Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

LjubicVon der Frage nach der Schuld und der Unmöglichkeit, sie zu beantworten
„Ich sitze hier, damit niemand vergessen kann. Solange es Menschen gibt, die erzählen, bleibt die Erinnerung wach und die Hoffnung, dass die Schuldigen bestraft werden.“ Das sagt einer der Zeugen im Prozess gegen Zlatko Šimič vor dem Kriegsgericht in Den Haag, wo er angeklagt ist, weil er im jugoslawischen Krieg 42 Menschen in ein Haus gelockt haben soll, das auf sein Geheiß hin angezündet wurde. Nur ein Mädchen hat überlebt – und erzählt seine Geschichte. Unter den Zuhörern befindet sich der junge Robert, der extra aus Deutschland angereist ist. Robert liebt Ana, und Ana ist Zlatkos Tochter. Bevor er Ana kennenlernte, interessierte Robert sich nicht für seine kroatische Abstammung, jetzt tut es ihm leid, dass er Anas Sprache nicht beherrscht. Vielleicht hätte sie dann einen Weg gefunden, mit ihm zu sprechen, das Geheimnis rund um ihren Vater, das sie so sehr belastet, mit ihm zu teilen. Das ist nicht geschehen, und so sucht Robert in Den Haag eine Antwort auf die Frage, ob Anas Vater ein Verbrecher ist und wie er die Beziehung zu Ana retten kann.

„Ich weiß nicht, warum, aber es ist offenbar immer der Vater, an dem man sich ein Leben lang reibt, dessen Stimme bis ins Alter nachklingt.“ Dies ist sozusagen das Motto für Nicol Ljubić‘ Roman Meeresstille, in dem eine Vater-Tochter-Beziehung im Mittelpunkt steht, die unter einer großen Schuld zerbrochen ist. Zum Ich-Erzähler macht der kroatische Autor, der in Berlin lebt, aber weder Vater Zlatko noch Tochter Ana, sondern deren Freund Robert, einen Außenstehenden, der durch seine Gefühle für Ana dennoch involviert ist. Er ist verwirrt und verletzt, er hat keinen Bezug zum Krieg in seiner Heimat, und er hadert damit, dass ihm ein Hindernis den Weg zu Ana versperrt, das er nicht aus dem Weg räumen kann: die Gräueltaten eines Fremden. Gemeinsam mit Robert sitze ich im Gerichtssaal und lausche den Schilderungen von den Grausamkeiten, die Zlatko begangen haben soll, höre die Schreie der Eingeschlossenen und das Knistern des Feuers. Wir sind entsetzt, Robert und ich, befremdet und abgestoßen, wir suchen nach der Wahrheit in den Aussagen der Zeugen und den Augen des vermeintlichen Verbrechers. Aber wir finden nur unsere eigenen Zweifel.

In Meeresstille fragt Nicol Ljubić nach der Unfehlbarkeit von Schuldzuweisungen und Urteilen. Sein Blick ist dabei hart und gnadenlos, und er fängt all das Schreckliche ein, das dieses Kriegsverbrechen ausgelöst hat: den Tod vieler unschuldiger Menschen, das Zerbrechen einer Familie, das Scheitern einer Beziehung in der nächsten Generation. Der Krieg, der vorbei ist, gärt noch in den Menschen, die getroffen wurden, er zeigt sich als Virus, das sich weiter überträgt und nicht bekämpft werden kann. Dieser Roman macht keine Späße, er meint es mit jedem Satz ernst. Er hat keine Zeit für Schnörkeleien und nette Wortspiele, und er hat keine Geduld für Poesie. Er will erzählen, damit nicht vergessen wird, er will berichten und mit dem Finger auf jene zeigen, die getötet haben – auch wenn es sich nicht beweisen lässt. Ein sehr trauriges, anklagendes, wichtiges Buch.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
von der Farbgebung her gefällt mir das Cover, das Motiv selbst finde ich zu banal.
… fürs Hirn: die Probleme, die unser Rechtssytem aufwirft, die Frage nach der Möglichkeit, die Wahrheit aufzudecken, und das ewige Fortdauern von Schuld.
… fürs Herz: Roberts Liebe zu Ana.
… fürs Gedächtnis: der Schmerz aller Beteiligten.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Flor„Wir sind alle käuflich“
Mit dem willkürlich gewählten Namen Lilly und einem Blowjob im Fahrstuhl landet eine junge Frau aus einem europäischen Land, in dem sie nicht mehr sein will, ihr Ziel: Sie heiratet den amerikanischen Medientycoon Basil Duncan. Es folgen die Aufnahme in die illustre Gesellschaft, ein Haus am Meer, zwei Söhne – und der ebenso vorhersehbare wie klischeehafte Austausch gegen eine jüngere Frau. Lilly, die keine Gefühle für Duncan oder ihre Kinder hegt, ist weder verletzt noch überrascht, doch die Saat, die zu einem ausgewachsenen Rachebedürfnis werden soll, ist gelegt. Einen Verbündeten findet sie dafür in Alexander, Duncans Handlanger und Nachfolger, an den sie von ihrem Ehemann mit einem belustigten Schmunzeln weitergereicht wird. Lilly akzeptiert die Scheidung und Alexander als den neuen Mann an ihrer Seite, aber im Innersten will sie nur eins: Blut sehen.

