Bücherwurmloch

Ein reiches Jahr …
… in jeder Hinsicht war 2012 für mich: erlebnisreich, erfolgreich, abenteuerreich, sonnentagereich, glücksreich und bücherreich. Unfassbarerweise habe ich in diesem Jahr zum ersten Mal in meinem Leben 114 Bücher verspeist, genossen, gelesen, verschlungen. Das ist ein neuer Rekord, und all diese Bücher haben mich ebenfalls bereichert, sie haben mich unterhalten, mir neue Welten geöffnet, meinen Horizont erweitert und mich in weit entfernte Länder mitgenommen, wo ich Zeit mit vielen liebenswerten, merkwürdigen und interessanten Figuren verbringen durfte. Aus dieser Menge meine persönlichen Highlights zu fischen, ist freilich schwer. Dennoch gibt es drei Bücher, die – neben all den anderen guten – mir besonders im Gedächtnis geblieben sind und die für mich zu den Besten 2013 gehören:

Mein Lieblingsbuch 2012 ist Wahr von Riikka Pulkkinen. Ich habe mich erst auf den zweiten Blick in dieses Buch verliebt, und dafür umso heftiger, und es hat wirklich Eindruck bei mir hinterlassen.

Verliebt habe ich mich auch – wie die halbe Blogwelt und viele andere Leser – in Ich nannte ihn Krawatte von Milena Michiko Flašar, das mich mit seiner schönen, klaren Sprache und der Herzensgeschichte zutiefst berührt hat.

Heitere, unbeschwerte Stunden hat mir Zwitschernde Fische von Andreas Séché geschenkt, dessen Entdeckung mich sehr gefreut hat, denn es ist das perfekte Buch für Bibliophile wie mich.

Seche

Pulkkinen

Flasar

 

 

 

 

 

 

Da ich mich durch 114 Bücher gesiebt habe, habe ich in diesem Jahr viel Gold gefunden. Und all dieses Gold ist es wert, hier erwähnt zu werden. Das sind die 18 besten Bücher im Bücherwurmloch 2012:
Kein Wort mehr über Liebe von Hervé Le Tellier
Über Meereshöhe von Francesca Melandri
Die hellen Tage von Zsuzsa Bánk
Das Meer am Morgen von Margaret Mazzantini
Schlagmann von Eva Simeoni
Hauptsache nichts mit Menschen von Paul Bokowski
Fegefeuer von Sofi Oksanen
Das Gleichgewicht der Haie von Caterina Bonvicini
Als Gott ein Kaninchen war von Sarah Winman
Katzenberge von Sabrina Janesch
Am Schwarzen Berg von Anna Katharina Hahn
Liebe und andere Versprechen von Andrea Bajani
Fremdling von Sybille Knauss
Nach dir, Max von Leena Parkkinen
Reise ins Mondlicht von Antal Szerb
Olive Kitteridge von Elizabeth Strout
Anatomie einer Affäre von Anne Enright
Jacob beschließt zu lieben von Catalin Dorian Florescu

Weit über 30 Bücher haben es außerdem geschafft, mich derart zu beeindrucken, dass ich sie mit 4 Punkten bewertet habe – und zusammen mit den absoluten Highlights ergibt das eine beachtliche Zahl an schimmernden Nuggets, die ich gefunden habe und die mich glücklich gemacht haben. Ich bedanke mich von Herzen bei all den lieben Pressemenschen, die mich 2012 so großzügig mit wunderbaren Leseexemplaren versorgt haben, und bei euch, all meinen Leserinnen, Lesern und Blogkollegen, für den großartigen Austausch, der mein Leben ebenfalls reicher macht und den ich nicht mehr missen möchte. Ich freu mich auf ein ebenso spannendes Jahr 2013 und wünsche euch einen guten Rutsch!
Mariki

