Bücherwurmloch

„Als Frau und Gemahlin besaß ich keinerlei Macht und musste gleichwohl unser Schicksal irgendwie in die Hand nehmen“

Und dieses Schicksal ist ein herausforderndes, denn nach einem kurzen Techtelmechtel mit einem gewissen John McArthur passiert der jungen Elizabeth dasselbe, was vielen Frauen ihrer Zeit – wir schreiben das Jahr 1788 – geschehen ist: Sie muss ihn heiraten. Sie ist als Halbwaise ohne Mitgift keine gute Partie, hat ihre Unschuld an ihn verloren, und so findet sie sich plötzlich in einer ungewollten, lieblosen Ehe mit einem Mann wieder, der sich schnell als herrschsüchtig, eingebildet und leicht reizbar entpuppt.

„Wie viele Ehefrauen lernen wohl wie ich, das Klima im Raum zu prüfen? Darauf zu achten, wie der Ehemann den Kopf neigt, die Füße setzt, den Löffel hält, die Faust neben den Teller legt? In einem Wimpernschlag zu erfassen, ob Sonne oder Schatten die Oberhand hat?“

Als John beschließt, eine Stelle als Lieutnant in der Strafkolonie in New South Wales in Australien anzutreten, hat Elizabeth keine Wahl, sie muss mit ihm gehen. Sie hat kein Selbstbestimmungsrecht, nicht über ihr Leben, nicht über ihren Körper, den John sich nach Belieben zu eigen macht, nicht über die Kinder, die sie bekommt. Sie versucht zwar, mit gezielten, klug überlegten Strategien seine Eitelkeit zu beeinflussen, ist damit aber nicht immer erfolgreich.

Kate Grenville, die zu den wichtigsten Schriftstellerinnen Australiens gehört, hat einen Roman geschrieben, der beispielhaft ist für das Leben aller Frauen, die vor uns kamen: Sie erzählt, wie es ist, der Besitz eines Mannes zu sein, der sämtliche Entscheidungen trifft. Eingebettet in eine ausufernd altertümliche Sprache, die mich zwischendrin, ich gestehe es, auch ein wenig eingeschläfert hat, ist dies im Kern natürlich ein hart feministisches Buch, denn in der Umkehrwirkung zeigt es, wie viel sich seither verändert hat – und wie viel sich noch verändern muss. Sehr pfiffig geschrieben und raffiniert konstruiert, spannend auch der Einblick in die Geschichte Australiens: Ich finde es nach wie vor unfassbar, dass man gedacht hat, man könnte einfach alle unliebsamen Straftäter:innen dorthin verschicken (und den Eingeborenen das Land stehlen). Empfehlung!

Ein Raum aus Blättern von Kate Grenville ist erschienen bei Nagel & Kimche.

Bücherwurmloch

„Es sah so aus, als ob diese Jungs wirklich in den Krieg ziehen wollten“
Toni, der Spanier, Germain, der Franzose, und Jürgen, der Alemán: Diese drei jungen Männer sind in den 1970er-Jahren in Barcelona Teil einer anarchistischen Gruppe, die gegen das faschistische Franco-Regime kämpft. Doch beim Anschlag auf ein Luxus-Kaufhaus geht so einiges schief, und Toni landet im Gefängnis. Jahrzehnte später meint er den Alemán auf der Hochzeit seiner Tochter zu sehen – ausgerechnet den Mann, den er für den Verräter hält. Ist er es wirklich? Und hat er ihn damals ans Messer geliefert?

