„Man kann hundert Jahre mit einem Menschen leben und weiß doch nichts von ihm“
Amia und Gideon hatten das, was man unter einem guten Leben versteht: Erfolg, Geld, ein liebes Kind, ein bisschen Glück. Doch dann gibt Gideon seinen Posten als Strafverteidiger auf und nimmt sich Urlaub von eben diesem Leben, um nach Eilat zu gehen und zu fischen. Amia, die ihre Karriere als Steuerberaterin ebenfalls in den Wind geschrieben hat, um den winzigen Lebensmittelladen ihrer verstorbenen Eltern weiterzuführen, mietet mit dem fünfjährigen Nadav ein kleines Haus neben dem Wald außerhalb von Tel Aviv. Der alte Nachbar ist ein Griesgram, ein junges Mädchen, das sich die kleine russische Hure nennt, bringt Ärger, der Sommer brennt heiß, und Amia kann nichts tun außer zu warten. Ist Gideo verrückt geworden? Lässt er sie tatsächlich im Stich? „Ein Mann, der einen guten Platz vorn im Autobus gehabt hatte und plötzlich beschloss, auszusteigen und der seither keinen richtigen Platz fand.“ Amia braucht ihren Mann – und spürt, dass sie kein Recht auf ihn hat. „Was gibt es zu verstehen?“, sagt Gideon, „die Dinge geschehen einfach, man braucht keine geheimnisvollen Gründe zu suchen.“ Doch das ist nur die halbe Wahrheit, denn Geheimnisse gibt es sehr wohl: Erst entdeckt Amia das Geheimnis ihres einsamen, traurigen Nachbarn, und schließlich wird auch offenbar, was Gideon zu verbergen suchte.
Mira Magén ist eine der bedeutendsten Autorinnen Israels und wurde bereits mehrfach für ihr wichtiges Werk ausgezeichnet. In Wodka und Brot erzählt sie von einem jungen Ehepaar, das – mitten in den allezeit präsenten politischen Wirren Tel Avivs – vom Weg abweicht und abkommt und sich verirrt. Plötzlich stellt sich die Frage: Wie stark bindet einen die Verpflichtung, die man dem anderen gegenüber eingegangen ist? Kann man jemanden zum Bleiben zwingen, wenn er gehen will? Die völlige Halt- und Orientierungslosigkeit, die Ich-Erzählerin Amia spürt, prägt den gesamten Roman. Seltsam mäandernd und gleichfalls haltlos ist Mira Magéns Sprache, die mir die Füße umwickelt wie weiches Leder und mich mitnimmt auf den Marsch durch dieses Buch. Es gelingt mir nicht immer, Amia zu folgen – wie sie selbst verliere ich an manchen Wegkreuzungen die Orientierung, bleibe immer wieder stehen, um die leuchtende Vielfalt der Stadt zu bestaunen, werde unterwegs aufgehalten und vergesse, wohin ich eigentlich will. Ich muss mich stets stark konzentrieren, um nicht aus diesem Roman zu fallen. Wir beide würden aus dem Labyrinth dieser Geschichte nicht mehr herausfinden, gäbe es nicht Nadav, den Jungen, der alles sieht und wenig versteht und der seine Mutter braucht. Er ist Amias Anker und verhindert ihr Abdriften. Er ist der Beweis, dass Kinder uns, wenn wir Glück haben, festhalten im Leben, im Hier und Jetzt, mit ihren kleinen Händen und ihrer Bedürftigkeit. Vielleicht ist dies die einzige Liebe, die uns retten kann.
Der Weg mit Amia ist anstrengend. Ich sehe sie oft von der Seite an, während sie harmlos lächelt und die Sorgenfalten neben ihren Augen ihre wahren Gefühle verraten. Sie wartet, merkwürdig stumm und antriebslos, denn im Angesicht einer drohenden Katastrophe verlässt uns oft jede Kraft zu handeln. Ich lasse mich ablenken von den Blicken in eine fremde Stadt und eine fremde Kultur, die Mira Magén mir schenkt, ich schmecke Oliven, Käse, bittere Orangen, ich spüre die Gefahr, die mit jedem Atemzug in meine Lungen dringt. Mira Magéns Roman ist lebendig, schillernd, fordernd und klug. Lange Zeit frage ich mich, was die Autorin mir sagen will mir ihren gezielt gesetzten, starken Worten, wie die Botschaft lautet hinter dieser Geschichte rund um das Zersplittern einer Ehe, den größtmöglichen Verlust und einen kleinen Hund namens Wodka. Am Ende stelle ich fest, dass ich es nicht weiß. Dass das aber auch nichts macht. Denn „das Leben nimmt seinen Lauf und nichts hängt mit nichts zusammen“.
Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge: ein sehr schönes, gefühlvolles Bild.
… fürs Hirn: die Frage nach der Selbstbestimmtheit unseres Lebens.
… fürs Herz: dass die Zeit, in der man bereits weiß, dass man bald etwas verlieren wird, den Schmerz vervielfacht.
… fürs Gedächtnis: die unbestimmte Verlorenheit, die das ganze Buch durchwirkt.
Wodka und Brot von Mira Magén ist erschienen bei dtv (ISBN 978-3-423-24923-2, 400 Seiten, 16,90 Euro).
Um ehrlich zu sein habe ich vor Deiner Rezension noch nie etwas von Mira Magén gehört, geschweige denn gelesen. Doch das will ich jetzt unbedingt nachholen. Denn auch wenn es sich so anhört als wäre dieses Buch eines, was die volle Aufmerksamkeit seines Lesers fordert und ihn straft sobald er abschweift, klingt es auch so als lohne es sich diesen Marsch, wie du sagst, anzutreten.
LG, Katarina 🙂
Der Marsch lohnt sich auf jeden Fall, liebe Katharina! Das hat auch Svenja so empfunden, die gleich noch ein zweites Buch von Mira Magén gelesen hat: http://synaesthetisch.wordpress.com/
Und die Autorin versteht es wirklich gut, den Leser in die ganz alltägliche Welt Israels mitzunehmen, das ist beeindruckend.
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Nachdem ich das erste Buch von Mira Magén gelesen hab ( zufällig in der Bücherei geliehen ´Die Zeit wird es zeigen´ war es) konnte ich nicht anders, als all ihre Bücher zu kaufen und zu lesen, und jedes war ein kleines Wunder. Selten hat mich Literatur so berührt wie diese. Selten habe ich soviel Lebensweisheit in geschriebenen Worten erlebt und es ist sehr beglückend sich in den Geschichten wiederzufinden: das Leben ist nun mal nicht immer ´easy going ´ und so darf man getrost zu den Fragenden gehören, die Mira Magén in all ihren Büchern den bedingungslos Frommen entgegenstellt. Auch wenn es schwerer ist.
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