Winman

Bonvicini

Janesch

Bajani

Knauss

Hahn

Parkkinen

Enright

Florescu

Oksanen

Simeoni

Bokowski

Mazzantini

BánkStrout

Melandri

Szerb

Gut und sättigend: 3 Sterne

Adam„Die Welt bestand nur noch aus dem Rauschen des Meeres“
Paul Anderens Sohn ist neun, die Tochter sieben – und seine Frau Sarah ist verschwunden. Lange hofft und wartet er auf ihre Rückkehr, beißt die Zähne zusammen und erträgt die Häme der Polizei, die nicht an einen Unfall oder einen gewaltsamen Tod glaubt, sondern an eine entlaufene Ehegattin. Doch als Paul die Kraft ausgeht, zieht er mit den Kindern fort: „Wir mussten uns in Sicherheit bringen, ich sah keinen anderen Ausweg, ich bot das Haus zum Verkauf an, und jetzt waren wir hier, hier würden wir versuchen zu leben, in dieser Stadt am Meer, in der ich meine Kindheit verbracht hatte, und ohne lange darüber nachzudenken, vertraute ich uns ihr nun an.“ Die Entwurzelung ist hart für die Kleinen, doch der Tapetenwechsel tut den drei Gestrandeten auch gut. Paul, der eigentlich Schriftsteller ist, aber keine Zeile mehr zustande bringt, hilft mehr schlecht als recht in der Fahrschule aus, die einst seinem Vater gehörte und die sein Bruder nun führt. Das Meer gibt sich Mühe, die Trübsal aus Pauls Leben zu blasen, doch die Ungewissheit darüber, was mit Sarah geschehen ist, erschwert ihm jeden Atemzug. Bis zu jenem Tag, an dem er endlich die Wahrheit erfährt.

Der erfolgreiche französische Schriftsteller Olivier Adam entwirft in Gegenwinde die Geschichte einer Familie, die keine Familie mehr ist, weil ein wichtiges Mitglied fehlt: Ehefrau und Mutter Sarah. Ihr Verschwinden lähmt Ich-Erzähler Paul vollkommen, und die Kinder wissen kaum wohin mit ihrem Kummer. Ihr Leid und ihre Ratlosigkeit mit anzusehen, ist schmerzhaft für mich, und es gelingt Olivier Adam sehr eindrucksvoll, den Schmerz der drei Zurückgebliebenen zu transportieren. Auch der Rahmen – ein rauer Ort an der französischen Küste – ist exzellent gewählt, die Atmosphäre ist geheimnisvoll, unberechenbar und trügerisch wie das Meer. Ich spüre schnell, wie die Unruhe, die den Protagonisten umtreibt, auf mich überspringt und mich durch den Roman hetzt. Ich will weiterkommen auf der Suche nach des Rätsels Lösung, will wissen, wo Sarah ist. Und als ich es erfahre, wird der Schmerz noch größer. Auf den Punkt gebracht ist Gegenwinde kein schönes, positiv gestimmtes oder gar heiteres Buch, im Gegenteil, es geht darin um Verlust und Trauer, um die Anstrengung, die es kostet, jeden Morgen aufzustehen und weiterzumachen, wenn man eigentlich liegen bleiben und sterben möchte. Paul ist ein Held im Kleinen, er ist tapfer und mutig, er trägt die Bürde der Verantwortung für seine Kinder, und er liebt sie so sehr, dass er ihretwegen durchhält, jeden Tag, jede Stunde, jede Minute. Olivier Adam beschreibt einen Schmerz, der wie eine wilde Katze beißt, und eine jener Wahrheiten, die nichts besser machen. Ein Leseerlebnis, das einen nicht so schnell verlässt.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein mysteriöses Bild, das zur rätselhaften Stimmung des Romans passt.
… fürs Hirn: das Wissen, dass wohl nichts schlimmer sein mag als die Ungewissheit.
… fürs Herz: Pauls Liebe zu seinen Kindern sowie deren Traurigkeit.
… fürs Gedächtnis: eine ganz unfassbare Niedergedrücktheit, die kein Ende nimmt.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