Multiperspektivisch und herausfordernd ist Hannes Köhlers neuer Roman. Der deutsche Autor, der mich bereits mit „In Spuren“ und „Ein mögliches Leben“ beeindruckt hat, hat gewaltige Recherchearbeit geleistet: Er präsentiert in diesem Buch ein Stück spanischer und europäischer Geschichte, das bis heute seine Auswirkungen hat. Unglaublich viele Namen, Zeiten und Ortswechsel halten mich anfangs gewaltig auf Trab, aber Hannes schreibt so gut, dass ich ihm das verzeihe, viel mehr noch: dass ich es richtig gerne lese, immer wieder zurückblättere, um alles einordnen zu können, und trotz manchmal auftretender Verwirrung sofort Feuer und Flamme bin. Toni berichtet selbst, Jürgen wird durch seinen Sohn Jonas erzählt, der seine Frau verloren hat, und Germain durch seine Frau Catherine, die in den Revoluzzer-Zeiten bereits an seiner Seite war. Das finde ich klug gemacht und raffiniert konstruiert, mit ausreichend Geduld findet man in dieses Geflecht aus Figuren, Stimmungen, Unterstellungen und Ereignissen hinein, das sich wie ein Netz ausbreitet – und am Ende zeigt sich, wer durch welche Masche geschlüpft ist.

Dies ist ein Roman, den man sich durch seinen historischen und politischen Kontext erarbeiten muss, und diese Arbeit lohnt sich: nicht nur, weil man so einiges dabei lernt, sondern auch, weil das Buch ein großer Lesegenuss ist, stilistisch und formell absolut sicher. Nicht zuletzt ist das ein Titel, der in meinen Augen als Schullektüre taugen würde: Nicht viele Autor:innen sind in der Lage, belegbare Fakten derart lesenswert aufzubereiten und in eine fiktive Story zu verweben. Well done!

Götterfunken von Hannes Köhler ist erschienen bei Ullstein.

Bücherwurmloch

„Solange man am Leben ist, ist es noch nicht vorbei“
Nach dem Erfolg von „Im Westen nichts Neues“ ist Erich Maria Remarque ein über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannter Schriftsteller: verheiratet mit einer Schönheit, der Liebhaber von Frauen wie Marlene Dietrich und Greta Garbo, ein Mann, der schnelle Autos, ein schnittiges Gesicht und eine Villa in der Schweiz besitzt. Dorthin flüchtet er, als Hitler die Macht ergreift, denn mit seinen pazifistischen Romanen, in denen er das Elend des Krieges zeigt, wie es ist, steht er bei den Nazis ganz oben auf der Liste: Seine Bücher werden 1933 öffentlich verbrannt.

„Angst ist ein Gefallen, den ich den Nazis nicht erweisen werde.“

Während sich in seiner Heimat die Lage zuspitzt, Österreich annektiert wird und die Deportationen beginnen, arbeitet Remarque in Ascona an seinem Roman „Drei Kameraden“, der 1938 erscheinen würde, trinkt zu viel und schläft zu wenig, macht sich Gedanken und kann sich nie sicher sein, ob er nicht doch in Gefahr ist: Auch in die Exilgemeinde im beschaulichen Ascona schleichen sich Nazi-Spitzel, und es gibt Tote.

„Mit der Dauerhaftigkeit ist das so eine Sache, sagte sie, man weiß es immer erst im Nachhinein.“

Edgar Rai hat sich für seinen Roman „Im Licht der Zeit“ mit Marlene Dietrich beschäftigt, ist über sie auf Erich Maria Remarque gestoßen und hat anschließend auch über diesen unvergessenen deutschen Schriftsteller geschrieben. Zuerst habe ich gedacht: Uff, Nazis und alte weiße Männer, halleluja, aber dann hat Edgar Rai mich schon nach wenigen Seiten völlig eingelullt. Überraschend begeistert hab ich diesen Auszug aus dem Leben eines Mannes gelesen, über den ich wenig wusste, denn abseits von der Lektüre von „Im Westen nichts Neues“ habe ich mich nie mit Remarque beschäftigt. Er war offenbar ein Weiberer, dem Statussymbole und Erfolg wichtig waren, der hitzige, mit viel Drama beladene Beziehungen zu Frauen führte. Dass er sich gegen die Nazis stellt, ist – zumindest im Buch – eher der Tatsache geschuldet, dass sie sich gegen ihn stellen, er ist nicht aus freien Stücken oder wegen seiner politischen Gesinnung in den Widerstand gegangen. Wild ist auch, wie gut es den Menschen in Ascona geht, wie sie baden und Erdbeeren essen, während in Deutschland der Terror um sich greift. Das macht das Buch so vielschichtig und gut. Zudem fasziniert es mich immer sehr, wenn sich jemand einer Person annimmt, die tatsächlich existiert hat – und ihr in einem Roman eine Stimme gibt. Edgar Rai hat das im vorliegenden Fall auf jeden Fall sehr gut gemacht.