Die Königin ist tot von Olga Flor ist ein verstörender, zutiefst beunruhigender Roman über eine Frau, die alles hat und nichts davon liebt. Die österreichische Schriftstellerin, die mit einem anderen Buch für den Deutschen Buchpreis nominiert war, fängt mit ihrer Ich-Erzählerin jene Vorstellung ein, die man haben kann von osteuropäischen, aufoperierten Frauen, die sich als schönes Dekorationsobjekt an den Arm eines reichen Mannes hängen und dabei vor allem durch ihren leeren Blick auffallen. Geldgierig sind sie, süchtig nach Schmuck und Schuhen und Anerkennung. Für Lilly erfüllen sich all diese Träume, doch es wirkt, als hätte sie sie nie gehabt, so emotionslos steht sie ihrem Leben im Überfluss gegenüber. Sie ist eine Puppe, antriebslos, willenlos, orientierungslos, und trägt selbst die Schuld daran, dass sie für ihren Mann letztlich austauschbar wird. Um Macht und Manipulation geht es in diesem bitterbösen und düsteren Buch, um Kontrolle und innere Leere.

Dieser Roman ist für mich wie ein Schnitt in den Finger. Unangenehm und ein wenig ärgerlich, aber dennoch faszinierend, sodass ich daran herumdrücke, um zu sehen, wie das Blut hervorquillt. Ich starre Lilly an, betrachte sie von allen Seiten, suche ihre Wunde und frage mich, ob sie echt ist, weil sie so distanziert und frei von Emotionen scheint. „Was meine eigenen Gefühle betrifft“, sagt sie mir, „habe ich manchmal den Eindruck, als seien sie von mir abgetrennt und sicher unter Glas verwahrt, in kleinen musealen Glasbehältern wie interessante Tierpräparate, die ich hervorholen und bewundern kann auf ihren gedrechselten Bodenplatten.“ In ihrem Verhalten ist Lilly mir so fremd, dass ich ein fast abartiges Vergnügen daran habe, ihrer monotonen, kalten Stimme zu lauschen. Besonders krankhaft – oder gar normal? – für mich Lillys Gefühllosigkeit ihren Kindern gegenüber: „Ich weiß, dass es an der Zeit wäre, eine enge Beziehung zu den Kindern aufzubauen, doch es gelingt mir nicht, ich sehe mir selbst dabei zu, wie ich Gefühle konstatieren muss, ohne zu wissen, wie sie empfunden werden.“ Einzig in der Rache, im Blutdurst, spürt Lilly plötzlich sich selbst, behält aber ihren klinisch-nüchternen Erzählton bei. Wie diese Rache beschaffen sein wird, ist klar, und indem sie derart mit Klischees spielt, macht Olga Flor diesen Roman zu einer Persiflage auf eine gewisse Gesellschaftsschicht und unseren Umgang mit klassischen Gerüchten. Eine befremdliche, unerfreuliche, sonderbare und höchst bizarre Lektüre, die ich nicht vergessen kann.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
der Fahrstuhl steht in Verbindung zum Inhalt, der Hirsch ist … rätselhaft.
… fürs Hirn: ein blubberndes Lachen, das einem nicht im Hals, sondern im Hirn steckenbleibt, weil da eigentlich überhaupt gar nichts lustig ist, sondern die Realität sich als grausam entpuppt.
… fürs Herz: nichts, nichts, gar nichts, die Gefühllosigkeit der Protagonistin ist Dreh- und Angelpunkt des gesamten Romans.
… fürs Gedächtnis: das Eingeständnis, dass Olga Flor es geschafft hat, mich zu provozieren und zu schockieren.

Die Königin ist tot von Olga Flor ist erschienen im Zsolnay Verlag (ISBN 978-3-552-05578-0, 224 Seiten, 18,90 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Abonji„Es gibt immer einen Tag, an dem der Krieg vorbei ist, warum sollte dieser Tag nicht morgen sein?“
„Wir haben hier noch kein menschliches Schicksal, das müssen wir uns erst noch erarbeiten“, sagt die Mutter von Ildiko und Nomi, die seit vielen Jahren in der Schweiz leben und dort, wo die Gemeinschaft über ihren Verbleib abstimmt, eines Tages die Chance bekommen, ein Café zu führen. Sie arbeiten hart, die ganze Familie, sie arbeiten für Akzeptanz und Integration und Geld, sie arbeiten gegen die Vorurteile und gegen die Angst. Die Verwandten, die zurückgeblieben sind in Jugoslawien, leben anfangs ein wenig bescheidener und benachteiligter, aber dann leben sie plötzlich mitten im Krieg. Und Ildiko, die gerade dabei ist, einen Weg ins Erwachsenwerden zu finden, erinnert sich an die vielen Besuche in der alten Heimat als Kind, an Feste und Beerdigungen, an Mamikas Geschichten und den Geschmack von Limonaden, die es nicht mehr gibt, aber die Gefahren der Gegenwart ignoriert sie. Der Alltag von Vater, Mutter, Nomi und Ildi wird geprägt von der Arbeit im Café, von den Ansprüchen der Stammgäste, von Stoßzeiten und stickiger Luft – der Krieg zuhause bleibt außen vor, wird verdrängt. Sie können niemanden aus dem belagerten Land herausholen, sie können nur warten und hoffen.