McCloskeyDie unendlich vielen Spielarten der Liebe
Ein Mann, der sich zu dick fühlt, lässt sich auf eine Affäre ein, die er eigentlich gar nicht will. Ein Junge verabscheut den Mann, mit dem seine Mutter schläft und der sie zur Alkoholikerin macht, ein Mädchen hat zum ersten Mal Sex – mit dem Mann der Schwester. Was ist Liebe? Wie sieht sie aus, was bedeutet sie, wann kommt und warum geht sie? Das wissen wir nicht, und diese Fragen sind müßig, doch die Liebe ist wohl das interessanteste Thema mit der größten Bandbreite, das man sich aussuchen kann, um darüber zu schreiben und damit zu spielen. Womöglich ist sie das einzige Thema überhaupt. In elf völlig unterschiedlichen Kurzgeschichten beleuchtet die amerikanische Schriftstellerin Molly McCloskey, die in Irland lebt, ein Gefühl, das nicht zu kategorisieren ist, weil es stets in einer neuen Facette auftritt. Manche Storys würde man vielleicht zuerst gar nicht dem Überthema Liebe zuordnen, nur um dann zu erkennen, dass sie ja auch in der Eifersucht steckt und in der Begierde, die Liebe. Der Stil der Autorin ist angenehm schnörkellos und direkt, die Figuren entstehen notgedrungen – aufgrund der Kürze der Texte – in wenigen Strichen, wirken aber durchaus lebendig und glaubhaft. Erst seit diesem Jahr entdecke ich langsam Kurzgeschichten für mich, und die Qualität von Molly McCloskeys Storys hat mich darin bestätigt, meine Entdeckungsreise fortzusetzen. Schockierend und amüsant, alltagsnah und traurig sind die Geschichten, deren Motor jene Kraft ist, die uns alle antreibt: die Liebe.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein ebenso merkwürdiges wie stilvolles Cover.
… fürs Hirn: viele kluge Beobachtungen der menschlichen Natur.
… fürs Herz: nun, logischerweise alles, irgendwie.
… fürs Gedächtnis: die provokante erste Geschichte über eine inzestuöse Vater-Tochter-Beziehung.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Richner„Es gab niemanden, der nach mir suchte oder mich fand“
Lucie hat viele Namen und verwendet selten ihren echten, seit sie vor Jahren das Dorf ihrer Kindheit verlassen hat. Dorthin, in den heißen Süden, kehrt sie zurück, als ihre Mutter einen Gehirnschlag erleidet, und während sie versucht, Ordnung zu schaffen im Café, das der Mutter gehört, und in dem Leben, das diese bald verlassen wird, wird Lucie von Erinnerungen bestürmt: an die endlose, quälende Hitze, an die einsamen Nachmittage, an die Zeit bei Éstelle, an den Vater, der gern exotische Pflanzen malte und presste, an die Reisen der Mutter, die immer mehr wurden und immer länger dauerten. Für Lucie wurde Éstelle, ihre leibliche Großmutter, zu einer Art Mutterersatz, und Éstelle, die das eigene Kind weggegeben hatte, vereinnahmte Lucie ganz. Voll Liebe, aber mit einem krankhaften Beigeschmack war diese Beziehung, der Lucie schließlich entkommen musste – wie ihrer ganzen trägen, traurigen Kindheit.

