Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

„Lüg nur, wenn es sein muss, aber dann lüg das Blaue vom Himmel herunter“
Nach diesem Motto leben Della und ihre gesamte Familie. In ihrem riesigen verwinkelten Haus hecken Della und ihr Vater, ihr Bruder, Stiefmutter Ruby sowie die zahlreichen Cousins kleine und große Coups aus. Sie sind Betrüger und Diebe, stets auf der Suche nach einer neuen Idee, um auf möglichst originelle Weise an möglichst viel Geld zu kommen. Sie sind Zauberkünstler in Sachen Verstellung, sie wechseln ihre Identitäten, und sie sind ein eingespieltes Team. Dellas Plan ist es, als vermeintliche Wissenschaftlerin an ein hochdotiertes Stipendium zu kommen, das der Unternehmer Daniel Metcalf vergibt. Sie glaubt, dass der reiche Schnösel sich leicht überlisten lässt – und täuscht sich gewaltig. Der gutaussehende Daniel fordert die junge Frau, die eine Meisterin der Lüge ist, heraus, und Della gerät in Gefahr, bei ihrer Farce – der angeblichen Suche nach dem Tasmanischen Tiger – aufzufliegen. Sie legt sich ins Zeug, um Daniel für sich zu gewinnen, und muss dabei mit unerwarteten Widrigkeiten wie ihrem eifersüchtigen Freund Timothy, einem Wochenende in der Wildnis, ihrem zunehmend verwirrten Vater und unbekannten Familiengeheimnissen kämpfen.

Toni Jordan erzählt in Die schönsten Dinge eine überraschend unterhaltsame Geschichte mit einer überaus sympathischen Heldin. Wenn es „Frauenliteratur“ sein muss, dann bitte so und nur so: niveauvoll, pfiffig, mit einer Prise Erotik und viel Sprachtalent. Schon auf den ersten Seiten bin ich absolut verblüfft – und sofort gefesselt von der originellen Story rund um das schlaue Gaunermädchen Della, das sich im eigenen Lügennetz verstrickt. Die Handlung ist nicht so verkopft, wie es in der Inhaltsangabe womöglich klingt, sondern mitreißend und schlau konstruiert. Ich lerne mit Della zusammen den ebenso charmanten wie attraktiven Daniel kennen, der uns gleich um den Finger wickelt, auch wenn wir es voll Stolz nicht zugeben wollen. Und als uns langsam dämmert, dass er auch ein doppeltes Spiel spielt, wollen wir unbedingt sein Geheimnis ergründen. Und vielleicht ein bisschen mit ihm knutschen.

Dieses Buch stimmt mich fröhlich. Die quirlige, ideenreiche, kleinkriminelle Familie besteht aus zahlreichen kuriosen Gestalten, der Dynamik der Geschichte kann ich mich nicht entziehen, und dem Gefühlschaos von Della zu folgen, macht mir richtig Spaß. Die Dialoge sind schlagfertig, die Stimmung ist heiter, es prickelt, und ich darf mich einen ganzen Roman lang einfach nur amüsieren – fast ohne einen einzigen schwermütigen Gedanken, und das tut so gut wie ein langes heißes Bad nach einem kalten Wintertag. Allerfeinste Unterhaltungsliteratur, richtig gut gemacht!

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
das Cover ist mir ein Rätsel, geht es doch um einen Tiger, der bekanntlich keine Federn hat. Auch den Titel finde ich eher unpassend, er wird dem Buch nicht gerecht.
… fürs Hirn: gar nicht wenige, gut recherchierte Fakten rund um Biologie.
… fürs Herz: ja, ja, ja!
… fürs Gedächtnis: meine eigene Begeisterung über diesen leichten, aber nie seichten Roman.

Die schönsten Dinge von Toni Jordan ist erschienen im Piper Verlag (ISBN 9783492054652, 288 Seiten, 19,99 Euro).

Für Gourmets: 5 Sterne

Die Melodie des Meeres
Auf einem ganz besonderen Schiff setzen Paolo und Luisa zu einer abgelegenen Insel über, auf einem Schiff, das die Angehörigen zu den auf der Insel eingesperrten Gefangenen bringt: „Denn will man jemanden wirklich absondern vom Rest der Welt, gibt es keine Mauer, die höher wäre als die See.“ Sie reisen zusammen, aber nicht gemeinsam: Paolo ist auf dem Weg zu seinem Sohn, der im Namen einer für den Vater nicht greifbaren Revolution Verbrechen begangen hat, Luisa besucht ihren handgreiflichen Ehemann. Als ein Sturm Paolo und Luisa auf der Insel festhält, lernen sie einander kennen, und in der Dunkelheit der Nacht finden sie die Möglichkeit, einander ihren Schmerz anzuvertrauen. Paolo, der gebildete Professor, ist fasziniert von der Einfachheit und Geduld, die Bauersfrau Luisa, deren fünf Kinder in ihrer Abwesenheit den Hof betreuen, an den Tag legt: „Und Paolo hatte den Eindruck, sie nehme alles, was er sagte, in sich auf so wie die Erde den Regen.“ Die zwei Gestrandeten werden von dem Strafvollzugsbeamten Nitti versorgt, und auch für ihn bedeutet diese Nacht einen Wendepunkt: Er, der so viel Leid und Gewalt gesehen hat, hat verlernt, darüber zu sprechen, und er hat sich selbst verloren. Als der nächste Tag beginnt, sind all der Kummer, das Unverständnis und die Sorgen noch da, aber Nitti, Paolo und Luisa haben verstanden, dass sie weiterleben werden – und dass es gut ist, weiterzuleben.