Mit ihrem Roman Tauben fliegen auf hat die in Serbien geborene Autorin Melinda Nadj Abonji, die seit ihrem fünften Lebensjahr in der Schweiz wohnt, 2010 sowohl den Schweizer als auch den Deutschen Buchpreis gewonnen. Sie konnte mit Sicherheit aus dem Fundus ihrer eigenen Erfahrungen mit der Schweizer Fremdenfeindlichkeit schöpfen, die als Freundlichkeit oder Gleichgültigkeit getarnt ist. Sie erweckt jene Welt am Balkan zum Leben, die – zumindest in Teilen – verschwunden ist und aus der so viele Menschen in Österreich, Deutschland und der Schweiz stammen, weil sie fliehen mussten vor dem Bürgerkrieg mitten in Europa. In uferlosen, überbordenden Sätzen taucht Ich-Erzählerin Ildiko ein in das Land ihrer Kindheit, schmeckt die traditionellen Gerichte der in Serbien beheimateten Ungarn, hört Mamikas Lieblingslied im Ohr: „Wenn ich ein Fluss wäre, wäre Schmerz mir fremd, zwischen Bergen und Tälern würde ich leise fließen …“ und vermischt die Gefühle jenes Lebens, das sie aufgrund der Auswanderungsentscheidung ihrer Eltern nie geführt hat, mit der Realität des Alltags in der Fremde – die inzwischen genauso Heimat ist.

Tauben fliegen auf ist ein Buch voller Wehmut und Sentimentalität, voller Sehnsucht nach etwas, das man nie hatte. Der Klappentext zitiert die NZZ und nennt Melinda Nadj Abonjis Schreiben „die zeitgemäße Form, über Emigration, entschwindende Heimat und das Leben im Dazwischen“ zu erzählen. Dieser Roman ist gefüllt mit Sätzen, in denen ich ertrinke, weil mir die Luft ausgeht, lange bevor ein Punkt am Ende in Sicht ist. Die Ich-Erzählerin ist eine genaue Beobachterin, die nicht immer prägnant formuliert, aber stets trifft: „In dieser Zeit habe ich gelernt, dass es Menschen gibt, die liefern Gesprächsstoff, und die andern, die brauchen ihn.“ Weitaus nüchterner und weniger poetisch als das thematisch vergleichbare Buch Die undankbare Fremde von Irena Brežná ist dieses Buch – aber nicht weniger gut. Dieser Roman ist wie das Statement einer Generation, die sich weit entfernt hat von ihren Wurzeln, diese aber nicht vergessen kann. Beeindruckend, gefühlvoll, schön.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
das Cover ist gut gemacht, der Wagen hat Bezug zum Inhalt.
… fürs Hirn: noch ein Buch über dieses Thema – mag sein, aber es ist ausgezeichnet und verdient es, gelesen zu werden. Davon abgesehen, dass das Thema nun einmal ein wichtiges ist.
… fürs Herz: Ildikos erste Liebe.
… fürs Gedächtnis: die Sprachgewalt.

Nicht mein Geschmack

Eine große Veränderung im Bücherwurmloch
Es gab eine Zeit, da wollte ich meine Meinung kundtun, wenn ein Buch mir meine Zeit stahl, ich wollte erklären, warum ich es nicht mochte und weshalb es mir leid war um die Bäume, die dafür hatten sterben müssen. Dies war sogar einer der Gründe für das Ins-Leben-Rufen des Bücherwurmlochs. Zwar lag es mir nie, mich großartig über Unbedeutendes aufzuregen, doch bei Büchern ging oft die Leidenschaft mit mir durch. Doch seither sind ein paar Jahre vergangen, und in letzter Zeit habe ich immer öfter festgestellt, dass es mir widerstrebt, hier ein Buch in Papierstreifen zu zerreißen, dass ich nicht mehr schimpfen und zetern und verbal um mich treten mag, im Gegenteil, ich wünsche mir, nur die Guten hereinzulassen durch die Blogtür und allen anderen den Zutritt zu verweigern. Was bedeutet das? Dass sich jetzt etwas im Bücherwurmloch ändert: Ab sofort wird es von Büchern, die mir nicht gefallen haben, keine ausführlichen Rezensionen mehr geben. Ganz unerwähnt lassen möchte ich sie aber auch nicht, denn vielleicht ergibt sich ein Austausch oder eine Diskussion, womöglich hat jemand von euch eins dieser Bücher besonders goutiert und sagt mir, warum, oder ein anderer stimmt mir zu. Deshalb werde ich in Kürzestform diese Romane, die mir nicht geschmeckt haben, in der neuen Kategorie “Nicht mein Geschmack” vorstellen. Einigermaßen wertfrei, denn wir wissen ja alle, wie subjektiv die Lesermeinung ist. Konzentrieren werde ich mich in Zukunft – nach prominentem Vorbild vieler meiner lieben Bloggerkolleginnen – auf die Goldnuggets unter den Büchern, die Perlen, die Gustostückerln. Büchern, die mir meine Zeit stehlen, möchte ich in Zukunft nicht noch mehr Zeit widmen, indem ich über sie schreibe.

NMG 1

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Da ich seit Monaten über diese Entscheidung nachdenke, hat sich hier ein Stapel ungeliebter Bücher angehäuft, die gleich heute den Anfang machen.

Die Augen des Meeres von Ioanna Karystiani hat mich durch seine gestelzte, verschraubte Sprache abgeschreckt und inhaltlich leider gelangweilt. Die Geschichte des erblindenden Kapitäns, der sein Schiff nicht verlassen will, klang spannender, als sie es letztlich war.

Die Eismalerin von Kristín Marja Baldursdóttir ist ein interessantes Porträt einer vergangenen Zeit und zeigt eindringlich, wie Frauen im fernen Island früher lebten und wie hart sie arbeiten mussten. Diesen Einblick fand ich faszinierend, die Geschichte bot mir aber zu wenig Fantasie, sie ist so gleichförmig wie die Aneinanderreihung der ewig gleichen, eintönigen Arbeiten an der Nähmaschine, beim Fischen, Melken und Putzen.