Sieben Jahre Schlaf ist eine kleine, sehr feinsinnige und melancholische Geschichte, in der die 1980 geborene Autorin Karin Richner von einer Frau erzählt, die das Mädchen, das sie einst war, zurückgelassen hat und zugleich nicht vergessen kann. Was mir gleich von Anfang an entgegenschlägt, ist die enorme, zähe Hitze, der die Dorfmenschen ausgesetzt sind, eine Hitze, die Gedanken nur wie Sirup durch den Kopf fließen lässt. Eine flirrende Atmosphäre überzieht den ganzen Roman, und wie Ich-Erzählerin Lucie habe ich oftmals das Gefühl, nicht atmen zu können in dieser Glut. Alles ist schon vorbei zu dem Zeitpunkt, da die Erzählung beginnt, und eigentlich ist es niemals vorbei, denn die Kindheit tragen wir alle, wie könnte es anders sein, für immer in uns. Lucie will sich den Wunden der Vergangenheit nicht stellen und muss es doch, weil das Leben sie zwingt, zurückzukommen und sich zu erinnern. Sie war eins jener Kinder, die geliebt, aber nicht mit Zuneigung überschüttet werden, und sie blieb zwischen den persönlichen Wünschen der Erwachsenen auf der Strecke. Karin Richner erzählt davon ganz unaufgeregt, sprachlich elegant und dennoch mit einer Stimme, die Gewicht hat und Klang. Sieben Jahre Schlaf ist wie ein verstörender Traum voller Szenen, die scheinbar nicht zusammenhängen und doch Sinn ergeben, voll Verzweiflung und Hoffnung zugleich, ein Traum, der an einem so heißen Ort stattfindet, dass man verschwitzt daraus erwacht. Sehr gut gemacht.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
das Cover gefällt mir so gar nicht, und was der Herbst mit dem Roman zu tun haben soll, ist mir schleierhaft.
… fürs Hirn: ein altes Thema, aber eloquent umgesetzt – wie die Kindheit uns prägt und niemals loslässt.
… fürs Herz: die Einsamkeit der kleinen Lucie.
… fürs Gedächtnis: der bilgerverlag, der mir in diesem Jahr schon mit Skoda positiv aufgefallen ist.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Murgia„Die Schuld beginnt, wie die Menschen, erst in dem Moment zu existieren, in dem jemand sie bemerkt“
Maria ist eine fill’e anima, ein Mädchen mit zwei Müttern, einer leiblichen und einer, bei der sie aufwächst. „Fillus de anima, Kinder des Herzens. So nennt man die Kinder, die zweimal geboren wurden, aus der Armut einer Frau und der Unfruchtbarkeit einer anderen.“ Bonaria Urrai, die gutsituierte Schneiderin des sardischen Dorfs, macht der vierfachen, verwitweten Mutter Anna Teresa Listru ein Angebot, das diese sofort annimmt. Und ein paar Tage später wohnt Maria schon bei Bonaria, ohne dass ihr jemand den Grund für den Umzug darlegen würde. Diese Art der offenen Adoption, bei der das Kind den Kontakt zur leiblichen Mutter weiterhin aufrechterhält, ist auf der Insel nicht unüblich. Maria zeigt sich flexibel und hängt ohnehin nicht sehr an ihrer Mutter und den Schwestern, und nach einer kurzen Zeit der Eingewöhnung fügt sie sich in das ruhige Leben im Haus von Bonaria. Sie darf in die Schule gehen und verbringt ihre Zeit gern mit Andria, dessen Bruder Nicola sich aus Rachsucht in eine prekäre Lage bringt. Maria bemerkt unerklärliche nächtliche Ereignisse, die mit Bonaria zu tun haben, doch das Geheimnis der Ziehmutter bleibt für das Kind lange unergründlich. Erst als Bonaria gegen ihre Prinzipien verstößt und sich in eine Geschichte verstrickt, die ihr selbst Angst macht, wird offenbar, wer sie wirklich ist: die Accabadora des Dorfs, die Frau, die gerufen wird, wenn ein Mensch bereit ist, das Leben zu verlassen, das Leben ihn jedoch nicht gehen lassen will. Maria reagiert mit Wut auf den Vertrauensbruch, und es kommt zum Zerwürfnis – nicht nur mit Bonaria …