Francesca Melandri hat für ihren vielbeachteten zweiten Roman Über Meereshöhe sehr spannende und konfliktreiche Zutaten gewählt: eine Insel voller Strafgefangener, umgeben vom gnadenlosen Meer, eine stürmische Nacht und drei menschliche Schicksale, die sich verweben. Klingt dramatisch, ist es auch, aber nicht sprachlich. Denn von Anfang an bin ich verzaubert von Francesca Melandris zartem, einfachem, klarem Stil und der liebevollen Art, mit der die Autorin ihre drei Figuren zeichnet, ja streichelt fast, ohne dabei je ins Kitschige abzurutschen. Im Gegenteil: Paolo, Luisa und Nitti bringen jeder für sich eine Geschichte voll Traurigkeit und Reue, voll Wehmut und Bedauern mit. Sie quälen sich selbst mit der Frage, an welcher Wegkreuzung sie falsch abgebogen sind, warum all diese schrecklichen Dinge geschehen sind und wer sie um ihr erhofftes Lebensglück betrogen hat. Einen besseren Ort, um sich mit ihrem Leben auseinanderzusetzen, als die einsame Gefängnisinsel gibt es wohl nicht, und der niedergehende Sturm sorgt für die Prise Dramatik. Ich folge den sanften, klugen Sätzen von Francesca Melandri wie ausgestreuten Blumen über die karge Insel und lausche den vielen leisen Tönen, die als Gesamtbild eine herzzerreißend traurige Melodie ergeben, die weit über das Meer trägt.

Ich bin beeindruckt von Francesca Melandris Talent und ihrer Fähigkeit, die schweren Schicksale ihrer Figuren mit einer derartigen sprachgewandten Leichtigkeit zu erzählen. Das ist eine große Kunst. Ich verschlinge die Seiten mit einer Geschwindigkeit, die mir selbst unheimlich ist, und habe nach zwei Stunden das ganze Buch gefressen. Denn besonders Paolo und Luisa haben sich in mein Herz geschlichen, weil sie beschädigt und zerbrochen sind, weil sie in ihrer Einsamkeit mit einem erleichterten Seufzen nach der Hand des jeweils anderen greifen, um wenigstens für einen Moment nicht allein zu sein. Und als dieser Moment gekommen ist, seufze auch ich erleichtert, so sehr freue ich mich über den Zauber dieses Augenblicks. Genauso wie über dieses grandiose, sehr berührende und glänzend geschriebene Buch.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein stimmungsvolles Bild. Als seien die Menschen gerade erst gegangen, und ihre Gedanken hingen noch in der Luft. Und das Meer, das Meer …
… fürs Hirn: die Verzweiflung darüber, dass man nichts ungeschehen machen kann, auch das nicht, was das eigene Leben zerstört hat.
… fürs Herz: die unendliche Qual, jemanden zu lieben, der ein Verbrechen verübt hat.
… fürs Gedächtnis: das ganze beeindruckende Buch.

Über Meereshöhe von Francesca Melandri ist erschienen im Blessing Verlag (ISBN 978-3-89667-485-2, 256 Seiten, 16,95 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

In Worte gefasste Sentimentalität
In manchen Augenblicken trifft einen eine wichtige Erkenntnis. Zum Beispiel, dass man alt ist. Was tut man in so einem Moment? Tihomir beschließt in logischer Konsequenz, in die eigene Vergangenheit zu reisen: Er animiert seine ehemaligen Klassenkollegen dazu, die Maturareise von 1961 auf einem Schiff zu wiederholen. „Damals waren wir neunzehn, jetzt waren wir achtundsechzig“: Ein ganzes Leben haben die früheren Freunde ohne einander verbracht, aber ihre gemeinsamen Erinnerungen verbinden sie bis heute. Mit von der Partie ist Senka, die Tihomir einst über die Maßen liebte: „Eines Nachts, als es sehr heiß war, träumte ich, dass es Senke nicht gäbe. Dass sie nicht einmal geboren wäre. Die Verzweiflung, die ich in diesen wenigen Sekunden des Traumes empfand, zeugte davon, in welchem Ausmaß ich mich an sie gebunden hatte.“ Viele Jahre haben sie sich nicht gesehen, und vieles ist ungeklärt zwischen ihnen. Ihre gemeinsame Geschichte ist geprägt von Sex, Missverständnissen, Gewalt und Traurigkeit. „Sie hält mich fest umarmt, und mir war sofort klar, dass ich sie auch heute noch lieben könnte, obwohl die damaligen Argumente längst ihren Glanz verloren hatten.“ Während dieser besonderen Reise, auf der die Alten trinken, feiern, sich unterhalten und streiten, erzählt Tihomir in Rückblenden von seinem Leben – von seiner Kindheit und den wilden Streichen mit seinen zwei besten Freunden, von den Lebensumständen im Zagreb der 1950er-Jahre im Umkreis der „Sohnwitwen“, die ihre Söhne bei Partisanenkämpfen verloren hatten, von seinem Studium und der Arbeit als Gynäkologe und von der intensiven, zerstörerischen Beziehung zu Senka.