„Dieses ewige Wissenmüssen war der Menschheit schon immer mehr Fluch als Segen gewesen.“

Ascona von Edgar Rai ist erschienen im Piper Verlag.

Bücherwurmloch

„Die Rauchsäule stieg auf, biblisch, dunkel, lebendig und drohend“
Los Angeles 1991 und Los Angeles 2019: Nachdem Schwarze Menschen gewaltsam zu Tode gekommen sind, brechen Unruhen aus. Und zwei Familien sind auf komplexe Weise darin verwickelt. Grace, deren Eltern aus Korea eingewandert sind, erfährt, was ihre Mutter vor dreißig Jahren getan hat. Und Shawn, der in jungen Jahren seine Schwester verloren hat, versucht so sehr, ein straffreies, sicheres Leben zu führen, dass er in seiner Panik das Naheliegendste übersieht. Denn es ist klar, dass niemand, der Schwarz ist, in dieser Stadt, in diesem Land jemals sicher sein kann. Und dass es Wunden gibt, die nicht heilen, weil sie jeden Tag aufs Neue aufgerissen werden.

Steph Cha hat ein intensives, heftiges Buch geschrieben über Rassismus und Gewalt, über Othering und die Gefahr, in der sich Schwarze Menschen tagtäglich befinden. Sie werden erschossen mit einer Flasche Milch in der Hand, sie werden von der Polizei getötet im Hinterhof ihres eigenen Hauses, sie werden auf offener Straße und in ihren Betten ermordet, und niemand geht dafür ins Gefängnis. Die Autorin widmet sich den wahren Ereignissen von 1991 und 2019, nur kurze Zeit später ging mit #blacklivesmatter erneut derselbe Aufschrei um die Welt. Denn es ändert sich nichts, im Gegenteil: Der Graben zwischen Weiß und Schwarz in den USA scheint immer tiefer zu werden. Interessant ist, dass sie die Ebene der koreanischen Einwanderer einführt, die selbst nicht als „weiß“ gelten, und dadurch zeigt, wie vielschichtig Rassismus ist. In einem sehr leichten, gut lesbaren Stil geschrieben, erzählt Brandsätze von Mord, Schuld, Reue und der ständigen Verfügbarkeit von Waffen in einem völlig überhitzten Land, von Todesangst, Verlust und Ungerechtigkeit. Es ist ein authentisches, beschämendes Buch, eine literarische Anklage, von der man sich wünscht, sie hätte Wirkung. Ein Roman wie eine Brandbombe: wichtig, aktuell, zornig und traurig.

Brandsätze von Steph Cha ist erschienen bei Ars Vivendi.

Bücherwurmloch

„Lachen oder weinen, die ewige Frage“
„Dreißig Jahre Wiedervereinigung und keiner der ehemaligen Nachbarn war zurückgekommen.“ Jan lebt mit seinem Vater dort, wo sonst kaum noch jemand lebt: am Rand der alten Plattenbauten, am Dänischen Bettenlager, und das Krankenhaus, in dem er arbeitet, wird geschlossen. Doch bevor es soweit ist, bekommt er von einem Patienten eine geheimnisvolle Kiste voller Dokumente und Briefe, die mit dem berühmten Maler Georg Baselitz zu tun haben. Und, so behauptet der alte Mann, mit Jans Familie. Ist das wahr? Welche Geheimnisse hat Jans verstorbene Mutter mit ins Grab genommen? Was weiß er nicht über die DDR-Vergangenheit seiner Eltern? Während Jan sich weigert, sich damit auseinanderzusetzen, entspinnt sich rückblickend die Geschichte von Georg Baselitz und seinem Bruder, von Bespitzelung und Verrat in einer längst vergangenen Zeit.