Michela Murgia hat für ihren beeindruckenden Debütroman Anleihe bei einer alten sardischen Legende genommen, deren Wahrheitsgehalt niemand kennt. Die Accabadora, die Sterbehelferin, habe Menschen in Agonie den erlösenden Tod gebracht, heißt es. Ob es solche Frauen tatsächlich hab, ist unklar, zu groß war wohl der Zwang der Geheimhaltung, der sie umgab. Michela Murgia erweckt eine von ihnen zum Leben, gibt ihr ein Gesicht und eine Geschichte: Bonaria Urrai ist für die Aufgabe, die sie erfüllt, berufen und gleichzeitig gezwungen, ihr Folge zu leisten. Sie kommt mit dem Tod im wahrsten Sinn des Wortes in Berührung, und dass das Schicksal für sie letztlich ein Spiegel ihres Lebens wird, ist ebenso logisch wie grausam. Auf welche Weise sie die Sterbenden aus der Welt geleitet und warum sie es tut, schildert die Autorin in einigen kurzen, eindringlichen Episoden. Mit klangvollen Worten in schmalen Sätzen beschwört Michela Murgia ihre Heimat Sardinien herauf: mit Flüchen und Aberglauben, harter Arbeit und einem kargen Dasein, rituellen Festen und duftenden Backwaren wie aranzada und capigliette. Sehr ruhig und bedacht erzählt sie von einer Welt, die nicht weit im Gestern liegt und doch archaisch anmutet – unter anderem auch in dem Sinne, als dass der Tod in ihrer Mitte präsent ist und der Umgang damit nicht diskret und verpeinlicht ist wie in den meisten unserer heutigen Gesellschaften. Die Luft ist anders auf dieser Insel, schwerer, rauer, süßer, und ich mag es, wie Michela Murgias Sprache sich diesem Klima anpasst. Auf die Frage nach der Wichtigkeit unserer Wurzeln gibt sie, die selbst als fill’e anima aufgewachsen ist, mit dieser Geschichte eine mögliche Antwort: dass manchmal nicht zählt, wer einen geboren hat, sondern wer einen liebt, dass man Verantwortung übernimmt, wenn man als Mutter eine Tochter ins Haus bittet, aber auch als Tochter, wenn man das Haus dieser Mutter betritt. Accabadora ist ein in seiner Schlichtheit beeindruckendes und inhaltlich faszinierendes Buch, das mir eine rätselhafte, mythische, kühne Geschichte ins Ohr geflüstert hat vom fernen Sardinien, wo die Menschen so rau sind wie Fels.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein grandioses Foto mit einem unfassbar tiefen, traurigen Blick.
… fürs Hirn: Sterbehilfe ja oder nein? Haben die Menschen vor vielen Jahren in abgelegenen Dörfern damit weniger moralische Probleme gehabt als wir heute? Oder ist die Accabadora wirklich nur eine mythologische Figur?
… fürs Herz: kein Kitsch, kein Pathos, aber ein sehr rührender Ton.
… fürs Gedächtnis: das Ende und seine Stimmigkeit.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Sussman„Warum habe ich dann jetzt, wo ich Liebe habe, sofort Angst davor, sie wieder zu verlieren?“
„Hier ist ein guter Ort, um den Verstand zu verlieren“, sagt der französische Privatlehrer Nico zur jungen Highschool-Lehrerin Josie, die er einen Tag lang durch Paris führt. Das Konzept der Sprachschule, für die Nico genauso wie Chantal und Phillipe arbeitet, ist so einfach wie genial: Die Schüler lernen Französisch, indem sie Paris erkunden. Nico ist hinreißend und charmant, und er lenkt Josie von ihrem bleischweren Kummer ab: Der Mann, mit dem sie nach Paris kommen wollte, ist tot. Auch Nico kommt die Ablenkung durch den Flirt mit der hübschen Amerikanerin gelegen: Er ist verliebt in Chantal, die jedoch Phillipes Freundin ist. Dass Chantal mit Nico im Bett war, weiß Phillipe nicht, doch mit der Treue nimmt er es ohnehin nicht so genau: Seine Schülerin, die zweifache Mutter Riley, geht ihm auf die Nerven, ist aber in seinen Augen dennoch eine Frau, die es zu erobern gilt. Chantal dagegen hat einen sehr angenehmen Schüler, den zuvorkommenden Jeremy, der mit einer bekannten Schauspielerin verheiratet ist. Während diese in Paris einen Film dreht, verbringt Jeremy seine Zeit mit Chantal, einer Frau, die scheinbar jedem Mann das Gefühl gibt, etwas für sie zu empfinden. Ein ganz normaler Tag in Paris für die drei Privatlehrer also – und doch ist am Abend, als sie sich wie verabredet in einer Bar treffen, nichts mehr wie zuvor.