Auf 537 Seiten umfasst der kroatische Autor Zoran Ferić ein ganzes Leben und betrachtet es durch den wehmütigen Filter des Alters. Dabei porträtiert er nicht nur einige Figuren – allen voran den Protagonisten Tihomir –, sondern auch eine versunkene Zeit, die Zeit des Kommunismus in Kroatien, wobei Politik und Gesellschaft eher einen stimmigen Rahmen für die eigentliche Geschichte bilden, statt im Fokus zu stehen. Dort liegt vielmehr ein Leben auf dem beleuchteten Seziertisch, ein Leben, das seinem Ende zugeht und das der Autor mir Stadium für Stadium zeigt: Kindheit, Jugend, erste Liebe, erster Rausch, absolute Verlorenheit und einträchtige Harmonie, Affären, Verlust, eine Ehe, Kinder. Reich ist dieses Leben, reich an kuriosen Begebenheiten und erinnernswerten Ereignissen. Ich darf mit Tahomir tief in seine Vergangenheit eintauchen, ich lerne ihn als Jungen kennen und verfolge seine Entwicklung zum Mann, der er am Ende seiner Reise, an Deck des altersschwachen Kahns, ist. Dies ist der Ausgangspunkt, diese überaus sentimentale Reise, und da das Buch von dieser rückblickenden, bewertenden, abwägenden Warte aus erzählt wird, schwingt ein sehr abgeklärter, aber auch sehr sehnsüchtiger Klang mit. Sehnsucht hat Tihomir nach jenen Jahren, in denen er noch nicht alt war, in denen er noch Überraschungen erlebte, in denen es ihm das Herz zerriss vor Liebeskummer. Denn seine Liebe zu Senka war voller Eifersucht und Handgreiflichkeiten, voller wildem Sex – sogar in einer Dreiecksbeziehung – und großen Versprechen, die allesamt gebrochen wurden.

Bei aller Sentimentalität verblüfft Zoran Ferić mich mit seinem rauen Matter-of-fact-Ton. Er legt den Finger in jede einzelne Wunde seines Romanhelden und hat keinen Moment lang Mitleid mit ihm. Das muss er auch nicht, und es macht die Geschichte, die er vor mir entblättert, realistisch und interessant. Insgesamt faszinieren mich die Rückblenden wesentlich mehr als die Kapitel über die Schiffsreise, die mir eher drögen Dialogen und zwar schwarfsinnigen, aber auch überflüssigen Beobachtungen über die vielen teilnehmenden Nebenfiguren aufwarten. Es ist, als säße ich neben all den schnatternden Alten in der Schiffsbar, hätte aber die Ohren auf Durchzug geschaltet und würde nur ab und zu nicken und zustimmend „Hm“ brummen. Die Berichte aus Tahomirs Leben sind schillernder, dynamischer und zum Teil – da der Sex im Buch sehr stark im Mittelpunkt steht – fast schon prickelnd, wäre nicht stets eine Prise Verzweiflung gegeben. Viele metaphorische Sinnbilder durchziehen dieses Buch, das Land, das Schiff, die Menschen selbst haben an Glanz verloren, sie standen einst für das sozialistische Jugoslawien sie waren dessen Elite, heute blicken sie zurück auf den Zerfall. Das Alter kam am 23. Mai gegen 11 Uhr ist ein groß angelegter, farbenprächtiger, melancholischer, morbider und sarkastischer Roman. Eine hervorragende Leistung!

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein sensationell tolles Cover und ein sagenhaft genialer Titel!
… fürs Hirn: besonders an Jahrestagen und Jubiläen fragen wir uns: Was hab ich gemacht bisher? Was hab ich erreicht im Leben, welche Fehler hab ich gemacht? Was gibt es zu bereuen – und wann war ich glücklich?
… fürs Herz: Wehmut, sehr viel Wehmut.
… fürs Gedächtnis: “Die Menschen denken für gewöhnlich, dass das Leben eines Mannes, dem sich das Glück in derart kleinen Portionen schenkt, verfehlt ist. Die eigene Unerstättlichkeit verlangt von uns etwas Dauerndes und lange Währendes. Zeit und Intensität standen hier umgekehrt proportional zueinander. Je seltener diese Augenblicke waren und je kürzer sie dauerten, desto größer war ihre Intensität und desto stärker blieben sie im Gedächtnis bewahrt.”

Das Alter kam am 23. Mai gegen 11 Uhr von Zoran Ferić ist erschienen im Folio Verlag (ISBN 978-3-85256-609-2, 538 Seiten, 24,99 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

„Wer nicht weiß, was er auf dieser Welt soll, ist zu allem bereit“
Als Till nicht zum Abitur an seiner Waldorf-Schule zugelassen wird, verkriecht er sich aus Trotz in seinem Zimmer. Anfangs wirkt es, als schmolle er einfach ein wenig, und alle haben dafür Verständnis. Aber Till kommt nicht mehr raus. Er trennt sich von seiner Freundin Kim, schränkt den Kontakt zu seinem besten Freund Jan auf ein Minimum ein, nimmt nicht mehr am Familienleben teil. Er wird zum Hikikomori, er sperrt sich selbst weg und verliert sich in der virtuellen Welt 0 im Netz, die gar nicht existiert und dennoch für ihn zum Rückzugsort wird. Die Eltern sind ratlos, die pubertierende Schwester ist mit Shopping und Liebschaften beschäftigt. Till verschließt sich also nicht nur vor der Außenwelt, er wird von ihr auch nicht behelligt. Doch wie lange kann ein junger Mann sich in einem leeren Zimmer vergraben? Und was geschieht, wenn seine letzte Verbindung zu anderen Menschen, das Internet, gekappt wird?