Drei starke Frauen von Marie NDiaye ist ein wichtiges Buch, das viele Leser und Kritiker begeistert hat. Es thematisiert die Gewalt, das Leid, die Unterdrückung der Frau. Ich konnte jedoch zu den drei Geschichten keinerlei Zugang finden, ich fühlte mich regelrecht abgestoßen von der teilweise wirren, anstrengenden Beschreibung. Die Figuren waren mir unsympathisch und sogar einerlei, ihr Schicksal hat mich getroffen, aber nicht berührt.

Die blinde Küste von Carlos María Domínguez ist kurz und knapp, aber dennoch zäh zu lesen. Dieser große Zufall, der die beiden Figuren im Buch zusammenbringt, ist mir suspekt.

Das Kind, das vom Ende der Welt träumte von Antonio Scurati ist sehr dröge, unfassbar nüchtern und langweilig geschrieben, das Thema – ein angeblicher Missbrauch von Kindern – wird sehr journalistisch und leblos angegangen. Im Nachhinein habe ich Kritiken gelesen, die das Buch als Abfall bezeichneten, das hätte ich mal vorher tun sollen.

Der Zauber der ersten Seite von Laurence Cossé erzählt eine durchaus mitreißende Geschichte, die vor allem bibliophilen Menschen gefallen dürfte, denn es geht darin in erster Linie um Bücher. Ich hab es brav durchgelesen, fand es aber stellenweise viel zu langatmig, und am Ende habe ich es ganz plötzlich wieder vergessen.

Für Gourmets: 5 Sterne

TellierRingelreia für Erwachsene

Handelnde Personen:
Anna, verheiratet mit Stan, Mutter von zwei Kindern
Louise, verheiratet mit Romain, Mutter von zwei Kindern
Thomas, Psychotherapeut, geschieden
Yves, Schriftsteller, locker liiert

Der Liebestanz:
Anna ist gebunden an Stan. Dann trifft Anna Yves und – milde frustriert von ihrem Dasein als Ehefrau und Mutter – verliebt sich. Sie spürt jenes wunderbare Kribbeln, das sie im Alltag vermisst. Yves spürt es auch. Er ist vergeben, aber er trennt sich ohne Zögern von seiner Freundin, mit der ihn kein Ring verband. Thomas ist Annas Therapeut. Auf einer Party trifft Thomas Louise und ist sofort hingerissen. Louise mag Thomas ebenfalls, ist aber verheiratet mit Romain. Was sie allerdings nicht daran hindert, sich bereitwillig dieser Lust hinzugeben, die nur eine frische Leidenschaft bringen kann. Beide Männer sind verfügbar, beide Frauen nicht. Doch das Schicksal knüpft neue Bande, zeigt den Liebenden Alternativmöglichkeiten und lässt den Zufall walten: Eine Ehe wird beendet, die andere nicht.

Ist es tatsächlich unser Herz, das entscheidet, wen wir lieben, oder sind es nicht vielleicht unsere Füße, weil sie uns dorthin bringen, wo wir jemandem begegnen, den wir lieben können? Der französische Autor Hervé Le Tellier zeigt in Kein Wort mehr über Liebe, wie schnell und leicht wir uns zu jemandem hingezogen fühlen – und wie unverbindlich dieses Gefühl ist. Wer mit wem zusammen ist, scheint eine Laune der Natur, der Hormone, des Zufalls, und hätten wir nicht das einengende Konzept der Ehe erfunden, wir würden noch viel freier mit unseren Trieben umgehen. Ich folge den Betrügern durch Paris, den klappernden Schritten der Ehefrauen auf dem Weg zu ihren Liebhabern, ich bin stumme Zeugin ihrer heimlichen Stelldicheins und bin zwar nicht überrascht, wie bereitwillig sie sich auf eine Affäre einlassen, aber doch verblüfft, dass es in beiden Fällen gleich um alles geht: neue Liebe, das Kennenlernen der Kinder, Scheidung. Ich hatte Sex erwartet, leidenschaftlichen, aber unbedeutenden Fremdsex, ein bisschen Geflirte und Bestätigung fürs Hausfrauenego – aber ich bekomme Verliebtheit, neue Lebenspläne, Überlegungen, wie der finanzielle und räumliche Wechseln von einem Mann zum anderen vonstattengehen könnte. Dieser Widerspruch lässt mich perplex zurück, denn während Hervé Le Tellier seine zwei Frauen ganz nonchalant weiterreicht, als sei nichts dabei, bindet er sie gleich an ihre Liebhaber. Schön ist, dass ich es im Roman mit intelligenten Menschen zu tun habe, die das gesamte Thema sowie ihre eigene Situation sehr reflektiert angehen – und dass der Autor hinreißende Worte für die vielen Facetten der Liebe findet.