Als Österreicherin habe ich ein seltsames Verhältnis zur DDR: Sie kommt mir vor wie Fiktion. Weil ich so viel über sie gelesen habe, und immer nur in Büchern. Es fasziniert mich, dieses Eingesperrtsein hinter einer Mauer, dieses Getrenntwerden durch eine willkürliche Grenze – stets aufs Neue überlege ich mir das, male ich es mir aus. Und jetzt erneut ein DDR-Roman, ich muss schon fast schmunzeln, dass einer, der so jung ist wie Lukas Rietzschel, aber eben selbst in Ostsachsen geboren, ihn geschrieben hat, wo das doch als Ritterschlag gilt in der deutschen Literaturwelt. Einen melancholischen, getragenen, resignierten Ton hat er gefunden für sein Buch, in dem der Generationenwechsel mitschwingt: Ja, es betrifft uns noch. Aber es ist halt jetzt doch schon lange her. Nicht ganz erschlossen hat sich mir, wozu der Autor Jan als Figur einführt, wenn der sich gar nicht beschäftigen mag mit den Unterlagen, sodass seine Perspektive zur Rahmenhandlung verkommt, während sowieso auktorial von Georg Baselitz‘ Bruder und später von Jans Eltern erzählt wird. Jans Verweigerung steht vielleicht für die Einstellung der jungen Generation: Geht uns weg mit dem alten Kram, und die Eltern, die wollen nichts preisgeben. Die Geschichte ist gut, das Buch ist wohltemperiert, alle Infos sind da, die Mischung aus Fiktion und Realität gelungen. Und offenbar beschäftigt die DDR die Schreibenden auf lange Sicht, auch jene, die wie Lukas Ritzschel nach dem Mauerfall geboren sind, müssen sie aufarbeiten. Das hat er sehr gewissenhaft getan, und er hat Worte gefunden für das große deutsche Schweigen.

Raumfahrer von Lukas Rietzschel ist erschienen bei dtv.

 

 

Bücherwurmloch

„Es war einer dieser Abende, die mich nachdenken ließen, ob es nicht besser wäre, wieder mit mir selbst zu sein“
Ruth hat vor vier Jahren ihren Mann verloren und herausgefunden, dass er eine Affäre hatte. Der Möglichkeit beraubt, ihn mit diesem Wissen zu konfrontieren, musste sie sich allein ihrer Wut und ihrer Trauer stellen. Ihr größerer Sohn ist aus dem Haus, der jüngere wird es bald sein, Ruth arbeitet als Drehbuchautorin, hat manchmal Dates und hat sich im Großen und Ganzen arrangiert. Doch dann kommen anonyme Nachrichten bei ihr an, die sie beschimpfen und verspotten, wer auch immer sie schreibt, kennt beängstigend viele Details aus Ruths Leben und schickt die vulgären Verleumdungen auch an alle Menschen in Ruths Umfeld: ihre Freundinnen, ihre Arbeitgeber, ihren Sohn. Am Anfang versucht sie, die Messages zu ignorieren, dann ist sie davon überzeugt, die Geliebte ihres verstorbenen Mannes müsse dahinterstecken. Doch als die Nachrichten immer bedrohlicher werden und Ruths Freundeskreis immer verständnisloser reagiert, wird klar, dass verbale Gewalt eben genau das ist: Gewalt.