Kevin Kuhn, Jahrgang 1981 und somit noch jung zu nennen, hat sich in seinem Erstlingswerk mit einem Phänomen beschäftigt, das in Japan geprägt wurde und daher mit dem japanischen Ausdruck Hikikomori bezeichnet wird: dem gesellschaftlichen Rückzug eines Menschen, der sich der Welt komplett entzieht. Dafür mag es verschiedene Ursachen geben, der Auslöser im vorliegenden Buch ist auf jeden Fall der Umstand, dass der Protagonist seinem Schulalltag enthoben wird und seine Zukunftspläne fürs Erste vereitelt sind. Er reagiert darauf nicht impulsiv oder trotzig, sondern plant ganz gezielt, sich in seinem Zimmer, das er zuvor fast komplett ausräumt, einzumummen. Erstaunt und neugierig nehme ich neben ihm Platz und starre auf die Tür, die sich immer seltener öffnet. Draußen lärmt die Familie beim Essen, draußen regnet oder stürmt es, draußen entscheiden sich Tills Freunde für Studiengänge, aber er und ich bleiben drin. Nicht nur sein Verhalten, sondern auch das von Tills Eltern ist hochgradig befremdlich für mich: Die Kuratorin und der Schönheitschirurg sind finanziell gut gestellt, halten sich für intelligent und stark, sie reden über das Problem – aber sie bemühen sich nicht, es zu lösen, sie agieren nicht, nehmen Tills selbst auferlegte Einsamkeit hin. „In deinem Alter und in einer so fordernden Welt, die euch wirklich viel abverlangt, hätte ich bestimmt das Gleiche getan“, sagt die Mutter zur verschlossenen Tür. Ich will sie anbrüllen und zwingen, ihren Sohn aufzurütteln, aber als stiller Teilhaber des Geschehens bin ich dazu verurteilt, stumm zu bleiben.

Während der Lektüre frage ich mich, ob man nur Hikikomori werden kann bzw. das Dasein als solcher erträgt, wenn man eine Internetverbindung hat. Denn die Flucht ins Netz ist für Till die einzig logische und mögliche Handlungsweise. Ist er also wirklich allein? Ist sein Verhalten einfach eine Steigerung der heutigen freakigen World-of-Warcraft-Nerds? In Hinblick auf die Originalität des Romans finde ich es schade, dass Till mit dem Spiel Medal of Honor einem derartigen Klischee folgt und sich in einer digitalen Welt verliert, dass er zwischen Realität und Fiktion nicht mehr unterscheiden kann – was für mich im Widerspruch zu seiner Klugheit steht. Diese Welt soll frei sein von den Zwängen, denen Till unterlegt, frei von Verpflichtungen und Druck. In diesem Sinn ist diese Welt natürlich unwiderstehlich – nicht nur für Till. Je länger seine selbstgewählte Klausur dauert, umso langweiliger wird mir notgedrungen beim Zusehen, ich will mich bewegen, ich will springen und tanzen und schreien, ich will raus. Die aufgebaute Spannung verpufft für mich zum Großteil im Lauf des Romans, weil der große Konflikt, der Höhepunkt, ausbleibt. Als alles zu Ende ist, muss ich mich sammeln und den Gefühlen in mir nachspüren: Erschüttert bin ich, verwirrt, verärgert und hoffnungsfroh. Kevin Kuhn, der exzellent schreiben kann, hat in seinem Roman dem „modernen Jugendlichen“ porträtiert, der aus dem virtuellen Universum nicht mehr herausfindet. So bin ich erleichtert, als ich dieses mir fremde Universum verlassen darf – und freue mich umso mehr über meine Realität.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
das Cover ist ansprechend und hat Bezug zum Inhalt.
… fürs Hirn: natürlich die Fragen, was einen 18-Jährigen dazu bringt, der Welt den Rücken zu kehren, welche Anteile Internet und Videospiele haben und was Eltern tun können.
… fürs Herz: eine große Traurigkeit wegen des Schweigens, des Fehlens von Zuneigung und Hilfe. Und die schöne Erinnerung an Ich nannte ihn Krawatte von Milena Michiko Flašar.
… fürs Gedächtnis: die hochgradig krasse Badewannenszene auf der Party.

Hikikomori von Kevin Kuhn ist erschienen im Berlin Verlag (ISBN 978-3-8270-1116-9, 224 Seiten, 14,99 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Fettnäpfchen-Diving mit Anlauf
Manchmal kann aus einem winzigen Gefallen eine große Sache werden. Diese Erfahrung macht die junge Lula, die aus Albanien nach Amerika gekommen ist und bei Mister Stanley als Kindermädchen arbeitet – ein recht überflüssiger Job, denn Sohn Zeke ist schon 16 Jahre alt. Als Lula überraschend Besuch von ihr unbekannten Landsmännern bekommt – darunter der attraktive Rotschopf Alvo –, ist ihr gleich klar, dass diese sie mit ihrer Bitte in Schwierigkeiten bringen werden: „Winziger Gefallen konnte bedeuten, nach Dubai und zurück zu fliegen, beide Strecken Holzklasse, mit Dutzenden Kondomen voller Heroin im Arsch.“ Ganz so schlimm ist es nicht, aber trotzdem gefährlich: Lula soll eine Waffe verstecken. Obwohl sie ahnt, dass damit ein Verbrechen verübt wurde, tut sie es. Sie trifft sich außerdem mit Alvo, der ihr Avancen macht, und riskiert dadurch ihre Aufenthaltsbewilligung in den USA, an der ihr Anwalt fleißig bastelt. Um asylbedürftig zu wirken, erfindet Lula alle möglichen Geschichten über ihre Heimat. Und ahnt nicht, dass sie in den USA tatsächlich in Gefahr ist …