Diese Leichtigkeit, mit der Herzen gebrochen werden und neue Paarungen zusammenfinden, hat etwas typisch Französisches beziehungsweise bedient meine Klischeevorstellung vom typisch Französischen. Niemand hat ein exklusives Recht auf einen anderen, und ein Ring am Finger ist letztlich nur Schmuck. Dennoch wirkt es in diesem Buch, als würden sie es sehr ernst nehmen mit der Liebe, die Franzosen. Hervé Le Tellier hat einen pfiffigen, intelligenten und anspruchsvollen Roman geschrieben über die Unfähigkeit des Menschen, einem anderen treu zu sein. Gefüllt mit allerhand Wissenswertem zu Literatur und Kultur, ist dies ein Buch, das zeigt, dass wir nicht ewig verliebt bleiben können, dass uns die Leidenschaft abhandenkommt, dass sich prickelnde Alternativen bieten, denen die Monogamie wenig entgegensetzen kann. Deshalb ist Kein Wort mehr über Liebe ein Roman für alle, die nicht an die Monogamie glauben. Und mehr noch für jene, die es tun.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein sehr, sehr schönes Cover. Auch den Titel finde ich grandios.
… fürs Hirn: viel Stoff zum Nachdenken über Moral, unsere Gesellschaft und die Macht der Hormone.
… fürs Herz: der Verdacht, dass es nicht die eine große Liebe in unserem Leben gibt, sondern viele – und dass wir bei der einen Liebe nur bleiben, wenn wir die anderen nicht finden.
… fürs Gedächtnis: Lieblingszitat: „Bücher sind wie die Tage des Lebens. Sie folgen aufeinander, und man lernt von jedem einzelnen.“

Gut und sättigend: 3 Sterne

JäckleVom selbstgewählten Ende eines Lebens
„Man muss sich vorstellen, wie das wohl ist, wenn einer den letzten Augenblick gesetzt hat, wie man einen Punkt setzt, nach dem beendeten Satz, wie das wohl ist, wenn einer geht.“ Noll ist noch nicht alt, aber Noll ist krank. Deshalb hat er beschlossen, dass es an einem Dienstag geschehen soll, um 16 Uhr, dass er aus dem Leben scheidet. Er will diesen Zeitpunkt selbst bestimmen, und zuvor will er sich erinnern: an die alte Geschichte des Großvaters, der sich selbst den Finger abgehackt hat, um nicht in den Krieg zu müssen, an die Beziehung zur Schwester, an die Frauen seines Lebens. Zu ihnen gehört Mara, mit der er nach Spanien ging, wo er ohne sie zurückblieb, Mara, die nirgendwo glücklich sein konnte: „Es ist ein Graus, wie man selbst alles dafür tut, das Glück unmöglich werden zu lassen, findest du nicht, hatte Mara gefragt.“ Das Glück sucht Noll schon lang nicht mehr – nur noch ein bisschen Würde.

Nina Jäckle widmet sich in ihrer kurzen Erzählung Noll auf recht nüchterne Art dem Freitod eines Menschen. Wie mag es sich anfühlen, wenn der Tag näher rückt, wenn die Stunde kommt, in der alles zu Ende sein wird? Die Autorin arbeitet gezielt mit Wiederholungen und Schleifen, immer wieder kehrt sie zurück zu Noll an den Küchentisch, wo er sitzt und nachdenkt, über die praktischen Details seines Selbstmords einerseits und über sein Leben andererseits. Ich setze mich also zu ihm und betrachte diesen kranken Mann, der niemandem etwas von seinem Plan sagt, der sich nicht verabschiedet und der mit seinen schweren Gedanken ganz allein ist. Seine Traurigkeit wird überstimmt von einer festen Entschlossenheit und einem Gefühl der Resignation, das auch all seine Erinnerungen überzieht. Weniger gut gefällt mir der zweite Teil des Buchs, in dem eine von ihrem Leben gelangweilte Versicherungsangestellte zu Wort kommt. Sie versucht, dem Geheimnis von Noll nachzuspüren, aber sie ist eine derart durchsichtige Gestalt, dass ich kein Interesse für sie aufbringen kann. Dennoch hat Nina Jäckles kühler Bericht über einen freiwilligen Abgang eine Wucht, die mich nicht kaltgelassen hat.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
so banal, wie das Leben eben ist.
… fürs Hirn: man muss sich vorstellen, wie das ist, wenn einer geht.
… fürs Herz: recht wenig Selbstmitleid, was gut ist.
… fürs Gedächtnis: eine gewisse Abgebrühtheit.

Für Gourmets: 5 Sterne

Basil„Memory, that old trickster, is cleverer than us all“
„You’re always making plans“, sagt Lina zu Anil. „Because plans are how you tame the future“, antwortet er. Lina und Anil, deren Namen gegengleich sind wie ihre Seelen, lernen sich kennen, als sie beide Studenten in London sind und jung. Anil stammt aus einer reichen kenianischen Familie und will Architekt werden, Linas Eltern leben bescheiden, sie selbst steht unter der Obhut ihrer Tante und studiert Jura im letzten Jahr. Während Anil in Liebe auf den ersten Blick entbrennt, gibt Lina sich zurückhaltend – kann seinem Charme aber nicht allzu lange widerstehen. Und so entspinnt sich nicht nur eine sinnliche, wahnwitzige Liebesgeschichte, sondern auch ein dichtes Lügengespinst, in dem die beiden Verliebten sich immer mehr verfangen. Denn was Anil in seiner naiven Unbedarftheit und seiner Arroganz lange Zeit ignoriert, wird zunehmend zum Problem: Er ist nicht praktizierender Sikh, Linas Eltern dagegen sind strenge Muslime, für die eine Heirat der Tochter mit einem Nicht-Muslim nicht infrage kommt. Lina belügt ihre Eltern, um Zeit mit Anil verbringen zu können, doch der fordert immer mehr von der Frau, mit der er sein Leben verbringen will. Die Beziehung leidet zunehmend unter dem Druck, der auf den beiden lastet, und es scheint, als sei es ihnen nicht vergönnt, ihr Schicksal selbst zu bestimmen.