Doris Knecht hat einen beklemmenden, fesselnden, sehr klugen Roman geschrieben, der daherkommt wie ein literarischer Thriller, in seinem Kern aber zutiefst feministisch ist. So gut wie jeden Tag sehe ich im Internet Screenshots von Chats, in denen Männer Frauen beleidigen, sie herabwürdigen, sie aufs Übelste beschimpfen – es geschieht so oft, es wirkt fast schon normal. Das macht es aber nicht weniger gewalttätig, das macht es nur umso schlimmer, denn diese misogyne Hatespeech zieht sich durch alle digitalen Bereiche – und Männer sind Verfasser solcher Nachrichten, niemals Empfänger. Was aber, wenn der betroffenen Frau nicht geglaubt wird? Wenn sie die Erfahrung macht, dass alle denken, sie sei selbst schuld? Hätte sie nicht dies oder jenes getan! Victim Shaming gibt es nicht nur bei körperlicher Gewalt, und Doris Knecht erzählt diese Geschichte so intelligent und überlegt, so raffiniert, ich konnte nicht aufhören zu lesen und habe das Buch an einem Abend bis in die Nacht hinein inhaliert. Ich finde es gut und wichtig, dass sie sich diesem Thema gewidmet hat, dass sie es aufbereitet und durchleuchtet und gezeigt hat: Das kann jede treffen, keine ist davor gefeit. Und keine ist selbst schuld. Es ist das System, das uns nicht schützt, es ist das System, das uns zu Freiwild macht, zum Abschuss freigibt – wer auch immer auf uns schießen will, kann das ungestraft tun. Und das muss sich dringend ändern. Ein absolut lesenswertes, richtig gutes Buch aus österreichischer Feder!

Die Nachricht von Doris Knecht ist erschienen bei Hanser Berlin.

Bücherwurmloch

„Eine Familie ließ sich so leicht nicht loswerden“
Johannes ist geschwommen auf seiner Flucht nach Rumänien, durch die Donau, allein. So hätte es nicht sein sollen, David hätte mitkommen sollen, stattdessen hat Johannes sich ohne ihn auf den Weg gemacht, hat ohne ihn ein neues Leben begonnen. Es geht ihm gut jetzt, ein paar Jahre später, er hat eine beste Freundin und Arbeit, er ist Hörgeräteakustiker und immer noch erscheinen ihm viele Annehmlichkeiten im Westen wie kleine Wunder. Und dann muss er zurück. Dann kommt die unvermeidliche Nachricht, der Vater ist gestorben, und Johannes reist zum ersten Mal in die entgegengesetzte Richtung, in das Land, das er verlassen hat, zu der Familie, der er ausweichen wollte, zu der Frage, wo dieser Mann geblieben ist, den er nicht vergessen kann.

Nadine Schneider, die mit zahlreichen Preisen bedacht ist und dieses Jahr so mutig war, in Klagenfurt zu lesen, hat einen Roman geschrieben über einen, der geflohen ist und dabei mehr verloren hat als seine Heimat. Das Motiv ist altbekannt: der junge Mensch, der das Land verlässt, der junge Mensch, der in das Land zurückmuss. Wie immer ist es ein Todesfall, der das neu aufgebaute Leben durcheinanderwirft, der die Rückkehr erzwingt, und so gondelt der Protagonist mit dem ausgeliehenen Auto durch die Dörfer auf der Suche nach dem einen, aus dem er kommt. Schön finde ich die groß angelegte Metapher des Gehörverlusts, die sich durch das gesamte Buch zieht, einerseits weil Johannes schwerhörigen Menschen hilft, andererseits, weil der Vater durch den Hörverlust ins Stolpern kam, und letztlich, weil Johannes selbst Probleme hat, zu hören, was gesagt wird. Wie viel von dem, was wir wahrnehmen, möchten wir lieber nicht hören? Und was gab es unter Ceaușescu alles, was niemand hätte hören dürfen? Die Auflösung, was mit David geschehen ist, ist ebenso logisch wie brutal. Mit einem feinen Gespür für Zwischentöne und sehr sprachsicher erzählt Nadine Schneider eine Geschichte, die schon hundertfach erzählt ist, die aber an zeitloser Relevanz behält: weil unzählige Menschen Gewässer durchqueren auf der Suche nach einem besseren Leben, weil mein eigener Großvater einst durch die Mur geschwommen ist auf der Flucht vor Titos Regime, weil wir mehr Verständnis brauchen für diese Biografien. Und weil es irgendwann keine Liebe mehr geben soll, die „nicht sein darf“.