Lügen auf Albanisch ist ein kurzweiliger Roman über eine Protagonistin, die ebenso naiv wie sympathisch ist und von einem Fettnäpfchen zum anderen springt. Das Setting ist bekannt: Ein Mädchen kommt aus einem wirtschaftlich eher benachteiligten Land – mit Vorliebe aus dem Osten – nach Amerika, um wahlweise als Nanny zu arbeiten und/oder einen reichen Mann zum Heiraten zu finden. Im Fokus stehen dabei die kulturellen Unterschiede, die humorvoll geschildert werden. An diesen Masterplan hat sich Francine Prost gehalten. Ihre Romanheldin Lula wundert sich auf amüsante Weise über die amerikanischen Gepflogenheiten, vergleicht sie mit denen der Albaner und entlockt mir manches Schmunzeln mit Sätzen wie: „Albanische Adlereltern schubsten ihre Jungen aus dem Nest, sobald sie flügge waren, aber das taten sie vielleicht auch nur, um sicherzugehen, dass sie nach der Scheidung zurückkehrten.“

Nicht ganz feingeschliffen sind in meinen Augen die Dialoge, die pfiffiger hätten ausfallen können. Ziemlich originell ist dafür die Besetzung des Buchs: ein schweigsamer, an Liebeskummer laborierender, völlig ahnungsloser Mister Stanley, sein pubertierender Sohn Zeke, dessen abwesende und komplett durchgeknallte Mutter, ein albanischer Kleinkrimineller mit roten Haaren, seine dumpfbackigen Komplizen, eine verruchte Freundin und schließlich die hübsche, unbedarfte, tollpatschige Protagonistin. Da Lula meistens ihre gesamte Zeit allein im Haus ihres Arbeitgebers verbringt, kommt die Handlung nicht recht vom Fleck, weil einfach viel zu wenig passiert. Mit einem actionreichen Ende kann Francine Prost dieses Manko allerdings wieder einigermaßen ausbügeln. Ein wenig vermisst habe ich die ironische Schärfe, die in Romanen dieser Art oft üblich ist – wie etwa in Anya Ulinichs Petropolis – und die der Autorin trotz nachvollziehbarer Versuche nicht ganz gelungen ist. Spaß macht ihr Buch mit seinem bunt gemischten Haufen an schrägen Gestalten aber allemal, und das ist in diesem Fall die Hauptsache.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
carl’s books hat offenbar ein paar Covergestaltungstalente (man denke an den Hundertjährigen, der aus dem Fenster …)!
… fürs Hirn: hinter dem lustigen Schein auch allerlei Ernstes über Immigration, Verständigungsprobleme und Einsamkeit.
… fürs Herz: in Sachen Lovestory geht das Herz mit diesem Buch eher leer aus.
… fürs Gedächtnis: mein Lieblingszitat, das die Verrücktheit des Romans auf den Punkt bringt: “Niemand ist sicher”, sagte Zeke, “wir haben Vollmond.”

Lügen auf Albanisch von Francine Prose ist erschienen bei carl’s books (ISBN 978-3-570-58511-5, 320 Seiten, 14,99 Euro).

Für Gourmets: 5 Sterne

„Die hellen Tage behalte ich, die dunklen gebe ich dem Schicksal zurück“
Liebe Zsuzsa Bánk,
ich habe dein Buch Die hellen Tage in meinem Regal gehütet wie eine Schatzkiste mit dem letzten Sonnenstrahl des Sommers. Ich wusste, dass es leuchten würde, dieses Buch, weil du mir schon mit Der Schwimmer leuchtende Stunden bereitet hast, und seine Gegenwart hat mich beruhigt. Erst als es nötig war, weil es fast schon dunkel war und ein bisschen kalt, habe ich dein Buch in die Hand genommen, um mich vom letzten Sonnenstrahl wärmen zu lassen. Dann hast du mir die Tür aufgestoßen in meine Kindheit, und ich bin eingetaucht in die Erinnerung und in das Gefühl, wie es war, damals, als die Welt groß war und ich klein und alles möglich. Ich habe mich an die Seite von Aja, Seri und Karl gesellt, ich bin mit ihnen über die Wiesen gestreift und hinunter zum See geradelt, ich habe Évi kennengelernt und den Duft ihrer Kuchen geatmet, habe Zigis Kunststücke bestaunt und den Sommerwind in meinem Haar gespürt, das damals kurz war. Ich habe in deinem Buch das Flüstern der Geheimnisse gehört, die auf den Schultern der Mütter liegen, ich habe das Klimpern von Évis Armreifen gehört und das Klappern von Ajas Zähnen im Winter, wenn es zu kalt war in ihrem windschiefen Haus, das Zigi gebaut hatte. Ich habe mich zuhause gefühlt in Kirchblüt, obwohl der Ort meiner Kindheit anders hieß, ich bin zurückgekehrt in dieses Paradies, das ich damals vor der Tür hatte und das aus einem Wald, Wiesen, einem Bach, meinen Brüdern und meiner Nachbarin bestand, sie, die nur 90 Schritte entfernt von mir wohnte und für mich war wie Aja für Seri und die ich immer noch bei mir habe an meiner Seite, nach all den Jahren. Wir waren Draußenkinder, wir waren wild und frei und unbezähmbar und wir wollten nichts wissen von Verlust und Verpflichtungen, es waren helle Tage.
Dein Buch ist wundervoll und elegant, poetisch und klug, sehr wehmütig und traurig, dein Buch ist wie das Leben. Es hat mich an jenes Glück erinnert, das ich immer bei mir trage, jenes kleine Glück, das genau in mein Herz passt: Freunde zu haben, die man seit immer kennt, und eine Kindheit erlebt zu haben, die leuchtet, auch später noch, wenn es dunkel ist im Erwachsenenleben. Und da schon so viel geschrieben worden ist über den Inhalt deines Buchs, möchte ich ihn nicht nacherzählen, sondern deine Worte sprechen lassen, ausgewählte, feine, klingende Sätze zitieren, damit dein Roman noch mehr Leser findet und sie darin sich selbst finden können. Und ich möchte dir danken. Dafür, dass du die richtigen Worte gefunden hast für die Geschichte dieser drei Freunde, die so zerbrechliche und doch so starke Kinder sind. Dafür, dass es dir gelungen ist, diese Kinder erwachsen werden zu lassen, ohne dass die Geschichte ihren Zauber verliert, und dass du mich mitgenommen hast nach Rom, wo ich viele erinnernswerte Tage erlebt und mich verändert habe. Dafür, dass du mir diesen letzten Sommersonnenstrahl geschenkt hast. Er wird mich den Winter überstehen lassen.