The obscure logic of the heart ist eine moderne Romeo-und-Julia-Geschichte mit religiösem Hintergrund. Die Autorin, die in Kenia aufgewachsen ist, lässt abwechselnd Lina und Anil erzählen, gibt ihren Zweifeln und seiner Verzweiflung eine jeweils deutlich hörbare und authentische Stimme. Sehr glaubwürdig und einfühlsam porträtiert sie eine Liebe, die wie eine zarte Pflanze durch die Ritzen im Beton wächst, die sich nicht niedertrampeln lässt, die mühsam gehegt wird, während andere, die sie als Unkraut betrachten, sie auszurupfen suchen. Freilich ist eine Liebesgeschichte umso romantischer, je mehr die Liebenden gegen Widerstände kämpfen müssen und je größer die Zahl ihrer Feinde ist. Priya Basil zeigt aber auch, dass – getreu nach Shakespeare’schem Vorbild, wenn auch weniger tragisch – die Liebe gegen so viel Feindseligkeit oft nicht bestehen kann, dass die Pflanze manchmal schlussendlich verdorrt. Sie hat den Herzens- und Gewissenskonflikt, der dieses Buch beherrscht, sehr fein herausgearbeitet und den Roman mit vielen lebendigen Hintergrundgeschichten über die Armut in Kenia, die Schwierigkeiten von Hilfsorganisationen und über das Festhalten an Strukturen, die nicht mehr zeitgemäß sind, gefüllt. Ein wenig schade finde ich, dass der Fokus derart stark auf den Schwierigkeiten zwischen Lina und Anil liegt, dass kein Raum bleibt für jene jugendliche, verliebte Unbeschwertheit, die ich den beiden wünsche, sondern dass da in erster Linie Streitigkeiten und Diskussionen sind, Forderungen und Resignation, durch die die Liebesbeziehung in eine Schieflage gerät.

Ein sprachliches und inhaltliches Wunderwerk sind die Briefe, die im Roman auftauchen und von denen ich zuerst nicht weiß, wer sie an wen geschrieben hat. Als es mir schlussendlich klar wird, bin ich regelrecht erschüttert. Diese feinsinnigen, klugen, traurigen Briefe sind das Seil, das mich in dieses Buch zieht und mich an die vielen einzelnen Sätzen bindet, die unendlich schön sind: „If it was your intention to vanish without a trace, you neglected to consider the most incriminating article: me. I remain a repository of our past. On my shoulders: freckles from the day we spent in Brighton just before you left. On my hand: the scar from a cut sustained while clearing up the pieces of a glass we knocked over when I tried to teach you tango. On my feet: marks from the sandals I wore the day we walked from Regent’s Park back to the flat in Battersea. Physical wounds fade, but what about the scars of the mind?” Es liegt so viel Schmerz und Wut und Liebe in diesen Briefen, sie sind die Essenz des Vermissens, es tut weh, sie zu lesen, und sie machen diesen Roman für mich sensationell – genau wie sein Ende, dieses wunderbare, realistische, grandiose Ende. Ein Buch, das uns lehrt, was wir längst wissen: dass Religion, Hautfarbe, Nationalität nicht zählen sollten, sondern nur das Herz. „Because the heart is a black box. Every conquest, loss or rejection leaves its trace. We love according to what the heart has been taught. We love in the shadow – sometimes benign, sometimes malevolent – of every disappointment, betrayal or fulfillment. We love – and no god can control the feeling or mitigate the consequences.”

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein sehr schönes Cover.
… fürs Hirn: a whole lot of trouble.
… fürs Herz: das Buch zeigt erneut, wie viel größer und leidenschaftlicher eine Liebe ist, wenn ihr der Alltag verwehrt bleibt und sie ständig in ihrer Existenz bedroht ist.
… fürs Gedächtnis: vor allem die Briefe.

The obscure logic of the heart von Priya Basil ist auf Deutsch unter dem Titel Die Logik des Herzens bei Schöffling & Co. erschienen. Sehr lesenswerte Rezensionen findet ihr bei der Klappentexterin und Mara.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Mengestu„Nichts ist so wandelbar wie das Bild, das wir von uns selbst haben“
Drei Jahre musste Mariam zuhause in Äthiopien warten, bis sie ihrem Mann Josef nach Amerika folgen konnte. Dort angekommen, sehnt sie sich zurück in die Heimat, denn der Mann ist ihr ebenso fremd wie das Land und die Sprache. Mit dem Auto brechen die beiden, die sich kaum kennen, zu einer Hochzeitsreise ohne nennenswerte Highlights auf, einer Reise, die mit Gewalt beginnt und mit Gewalt endet. Dreißig Jahre später folgt Jonas, der Sohn von Mariam und Josef, den Spuren seiner Eltern und versucht zu ergründen, was auf dieser Reise geschehen ist und warum seine Jugend im lieblosen Elternhaus ihn nicht loslässt. Er hat seine Frau verlassen, ist geflohen vor den Problemen, die sich in der Ehe angehäuft haben wie Müllberge, und er hat den einzigen Job, den er je gern gemacht hat, verloren. Was er sucht, kann er nicht finden: Erlösung. Aber womöglich, so hofft er, öffnet sich ein Ausweg.

