zu wagen: Sie gehen gemeinsam mit der viel berühmteren und vor allem bei der Jugend bekannten Band Superschnaps auf Tour.

Thomas Mulitzer, der selbst Musik macht und Teil der Mundart-Punkband Glue Crew ist, hat genau darüber geschrieben: Musik. Wie das ist, wenn einem der Beat ins Hirn wummert und der Text ans Herz geht. Wie es sich anfühlt, auf der Bühne zu stehen, im abgeranzten Bus über die Straßen zu brettern, im Hotel zu schlafen, jeden Abend woanders aufzutreten: wie geil das ist, aber auch wie verloren, ein Leben parallel zu dem, das die anderen führen. In einer zutiefst österreichischen Sprache und mit ebensolchem Humor ausgestattet, nimmt dieser Roman die Lesenden mit auf einen punkigen Roadtrip, auf dem vier alte Freunde mal schauen wollen, ob sie es noch draufhaben. Es wird gesungen und gestritten, gefurzt und auch was angezündet. Das ist erheiternd und amüsant, ich hab mich ganz besonders abgeholt gefühlt, weil ich Salzburg und alles, worüber Thomas sich lustig macht, bestens kenne. Ein von Kremayr & Scheriau außerordentlich schön gestaltetes Buch, das innen hält, was das Außen verspricht: eine Popgeschichte, die so viel Spaß macht wie ein guter Song.

„Ich habe eine Riesenangst davor zu sterben und wette, morgen geht es trotzdem wieder weiter.“

Pop ist tot von Thomas Mulitzer ist erschienen bei Kremayr & Scheriau.

 

 

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„Im Fernsehen berichten sie heute nicht, dass jemand gestorben wäre, aber ich bin mir sicher, dass es trotzdem so ist“
Die Julia Hofer wohnt im Tal und geht in die Restmüllklasse. Da werden in der Hauptschule jene versammelt, um die es nicht allzu gut steht, intelligenztechnisch. Gemeinsam mit ihrer Crew drückt die Julia aber jeden Schultag irgendwie durch, auch wenn so Arschloch-Lehrer wie der Brandstätter sie ganz besonders herzapfen. Der Brandstätter ist es auch, der eines Tages mit der Idee für ein Experiment daherkommt: Er will nämlich Direktor werden, und um Eindruck zu schinden, möchte er in der ganzen Klasse Rollen verteilen. Die Schüler:innen ziehen einen Zettel, jede:r von ihnen ist fortan ein Politiker oder die Presse, ein Augenzeuge oder – wie die Julia – die UNO. Sie sollen herausfinden, wie sie zu agieren haben. Eh nicht so blöd eigentlich, aber da der Brandstätter ein Arschloch ist und die Klasse Restmüll, haut das nicht so hin wie geplant. Überhaupt nichts haut so hin wie geplant, denn mit ihrer Musik kommt die Julia nicht weiter, ihr Bruder macht die Matura am Gymnasium und kann im Tal nicht studieren, weil es hier nichts gibt außer eine abgeranzte Bar, einen Lidl und Touristen. Das Jahr 2001 ist also für Julia ungefähr so wie ihr ganzes bisheriges Leben: ein einziger Scheiß.

Dieses Buch lebt von der Zeit, in der es spielt. Es lebt von der ausgefeilten Recherche seiner Autorin, die uns die Musik, die Begriffe, die Outfits und das Lebensgefühl des Jahres 20021 zurückbringt: Das ist ein ganz eigener Sound. Ich hab im Jahr 2001 maturiert, bin also ähnlich alt wie die Protagonistin und während der Lektüre ständig am Nicken. Das Geräusch eines Modems und der Satz „geil, in zehn Minuten geht’s los“: Ich kenn’s. Die Songs, die Zukunftsangst, das Schwärmen für irgendwen, der nicht mal rüberschaut: Alles meins. Großartig auch, dass der Roman alle seine Austriazismen behalten durfte, dass er sich anhört und liest, als würde man wirklich in so einem österreichischen Tal stehen. Oida, gemma, tu weiter, mein Herz freut sich bei jedem dieser Ausdrücke, die zu einer ganz eigenen Sprachmelodie beitragen. Zwar war es bei mir kein Tal, sondern ein Bergdorf, dort gab es aber nicht einmal einen Lidl. Eigentlich gab es überhaupt nichts, schön war es irgendwie trotzdem. So erlebt es auch die Julia: dass es dennoch Zusammenhalt gibt, Freundschaft, eine Perspektive. Wenn man aus Tal weggeht, eh klar.

2001 von Angela Lehner ist erschienen bei Hanser.