Ellen Sussman spricht mit An einem Tag in Paris eine Einladung an mich aus: Lass dich ein bisschen unterhalten, sagt sie, lass dich berieseln, schalt ab, komm nach Paris. Ich fürchte, du bist nicht ganz mein Ding, sage ich zu dem Buch und folge der Einladung nur zögerlich. Und dann geschieht, was immer geschieht, wenn Frauenliteratur richtig gut gemacht ist: Ich bin verblüfft. Denn ich habe engstirnige Vorbehalte gegen der Genre, das oft gewollt heiter und ungewollt dumpfbackig daherkommt. Doch das Schöne an diesem Roman ist: Er ist nicht aufdringlich. Er will mich unterhalten, aber nicht um jeden Preis. Vielmehr erzählt Ellen Sussman ganz flüssig und leicht drei ineinander verwobene Geschichten, zeichnet das Porträt dreier unterschiedlicher junger Menschen und macht auf liebevolle Weise das vielbesungene Paris zu einer Art interaktiven Kulisse. Ich habe heuer im April wunderbare Tage in Paris erlebt, und schon nach wenigen Seiten hat die amerikanische Autorin, die fünf Jahre in Paris gelebt hat, mich am Haken: Ich mag ihre geradlinige, simple Sprache, ich freue mich, nach Paris zurückzukehren, und ich verschlinge das Buch, dessen Einladung ich beinahe ausschlagen wollte, in Stundenschnelle. Romantisch, witzig, sehr vergnüglich und überraschend reflexiv ist es. Und ein bisschen traumwandlerisch verklärt. Wie ein Tag in Paris.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein recht liebevoll gestaltetes Cover.
… fürs Hirn: ach, nein. Wobei das Buch aber keine hirnlose Unterhaltung bietet.
… fürs Herz: jaaa!
… fürs Gedächtnis: der Limes-Verlag, der mich in diesem Jahr schon mit Sarah Winmans Buch Als Gott ein Kaninchen war sehr positiv überrascht hat.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

M„Man kann hundert Jahre mit einem Menschen leben und weiß doch nichts von ihm“
Amia und Gideon hatten das, was man unter einem guten Leben versteht: Erfolg, Geld, ein liebes Kind, ein bisschen Glück. Doch dann gibt Gideon seinen Posten als Strafverteidiger auf und nimmt sich Urlaub von eben diesem Leben, um nach Eilat zu gehen und zu fischen. Amia, die ihre Karriere als Steuerberaterin ebenfalls in den Wind geschrieben hat, um den winzigen Lebensmittelladen ihrer verstorbenen Eltern weiterzuführen, mietet mit dem fünfjährigen Nadav ein kleines Haus neben dem Wald außerhalb von Tel Aviv. Der alte Nachbar ist ein Griesgram, ein junges Mädchen, das sich die kleine russische Hure nennt, bringt Ärger, der Sommer brennt heiß, und Amia kann nichts tun außer zu warten. Ist Gideo verrückt geworden? Lässt er sie tatsächlich im Stich? „Ein Mann, der einen guten Platz vorn im Autobus gehabt hatte und plötzlich beschloss, auszusteigen und der seither keinen richtigen Platz fand.“ Amia braucht ihren Mann – und spürt, dass sie kein Recht auf ihn hat. „Was gibt es zu verstehen?“, sagt Gideon, „die Dinge geschehen einfach, man braucht keine geheimnisvollen Gründe zu suchen.“ Doch das ist nur die halbe Wahrheit, denn Geheimnisse gibt es sehr wohl: Erst entdeckt Amia das Geheimnis ihres einsamen, traurigen Nachbarn, und schließlich wird auch offenbar, was Gideon zu verbergen suchte.

Mira Magén ist eine der bedeutendsten Autorinnen Israels und wurde bereits mehrfach für ihr wichtiges Werk ausgezeichnet. In Wodka und Brot erzählt sie von einem jungen Ehepaar, das – mitten in den allezeit präsenten politischen Wirren Tel Avivs – vom Weg abweicht und abkommt und sich verirrt. Plötzlich stellt sich die Frage: Wie stark bindet einen die Verpflichtung, die man dem anderen gegenüber eingegangen ist? Kann man jemanden zum Bleiben zwingen, wenn er gehen will? Die völlige Halt- und Orientierungslosigkeit, die Ich-Erzählerin Amia spürt, prägt den gesamten Roman. Seltsam mäandernd und gleichfalls haltlos ist Mira Magéns Sprache, die mir die Füße umwickelt wie weiches Leder und mich mitnimmt auf den Marsch durch dieses Buch. Es gelingt mir nicht immer, Amia zu folgen – wie sie selbst verliere ich an manchen Wegkreuzungen die Orientierung, bleibe immer wieder stehen, um die leuchtende Vielfalt der Stadt zu bestaunen, werde unterwegs aufgehalten und vergesse, wohin ich eigentlich will. Ich muss mich stets stark konzentrieren, um nicht aus diesem Roman zu fallen. Wir beide würden aus dem Labyrinth dieser Geschichte nicht mehr herausfinden, gäbe es nicht Nadav, den Jungen, der alles sieht und wenig versteht und der seine Mutter braucht. Er ist Amias Anker und verhindert ihr Abdriften. Er ist der Beweis, dass Kinder uns, wenn wir Glück haben, festhalten im Leben, im Hier und Jetzt, mit ihren kleinen Händen und ihrer Bedürftigkeit. Vielleicht ist dies die einzige Liebe, die uns retten kann.