Die Melodie der Luft von Dinaw Mengestu, der in Äthiopien geboren und nach Amerika geflohen ist, ist ein vielschichtiges Buch. Es geht darin um Einwanderung, Entwurzelung und Fremdsein, um die Schwierigkeiten, die jede zwischenmenschliche Beziehung prägen, und um den Einfluss, den Eltern auf ihre Kinder haben. All diesen Themen widmet der Autor sich in seiner Geschichte, die er abwechselnd von Jonas in der Gegenwart und von Mutter Mariam in der Vergangenheit erzählen lässt. Feine, poetische Worte findet er für die Traurigkeit und die Ratlosigkeit, die auf diesen beiden Menschen liegen, und ich mag viele seiner Sätze, weil sie die Gefühle geschickt einfangen: „Hab keine Angst, ich bin gleich wieder da. Sie sagte es auf Englisch, der Sprache, die sie immer dann benutzte, wenn sie nicht sicher war, ob sie die Wahrheit sagte.“

Obwohl ich mich sowohl mit Jonas als auch mit Mariam auf einer Reise befinde – auf der gleichen Reise auf demselben Weg, nur zeitversetzt –, habe ich den Eindruck, mit diesem Buch nirgendwo anzukommen. Ich weiß nicht, wohin es mich führen soll, und die Erkenntnisse, die ich mir von meiner Spurensuche gemeinsam mit Jonas erwartet habe, bleiben aus. Am Ende blicke ich zurück auf eine einsame Straße, gepflastert mit schönen Sprachbildern, aber genauso leer wie zu Beginn. Vielleicht habe ich zu den beiden Figuren nicht genug Zugang gefunden, um jenes Mitgefühl zu entwickeln, das sie gebraucht hätten. Ihr Schicksal ist letztlich, wie unser aller Schicksal, banal, und es dauert erschreckend lange, bis sie es selbst in die Hand nehmen. Dinaw Mengestu hat sie ausgestattet mit einer Vergangenheit, mit Ängsten und Hoffnungen, aber sie bleiben dennoch Figuren, denen all ihre Eigenschaften anhaften wie Kleider aus Papier. Sie sind mir zu wenig lebendig, und ich möchte sie mehr als einmal gern auffordern, doch bitte wenigstens laut zu schreien, um zu zeigen, dass sie existieren. Uns allen gemeinsam ist zum Schluss eine große Orientierungslosigkeit, aber vielleicht ist das ja auch die zutreffendste Aussage, die man über das Leben machen kann: Sicher ist nichts.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein schönes, geheimnisvolles Cover.
… fürs Hirn: viele Themen, die angeschnitten werden, eines davon trauriger als das andere – man bleibt sehr desillusioniert zurück.
… fürs Herz: der Gedanke, dass wir es nicht schaffen können, die Liebe zu halten, nie.
… fürs Gedächtnis: die schreckliche Szene mit Josef und Mariam im Auto, zu Beginn ihrer Reise.

Gut und sättigend: 3 Sterne

HeijmansEin Vater, sein Kind, ein Boot und das endlose Meer
Donald hat seinen Job verloren, und er nutzt die gewonnene Zeit, um sich einen lang gehegten Traum zu erfüllen: Er segelt über die Nordsee. Auf dem letzten Teil der Strecke, von Thybordøn in Dänemark bis Harlingen in den Niederlanden, begleitet ihn seine kleine Tochter Maria. Donalds Frau Hagar war dagegen, das Kind für zwei Tage auf die unberechenbare See zu lassen, doch der Vater hat sich durchgesetzt. Es dauert nicht lange, bis ein Sturm aufzieht, der Donald an die Grenzen seiner Kraftreserven bringt, muss er doch die Nacht durchwachen und auf den Funk sowie auf andere Schiffe achten. Und während die Müdigkeit ihm langsam den Verstand zerschneidet, stellt sich mitten auf dem hochgepeitschten Gewässer die Frage: Was ist überhaupt real – und was nicht?

Auf der ersten Seite von Toine Heijmans‘ Buch gehe ich auf eine Fahrt, von der klar ist, dass sie gefährlich wird – und mich in die Irre führen soll. Ich klettere an Bord eines Boots, dessen Ziel zwei Tagesreisen entfernt ist und doch, als ein Sturm losbricht, unerreichbar scheint. Den Sturm habe ich erwartet, natürlich, denn was wäre ein Boot auf einem Meer ohne einen Sturm, doch es gelingt dem Autor trotzdem, mir Angst zu machen mit der dunklen See und dem Ich-Erzähler Donald, dem nicht zu trauen ist. Ich weiß, dass er mich belügt. Denn das mit dem In-die-Irre-Führen gelingt dem Autor weniger, schon zu Beginn des Buchs ist mir völlig klar, wie es enden wird, es scheint nur einen logischen Weg auf dem schmalen Grat zwischen Fantasie und Wirklichkeit zu geben. Das dämpft für mich freilich die Spannung ziemlich, aber ich folge dennoch mit großem Interesse der Fährte, die Toine Heijmans für mich ausgelegt hat, und untersuche fasziniert das Konstrukt, das er entworfen hat. Perfekt eingefangen ist die unheimliche, unheilvolle Stimmung in den grandiosen schwarz-weißen Illustrationen von Jenna Arts, die das Buch besonders machen. Die Sprache ist solide, aber ich hätte sie mir wuchtiger gewünscht, als Gegenpol zum schäumenden Meer.