„Wir nannten diesen Sommer Zigis Sommer, auch Jahre später, wenn wir uns erinnerten, nannten wir ihn so, diesen einen Sommer, der sich aus lauter hellen Tagen zusammenfügte.“

„Ich hatte mich in Ajas Leben begeben, als sei ein fester Platz für mich immer schon darin vorgesehen gewesen.“

„Er brauchte Zeit für alles, was er tat, und wenn er auf seinem schwarzen Fahrrad ohne Schutzbleche losfuhr, sah er immer aus, als trage er unter seinen Kleidern einen Gips an Armen und Beinen.“

„Über Aja kamen diese Jahre, die unsere Kindheit ablösten, wie eine Krankheit, die für den Moment unheilbar blieb, gegen die sie nichts tun und nichts nehmen, der sie nur entwachsen konnte.“

„Wir laufen durch Kirchblüt, und alles ist anders, wir haben es verloren, so wie wir die Orte unserer Kindheit verlieren, zum ersten Mal, wenn wir keine Kinder mehr sind, und später noch einmal, wenn wir als Erwachsene zurückkehren und uns wundern, wie sie wirklich aussehen.“

Außer Konkurrenz

Außer Konkurrenz: 16 skurrile Geschichten
Miranda July ist ein Allroundtalent. Mit ihren Filmen, zum Beispiel Me and you and everyone we know, und ihren Büchern, darunter das neueste It chooses you, überzeugt und überrascht sie ebenso wie mit ihren schrägen Kunstprojekten und den Ein-Frau-Performances. Ich habe die vielseitige, witzige, hübsche und schlaue Miranda July mit ihrem Erzählband Zehn Wahrheiten kennengelernt. Ein Buch, das genauso ist wie seine Autorin: anders. Die Geschichten sind kaum nachzuerzählen, sie fließen über vor absurden Einfällen, ungewöhnlichen Menschen und Gedanken, Doppelsinn und Schmerz und Einsamkeit. Weshalb sie aus jeder Kategorie fallen und ich sie hier außer Konkurrenz anhand einiger Zitate vorstellen möchte, die nicht zusammenhängen, keinen Sinn ergeben, aber dennoch einen Blick in dieses außergewöhnliche Buch ermöglichen sollen. Die Lektüre hat mir auf jeden Fall gezeigt, dass Miranda July ein bisschen verrückt ist. Und ich das genial finde.

“Meine Schwester schießt wirklich weit übers Ziel hinaus. Mehr kann ich über sie nicht sagen. Wenn das Ziel da ist, wo ich bin, dann ist sie weit darüber hinaus und schwirrt über mir herum, nackt.”

“Wie jeder weiß, kann man einen Menschen komplett mit Fassadenfarbe anstreichen, und er bleibt am Leben, solange man die Fußsohlen frei lässt.”

“Der Junge begann sich zu langweilen, eine Form des Erwachsenwerdens.”

“Ich redete mir ein, das Geräusch meines Atems sei in Wirklichkeit das gleichmäßige Atmen aller Tiere auf der Welt, auch das der Menschen, auch das des Jungen und das seines Hundes, alle zusammen, alle atmend, auf der nächtlichen Erde.”

“Da hatte ich noch von nichts eine Ahnung, zum Beispiel wusste ich nicht, dass alle menschlichen Bewegungen wie in Zeitlupe ablaufen im Vergleich zur Geschwindigkeit, mit der man sich bewegen kann, wenn man nur fluoreszierende Dunkelheit ist.”

“Sie machten Liebe mit der Eile.”

“Bevor mein Vater starb, lehrte er mich seine Fingertricks. Es waren Griffe, mit denen man eine Frau zum Orgasmus bringt.”

“Als mein Mann den neuen Kurzhaarschnitt sah, guckte er mich an, wie wir uns angucken, wenn einer von uns vergisst, wer wir sind.”

“Unelegant und ohne mein Einverständnis verging die Zeit.”