Der Weg mit Amia ist anstrengend. Ich sehe sie oft von der Seite an, während sie harmlos lächelt und die Sorgenfalten neben ihren Augen ihre wahren Gefühle verraten. Sie wartet, merkwürdig stumm und antriebslos, denn im Angesicht einer drohenden Katastrophe verlässt uns oft jede Kraft zu handeln. Ich lasse mich ablenken von den Blicken in eine fremde Stadt und eine fremde Kultur, die Mira Magén mir schenkt, ich schmecke Oliven, Käse, bittere Orangen, ich spüre die Gefahr, die mit jedem Atemzug in meine Lungen dringt. Mira Magéns Roman ist lebendig, schillernd, fordernd und klug. Lange Zeit frage ich mich, was die Autorin mir sagen will mir ihren gezielt gesetzten, starken Worten, wie die Botschaft lautet hinter dieser Geschichte rund um das Zersplittern einer Ehe, den größtmöglichen Verlust und einen kleinen Hund namens Wodka. Am Ende stelle ich fest, dass ich es nicht weiß. Dass das aber auch nichts macht. Denn „das Leben nimmt seinen Lauf und nichts hängt mit nichts zusammen“.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein sehr schönes, gefühlvolles Bild.
… fürs Hirn: die Frage nach der Selbstbestimmtheit unseres Lebens.
… fürs Herz: dass die Zeit, in der man bereits weiß, dass man bald etwas verlieren wird, den Schmerz vervielfacht.
… fürs Gedächtnis: die unbestimmte Verlorenheit, die das ganze Buch durchwirkt.

Wodka und Brot von Mira Magén ist erschienen bei dtv (ISBN 978-3-423-24923-2, 400 Seiten, 16,90 Euro).

Bücherwurmloch

Wenn es so schön raschelt unterm Christbaum …
… dann kommt vielleicht, wenn das Geschenkspapier zerknüllt ist, ein Buch zum Vorschein. Zumindest hoffe ich selbst darauf, denn mein Wunschzettel ist auch dieses Jahr mit Büchern gefüllt – und was Besseres kann das Christkind mir nicht bringen. Seit einiger Zeit wage ich es auch wieder, selbst Bücher zu verschenken … was ja immer ein bisschen riskant ist. Selbst wenn man ein Buch wählt, von dem man selbst beeindruckt war, bedeutet das freilich nicht, dass es dem Beschenkten ebenfalls so geht. Aber einen Versuch ist es immer wert! Und wenn ihr noch nicht so recht wisst, welches Buch es denn bitteschön sein soll, hab ich hier ein paar Tipps für euch, ganz spontan nach dem Motto “Ohja, das hat mir gefallen, das kann ich empfehlen!” aus dem Bücherwurmloch-Fundus gezogen. Heiteres ist ebenso dabei wie Perfides, Melancholisches genauso wie Amüsantes. Die ausführlichen Rezensionen dazu könnt ihr natürlich hier im Bücherwurmloch nachlesen. Vielleicht findet ihr etwas, das zu demjenigen passt, den ihr beschenken möchtet. Damit es so wunderbar raschelt unterm Christbaum – auch wenn Weihnachtspapier längst weg ist …
Seethaler