Bücherwurmloch

„This did not feel like real life, exactly, but nowadays what did?“

„What’s it like to have a child right now?“
„Oh it’s great! Everything’s on fire, so you no longer have to worry about doing a good job.“

Das trifft die Stimmung ganz gut, und da wären wir auch schon direkt beim Thema: Dieses Buch ist hochgradig zeitgeistig, es ist ein Buch über das Internet und alles, was wir im virtuellen Traum tun. Das Internet heißt in Patricia Lockwoods Roman portal, das Land wird beherrscht von einem nicht näher benannten Diktator, und dann erzählt sie auf 200 Seiten in vielen Kurz- und Kürzestepisoden von Fußfetischisten und witzigen Wortspielen, von Cancel Culture und einem sterbenden Baby. Das ist hart und wahr und überzogen und schräg, es ist lustig und entlarvend und anstrengend und nervtötend.

„Despite everything, the world had not ended yet.“

Die Autorin, die für gewöhnlich Lyrik schreibt, hat einen ganz eigenen und vor allem eigenartigen Zugang zum Internet gefunden: Sie beschreibt es auf eine so poetische, verlorene, mystische Weise, dass man manchmal das Gefühl hat, das sei Fiktion, so eine digitale Welt gebe es gar nicht. Aber alles davon, so weird es auch ist, ist dem Internet zuzutrauen. Inhaltlich hat der Roman – den ich wegen der fast schon zusammenhangslosen Handlung kaum so nennen mag – viele Überschneidungen mit „I hate the internet“ von Jarett Kobek, der Ton könnte jedoch gar nicht unterschiedlicher sein. Wo Kobek sarkastisch ist, ist Lockwood sanft, wo er anklagt, gibt sie den Lesenden zu denken. Am Anfang mochte ich „No one is talking about this“ sehr gern, hab mich durchschaut gefühlt und diesen distanzierten Blick auf etwas, in dem wir alle gefangen sind, sehr gefeiert, dann habe ich irgendwann eine Struktur, eine Richtung vermisst, und im letzten Drittel, als alles völlig ausfranst, hat mir das sterbende Baby den Rest gegeben, das fand ich zu viel des Guten. Was bleibt also zu sagen? Dass dies ein ganz besonderes Buch ist, auf jeden Fall, mit vielen scharf beobachteten Elementen, die die berechtigte Frage stellen, ob wir diese Erfindung, die wir da haben, wirklich zum Besten nutzen – oder nicht einfach nur zu viel dummen Scheiß damit machen.

„Actually, she knew all about foot fetishes because a celebrity foot fetishist had once slid into her private messages and asked to buy a pair of her used sneakers for $300. She considered the preposition and then sent an old pair of Converse to him, taking secret pleasure in the fact that they wouldn’t smell like anything, because she hardly ever moved.“

 

Bücherwurmloch

„Die Abtreibung verursacht einen Schmerz, mit dem man nicht eins sein kann“
Henriette muss sich fangen. Ihre Freundin Paula nimmt sie mit in eine Hütte in Bayern, wo sie für sie kocht, mit ihr Yoga macht, sie umsorgt, immer im Bestreben, für Henriette da zu sein. Dabei hat sie selbst genug Probleme, vor allem mit ihrem On-off-Freund, der auch für ein paar Tage zu Besuch kommt. Aber die Freundschaft zwischen den beiden Frauen ist eine Einbahnstraße, Henriette ist umgekehrt nicht für Paula da. Sie ist ein unglaublich unentschlossener Mensch, hängt nach Jahren der Tatenlosigkeit an der Uni fest, obwohl sie ihre Promotion über Werwölfe gar nicht mehr schreiben will, hat keinen Plan und keine Perspektiven.

„Meine eigene Unentschiedenheit war mir unangenehm, mir fiel einfach keine Geschichte ein, mit der sich meine Existenz erklären ließ.“

Das Baby, das Henriette abgetrieben hat, war von einem verheirateten Mann, und was zwischen den beiden geschehen ist, bleibt im Dunkeln. Henriette ist also jemand, der keine oder falsche Entscheidungen trifft, nur reagiert und nie agiert, bis sie am Ende etwas unerwartet Krasses tut, das sie völlig aus ihrer Rolle fallen lässt.