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

„Wie alt darf man sein, wenn man noch Titten sagen will?“
Das fragt Mr. Forbes seine Frau, die ihn auf jeden Fall als für zu alt befindet. Für das Wort Titten und jegliche weiterführende Ideen. Weshalb Mr. Forbes ins Internet flüchten muss, wo er alles findet, was ihm Spaß macht. Spaß hat auch sein Sohn Graham – allerdings mit Männern. Weshalb er in der Hochzeitsnacht mit seiner Angetrauten Betty – die zwar das falsche Geschlecht, aber viel Geld hat – ausgiebig den eigenen Hintern im Spiegel betrachten muss, um auf Touren zu kommen. Wohin das alles führt? Zu einer ziemlichen Schweinerei. So eine erlebt auch Mrs. Dickinson, eine ältere Witwe, die sich ihr Geld als Laienschauspielerin im Krankenhaus verdient, wo sie vor Studenten die Kranke mimt. Da der Verdienst nicht reicht, vermietet sie ein Zimmer an ein Studentenpärchen. Was allerdings ihre Haushaltskassa nicht aufbessert, denn das Pärchen will statt mit Geld lieber mit einer ungewöhnlichen Vorstellung bezahlen: Die beiden wollen Sex haben – und Mrs. Dickinson soll zusehen …

So ein Schweinkram! Der Titel ist in Alan Bennetts zwei „unziemlichen Geschichten“ Programm. Der fast 80 Jahre alte Brite zeigt darin seine Landsleute von einer vermeintlich überraschenden Seite, gelten sie doch gemeinhin als reserviert und prüde. Was natürlich – Verzeihung – Bullshit ist. Denn in Englands Betten geht es mit Sicherheit genauso rund wie in denen anderer Länder. In manchen zumindest. Und es macht außerordentlich viel Spaß, mit Alan Bennett ein bisschen durchs Schlüsselloch zu schnurken und zuzuschauen. Er schreibt mit jenem feinsinnigen, intelligenten Humor, für den die Briten noch berühmter sind als für ihre Zugeknöpftheit. Und der mir sehr zusagt. Ich fühle mich wie ein staunender Teenager, weil stets etwas Unerwartetes passiert, das mich zum Kichern bringt. Gern hätte ich noch mindestens zehn Geschichten oder mehr von Alan Bennett gelesen, in denen Menschen ihrer Fantasie freien Lauf lassen, ihre Geheimnisse mehr oder weniger geschickt verbergen und ihren Sehnsüchten Untertan sind. Ein besonders prickelnder, schlauer, amüsanter und origineller Lesegenuss!

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
erotisches Rot, Blümchentapete und Guckloch – das Cover geht mit dem Inhalt konform!
… fürs Hirn: die perfekte Mischung aus purem Spaß und hinterlistigem Witz.
… fürs Herz: kein Kitsch oder Herzschmerz, aber filigrane Beziehungskonstrukte.
… fürs Gedächtnis: das Vergnügen!

Schweinkram von Alan Bennett ist erschienen im Wagenbach Verlag (ISBN 978-3-8031-1287-3, 144 Seiten, 15,90 Euro).

Für Gourmets: 5 Sterne

Ein Buch fürs Herz. Und gewisse andere Körperstellen …
Die Salzburgerin Nathalie ist jung und nach dem eher unfreiwilligen Ende ihrer Affäre mit einem verheirateten Mann ungebunden. Als der Sommer beginnt, bringt der Zufall Nathalie in eine prickelnde Situation – und sie entdeckt, wie viel Spaß es machen kann, spontan und wagemutig zu sein. Konkret bedeutet das: Sie fährt mit dem Taxi durch die Mozartstadt und bezahlt dafür nicht mit Geld, sondern mit Sex.
Klingt … verrucht? Ist es auch. Genauso wie amüsant, abwechslungsreich und verdammt gut. Der Sex. Während ihre beste Freundin Luise in Hochzeitsvorbereitungen steckt, lernt Nathalie eine neue, selbstbewusste und selbstbestimmte Seite an sich kennen. Sie genießt die erotischen Taxifahrten und den in jeder Hinsicht heißen Sommer – bis eines Tages ein Fremder im Taxi sitzt und Nathalie nur einen Blick braucht, um sich zu verlieben. Die alte Schüchternheit legt ihr brüderlich den Arm um die Schulter, aber Nathalie bemüht sich nach Kräften, Tobias zu erobern – mit einem durchaus verrückten Plan …
Auf Touren ist ein leichter, heiterer und anregender Frauenroman, der die Leserin mitnimmt auf eine ebenso ungewöhnliche wie vergnügliche Fahrt durch die weltberühmte Festspielstadt Salzburg: auf dem Rücksitz eines Taxis. Und unvollständig bekleidet. Für die Protagonistin Nathalie wird das Taxi zum abgegrenzten, sozusagen schalldichten Raum, der sie vielleicht nicht vor neugierigen Blicken, aber vor dem Urteil der Gesellschaft schützt und ihr die Möglichkeit gibt, sich selbst auszuprobieren und das einzufordern, was sie will. Bis ihr – wie es im Leben oft geschieht – unerwarteterweise die Liebe dazwischenfunkt. Auf ihre chaotische, liebenswerte Art versucht sie, Ordnung in ihr Gefühlschaos zu bringen sowie nebenbei noch eine unterstützende Trauzeugin und eine gute Tochter zu sein. Dann überschlagen sich die Ereignisse – und auf Nathalie wartet noch mehr als eine Überraschung …