Irrfahrt ist ein Ausflug, den man nicht machen möchte, ein kleines Stück Horror, eine Welle, die über dem Kopf zusammenschlägt. Es ist, so scheint es mir, Irrsinn, dass Menschen sich freiwillig hinausbegeben auf das gefräßige Meer, und es ist ebenfalls Irrsinn, dass sie denken, genau zu wissen, was sie tun. Denn manchmal kann die Einbildungskraft unglaublich stark sein – und das ist eine nicht zu unterschätzende Gefahr. Wer es wagen will, mit Donald und Maria in See zu stechen, dem möchte ich ganz leise und sarkastisch ins Ohr flüstern: Viel Spaß. Und pass auf dich auf.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein tolles Cover, und die Illustrationen im Innenteil sind genial.
… fürs Hirn: was geschieht wirklich und was ist nur Einbildung? Das Hirn ist in Alarmbereitschaft.
… fürs Herz: das Herz erlebt keine Lovestory, darf aber zwischendurch gern mal ein bisschen stehenbleiben.
… fürs Gedächtnis: meine eigene Sherlock-Holmes-Vorausahnungskombinationsfähigkeit.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Jacobson„Liebe hemmungslos, und aller Schmerz steht dir offen“
Felix Quinn ist ein Antiquar und ein cuckold. Das bedeutet: Er ist zum einen ein feinsinniger, gebildeter, belesener Mann und zum anderen begierig danach, betrogen zu werden. Seine sexuelle Erregung steht in engem Zusammenhang mit dem Begehren anderer Männer – in Hinsicht auf dieselbe Frau. Felix will leiden, er will von der Eifersucht zerfleischt, betrogen und gedemütigt werden. Und seine Ehe mit Marisa beginnt diesbezüglich vielversprechend, spannt er sie doch ihrem ersten Ehemann aus, was einiges über Marisas moralische Vorstellungen von Treue verrät. Da Marisa allerdings nicht unbedingt Anstalten macht, Felix fremdzugehen, nimmt dieser die Sache selbst in die Hand: Er sucht für seine Frau einen Liebhaber. Der perfekte Kandidat ist der jüngere, arrogante Marius, und Felix plant wie besessen die Affäre seiner Frau mit dem Rivalen. Beinahe furchterregend einfach ist es, Marisa zum Betrügen zu verführen – aber schnell verliert Felix über die Gefühle aller Beteiligten und die daraus resultierenden Ereignisse die Kontrolle.

Liebesdienst ist ein verstörender, ausgeklügelter, intelligenter und quälender Roman. Der britische Erfolgsautor Howard Jacobson macht Ich-Erzähler Felix zum Dreh- und Angelpunkt dieses Buchs, seine Wahrnehmung ist der Filter, der über allen Personen und Geschehnissen liegt. Und er ist eine schwierige, ungefällige, unsympathische Figur, die ich manchmal bemitleiden, dann wieder belächeln muss. Sein eigenes Elend ist ihm stets bewusst, er suhlt sich darin. In erster Linie ist Felix ein Beobachter, und der gesamte Roman besteht sozusagen aus dem inneren Monolog, den er hält, aus seinen Gedanken und Vorstellungen, aus den Urteilen, mit denen er sich seine Welt formt: „Frauen, die fremde Blicke auf ihren Busen lenken wollen, haben immer etwas Bedürftiges“, sagt er, und: „Die Pornografie ist ein heikles Medium. Sie gestattet nur den klaren, kühlen, dunklen Strich sexueller Gewalt und die nachfolgende Stille.“ Einerseits finde ich es durchaus interessant, was Felix über seine Mitmenschen zu sagen hat, andererseits macht diese extrem einseitige Perspektive Marisa und Marius sehr blass. Sie, die eigentlich Handelnden, wirken wie Marionetten, was sie – da Felix die Fäden zieht – auch sind. Viele ihrer Handlungen kann ich nicht nachvollziehen, weil es so aussieht, als hätte eigentlich niemand Spaß an diesem außergewöhnlichen Dreier.

Liebesdienst hat mir bestimmt eine Runzelfalte auf der Stirn beschert – weil ich mich gewundert habe über die Perversionen der menschlichen Natur und weil ich gerätselt habe darüber, ob ich Gefallen finden soll an dieser abstrusen Geschichte. Beantworten kann ich diese Frage auch am Ende nicht. Gereizt hat mich der Roman wegen der hochoriginellen Idee, dass ein Mann seiner Frau einen Liebhaber sucht – und fasziniert hat mich diese Idee während der gesamten Lektüre. Auf manch allzu detailreichen Ausflug in kulturelle Gefilde hätte ich verzichten können, generell aber bietet das Buch viele lesenswerte Informationen über Musik und Literatur. All diese Eigenschaften machen Liebesdienst zu einem richtig anstrengenden Roman, der mich dennoch fesselt und nicht loslässt, der mir haufenweise negative Gefühle gebracht hat, der mich nachdenken ließ und der mir, so zwiegespalten ich ihm auch gegenüberstehe, im Gedächtnis bleiben wird. Und das ist ja das Höchste, was ein Autor mit einer Geschichte erreichen kann.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein sehr elegantes und ästhetisch ansprechendes Cover.
… fürs Hirn: allerhand, dies ist ein überaus verkopftes Buch.
… fürs Herz: masochistischer Schmerz und die Wonne darüber.
… fürs Gedächtnis: diese ganze wahnsinnige Leseanstrengung.

Lesenswerte Besprechungen von Liebesdienst findet ihr auch bei Mara und Dorota.

Liebesdienst von Howard Jacobson ist erschienen in der DVA (ISBN 978-3-421-04406-8, 400 Seiten, 22,99 Euro).