Krauss

Petterson Pferde

Jones

Parks

Koch

Flasar

Parkkinen

Siepen

Erdrich

Jordan

Melandri

Bücherwurmloch

IMG_395924 Grüße vom Nikolaus
Der Nikolaus hat mich besucht und weil ich – wie könnte es anders sein – immer unfassbar brav war, hat er mir was ganz Besonderes mitgebracht: Das Buch der Wünsche von Peter Mathews. Warum es so besonders ist? Weil man es erst öffnen muss, um es lesen zu können. Nicht öffnen im herkömmlichen Sinn allerdings. Nein, aufschneiden! Jede Doppelseite ist wie das Kästchen eines Adventkalenders. Verziert sind die 24 Doppelseiten mit Illustrationen von Nic Klein. Drinnen wartet die Geschichte, und da muss ich erst mal drankommen. Wobei ich noch nicht weiß, wie ich es schaffen soll, tatsächlich ein Buch zu zerschneiden … Aber umso gespannter bin ich auf den Inhalt dieses einzigartigen Adventkalenders! Und euch wünsche ich von Herzen eine stressfreie, entspannte und unvergesslich schöne Vorweihnachtszeit.

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Gut und sättigend: 3 Sterne

Chatelet„Wenn man seinem Schicksal begegnet, muß das ein Geheimnis bleiben. Das ist der Preis, den die Magie erfordert“
„Marthe hat soeben ihren ersten Liebesbrief erhalten. Sie ist siebzig Jahre alt.“ Und Felix, der Verfasser des Briefs, ist sogar noch zehn Jahre älter – aber so leidenschaftlich wie ein junger Mann. Die Begegnung mit ihm bringt Bewegung in Marthes beigefarbenes Leben. Zuvor hat das Schicksal ihr nicht viel Liebe beschert, sondern einen langweiligen Ehemann und zwei brave Kinder. Der Mann ist längst tot, die Kinder sind aus dem Haus, als Felix – der Mann mit den tausend Halstüchern – Marthes Alltag durcheinanderwirbelt. Er löst all jene Gefühle in ihr aus, derer sie sich gar nicht fähig glaubte. Aber darf man das überhaupt: sich Hals über Kopf verlieben, wenn man alt ist? Wie geht man um mit den skeptischen Blicken der Nachbarn und der Familie? Und was tun, wenn das Herz will, aber der Körper nicht mehr kann: „Was hat dieser erschöpfte Körper, der sie hemmt und hindert, mit der Leichtigkeit ihrer Seele gemein, die zu allen kühnen Taten bereit ist?“ Marthe tut endlich, was sie will und mit wem sie will. Und sie spürt: Vielleicht wird die Zeit umso intensiver, wenn man weiß, dass einem fast nichts davon bleibt.

Die Klatschmohnfrau von Noëlle Châtelet ist ein kleines würfelförmiges Punschkrapferl: süß und köstlich und klebrig und schnell weg. Ganz heiter und gelöst erzählt die französische Autorin von einer Liebe, die spät, sehr spät, aber gerade noch rechtzeitig kommt. Haut, die schon ganz fahl war, beginnt zu glühen, und zwei Leben, die schon ein bisschen angestaubt waren, kommen noch einmal in Schwung. Das ist schön und romantisch, nur ein klein wenig kitschig und wärmt ganz nebenbei das Herz. Protagonistin Marthe ist eine liebenswürdige alte Dame, cremefarben und gelangweilt, die durch die Begegnung mit Felix mit siebzig Jahren noch einmal oder überhaupt zum ersten Mal aufblüht – und ihre Vorliebe für Klatschmohnrot wiederentdeckt. Ich freue mich aufrichtig für sie und fiebere mit ihr mit, wenn sie sich aufgeregt auf ein Rendezvous vorbereitet, wenn sie zum Café eilt, um Felix zu sehen, wenn sie sich dem Musikgenuss oder der Liebe hingibt. Die Widrigkeiten, die ihnen das Leben entgegenstellt, sind schnell überwunden, und so zwinkere ich Marthe vergnügt zu, bevor ich sie mit ihrem späten, aber umso größeren Glück allein lasse. Und mir die Botschaft des Buchs in glühend goldenen Lettern mit nachhause nehme: Warte nicht, warte niemals, tu alles, was du willst, und tu es jetzt.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
nun ja. Passt immerhin zum Titel, gibt aber sonst nicht viel her.
… fürs Hirn: ach, wer muss schon immer was zu denken haben!
… fürs Herz: da gibt es dafür umso mehr.
… fürs Gedächtnis: die diebische Freude über Marthes Verliebtheit.