Auf Touren von Mareike Fallwickl ist erschienen im Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag (ISBN 978-3-86265-188-7, 270 Seiten, 9,95 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Von den Masken, die wir alle tragen
„Man kann niemanden mögen. Menschen sind klein. Man muss sie durchschauen. Was tut ihnen weh? Was wollen sie? Man muss mit ihnen Schach spielen.“ Mit dieser Aussage bringt der Redakteur Ludwig seinen Charakter auf den Punkt: Er ist manipulativ und berechnend, emotional distanziert und kalt. Niemand weiß das besser als seine Freundin Anna, die mit Ludwig in Hamburg bei einer Zeitung arbeitet, die Beziehung aber auf seinen Wunsch geheim hält. Eigentlich hat Ludwig mit Anna Schluss gemacht. Trotzdem sitzt sie in der Nacht an seinem Bett und redet mit ihm, unsicher, ob er sie hören kann, denn Ludwig hat eine Menge Schlaftabletten geschluckt. Will er, der alle verachtet und über allen Dingen steht, tatsächlich nicht mehr leben? Macht vielleicht ein Leben voller Partys, Models, schicker Klamotten und Ruhm doch nicht glücklich? Oder hat es ihm so krass zugesetzt, was sein bester Freund über seine Artikel verraten hat? Anna kann sich keinen Reim auf Ludwigs Tat machen. Aber sie kann die Gelegenheit nutzen, dass er endlich einmal still ist, und ihm in aller Ruhe das erzählen, was sie ihm nie gesagt hat.

Arezu Weitholz schreibt in ihrem ersten Roman Wenn die Nacht am stillsten ist über einen Mann, Ludwig, der großkotzig, erfolgreich und dabei zutiefst einsam ist, und über eine Frau, Anna, die sich einer Gemeinschaft anpasst, zu der sie gar nicht gehören will, und die dadurch zu einem jener erbärmlichen Menschen wird, die „eigentlich ganz anders sind, aber nie dazu kommen“. Anna schleppt die Sorge um ihre kranke Mutter, den Selbstmord des Vaters und die Ungewissheit, was aus ihr werden soll, mit sich herum. Beim egozentrischen Ludwig kann sie nichts davon abladen, und trotzdem fühlt Anna sich zu dem emotionalen Eisbrocken hingezogen, womöglich, weil er ihr Gegensatz ist, oder weil sie die Hoffnung hegt, er könnte sich ändern, wenn die Gefühle ihn überwältigen. Anna nimmt ab, kauft die gleichen Klamotten wie die Mädchen in der Redaktion, verschweigt, wie viel Ahnung sie von Musik hat, und gibt das stille Mäuschen. Wie eine Maus in einem Experiment wird sie auch von Ludwig betrachtet, als er ihre Beziehung aus einer Laune heraus beendet. Was hat Anna bei ihm gesucht? Liebe wohl eher nicht, ein bisschen Ablenkung vielleicht schon eher. Dass er so unvermittelt zu Tabletten greift, kann sie nicht verstehen und zeigt ihr, dass sie ihn nicht im Geringsten kennt. Diese Verzweiflungstat lässt alle Geschehnisse in einem anderen Licht erscheinen.

Mit scharfem Blick und scharfer Zunge erzählt Arezu Weitholz eine lesenswerte Geschichte über Lebensentwürfe und ihr Scheitern. Allerdings erzählt sie dieselbe Geschichte zwei Mal. Im ersten Teil sitzt Anna an Ludwigs Bett, während er sanft in den Tod gleitet, sie holt nicht Hilfe, sondern berichtet von ihren Eltern, ihrem Aufenthalt in Südafrika, von dem Menschen, der sie wirklich ist oder gern wäre. Im zweiten Teil lässt die auktoriale Erzählerin Anna den Tag davor erleben, von dem diese bereits in Teilen gesprochen hat. Für mich hält der Rest des Buchs daher viele Details und schöne Sprachbilder bereit, aber ich vermisse eine inhaltliche Offenbarung. Arezu Weitholz hat eine lockende Stimme, die mich dazu bringt, aufzustehen und ihr neugierig nachzulaufen, sie hat einen angenehmen Stil und ein feines Gespür für die Zwischentöne. Zwar sind ihre Figuren Ludwig – von sich eingenommen, nach außen arrogant, innerlich verstört – und Anna – orientierungslos, folgsam, selbstzerstörerisch – reichlich klischeehaft, aber ich hab die recht düstere Geschichte über ihr Zusammentreffen und Auseinandergehen dennoch gern gelesen. Noch lieber wäre mir eine inhaltliche Schleife am Ende gewesen, eine Auflösung, eine große Stimmigkeit; auch den Funken, der in mir die Begeisterung entfacht hätte, habe ich vermisst. Geblieben ist aber Wohlwollen.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
vom Stil her finde ich das Cover schön, die Farbgebung ist dagegen sehr unspektakulär.
… fürs Hirn: die Diskrepanz zwischen dem Verhalten der Menschen und ihren wahren Gefühlen.
… fürs Herz: der Kummer, der in jeder Zeile mitschwingt.
… fürs Gedächtnis: ein großes Aufatmen am Ende, als ich die Düsternis verlassen kann.

Wenn die Nacht am stillsten ist von Arezu Weitholz ist erschienen im Verlag Antje Kunstmann (ISBN 978-3-88897-775-6, 224 Seiten, 17,95 Euro).