„Das ist schon immer meine Schwäche gewesen, Dinge zu tun, nur weil sie möglich sind.“

Hannah Lühmanns Roman über eine ungleiche Freundschaft zwischen zwei jungen Frauen hat mich in einen argen Zwiespalt gestürzt: Ich finde es gut und wichtig, dass sie eine Abtreibung thematisiert und eine Protagonistin geschaffen hat, die nach einem Weg sucht, mit dem selbstgewählten Verlust ihres ungeborenen Kindes umzugehen. Gleichzeitig aber ist Henriette in ihrer Passivität unerträglich, man möchte sie schütteln, sie anschreien. Sie nutzt Paula aus, jammert auf höchstem Niveau, lamentiert so vor sich hin, dass man nur noch augenrollend denkt: Check your privilege! Zudem hatte ich am Ende des Romans mehr Fragen als zu Beginn, vieles blieb schwammig und unklar, der plötzliche Abfall im Verhalten der Figuren und der abrupte Schluss haben mich ratlos zurückgelassen. Geht es darum, zu zeigen, dass auch Frauen Arschlöcher sind? Ist die Biologie letztlich stärker als der menschliche Wille? So oder so hat das Buch mich beschäftigt, wenn auch nicht unbedingt auf positive Weise.

Auszeit von Hannah Lühmann ist erschienen bei Hanserblau.

 

 

Bücherwurmloch

„Manchmal besteht das größte Mysterium einfach nur darin, dass die Dinge so sind, wie sie sind“
Drei Geschwister: Sidsel, Niels und Ea. Der Vater ist lange schon tot, ist an dem weit entfernten Ort gestorben, für den er die Familie stets aufs Neue verlassen hat, nun ist auch die Mutter nicht mehr am Leben. Ea versucht, mittels einer Seherin Kontakt zu ihr aufzunehmen, und erlebt eine Überraschung. Sie ist in einer Beziehung mit einem Mann, der eine Tochter hat, und weiß nicht, ob sie weitere Kinder möchte. Ihre Schwester Sidsel dagegen ist alleinerziehend, der Vater des Kindes, ein Professor in London, weiß nicht einmal von dessen Existenz. Dann soll Sidsel nach London reisen, um eine beschädigte Skulptur in einem Museum zu reparieren, und bittet Bruder Niels, auf ihre Tochter aufzupassen. Er ist ein Rastloser, ein Wanderer, der sich schwer damit tut, die Bedürfnisse anderer zu erfüllen, aber für ein Wochenende gibt er sich Mühe.

Der Panzer des Hummers erzählt von fünf Tagen im Leben dreier Geschwister sowie der Wahrsagerin Bee, die nur eine Beziehung zu den anderen Figuren hat, weil sie Eas Mutter zu channeln versucht. Im Leseexemplar befindet sich ein Interview mit der Autorin, das mir tatsächlich geholfen hat, das Ganze – ein bisschen besser – zu verstehen. Denn auch wenn ich das Buch gern gelesen habe und angenehm fand, hat es mich doch ratlos zurückgelassen: Wozu diese Geschichte, was sollte sie mir sagen? Laut Autorin ist sie nach der Carrier Bag Theory geschrieben und enthält Elemente von Elternsein, Gleichzeitigkeit, Tod und dem Leben danach, ideengebend war die Aussage, dass man alles über eine Gesellschaft erfahren kann, indem man sich anschaut, wie sie den Fremden, den Vaterlosen und die Witwe behandelt. Einige Gedankengänge dazu fand ich sehr gut, das Buch ist modern, zeigt Patchwork-Familien und die Last, die auf Alleinerziehenden liegt. So richtig in die Gänge kommt die Handlung aber nicht, im letzten Drittel fasert sie aus, und auch die Passagen mit dem Leben danach hätte ich nicht gebraucht. Als Urlaubslektüre war es jedoch ideal und ich war gechillt genug, mich einzulassen auf den unaufgeregten Ton und den Figuren zuzuhören, wie sie aus ihren Leben erzählen, die zwar einigermaßen unspannend sind, aber sie plaudern so nett, und manchmal ist ein fein dahinplätschernder Roman genau das, was man braucht.

Der Panzer des Hummers von Caroline Albertine Minor ist erschienen bei Diogenes.