„Es gab niemanden, der nach mir suchte oder mich fand“
Lucie hat viele Namen und verwendet selten ihren echten, seit sie vor Jahren das Dorf ihrer Kindheit verlassen hat. Dorthin, in den heißen Süden, kehrt sie zurück, als ihre Mutter einen Gehirnschlag erleidet, und während sie versucht, Ordnung zu schaffen im Café, das der Mutter gehört, und in dem Leben, das diese bald verlassen wird, wird Lucie von Erinnerungen bestürmt: an die endlose, quälende Hitze, an die einsamen Nachmittage, an die Zeit bei Éstelle, an den Vater, der gern exotische Pflanzen malte und presste, an die Reisen der Mutter, die immer mehr wurden und immer länger dauerten. Für Lucie wurde Éstelle, ihre leibliche Großmutter, zu einer Art Mutterersatz, und Éstelle, die das eigene Kind weggegeben hatte, vereinnahmte Lucie ganz. Voll Liebe, aber mit einem krankhaften Beigeschmack war diese Beziehung, der Lucie schließlich entkommen musste – wie ihrer ganzen trägen, traurigen Kindheit.
Sieben Jahre Schlaf ist eine kleine, sehr feinsinnige und melancholische Geschichte, in der die 1980 geborene Autorin Karin Richner von einer Frau erzählt, die das Mädchen, das sie einst war, zurückgelassen hat und zugleich nicht vergessen kann. Was mir gleich von Anfang an entgegenschlägt, ist die enorme, zähe Hitze, der die Dorfmenschen ausgesetzt sind, eine Hitze, die Gedanken nur wie Sirup durch den Kopf fließen lässt. Eine flirrende Atmosphäre überzieht den ganzen Roman, und wie Ich-Erzählerin Lucie habe ich oftmals das Gefühl, nicht atmen zu können in dieser Glut. Alles ist schon vorbei zu dem Zeitpunkt, da die Erzählung beginnt, und eigentlich ist es niemals vorbei, denn die Kindheit tragen wir alle, wie könnte es anders sein, für immer in uns. Lucie will sich den Wunden der Vergangenheit nicht stellen und muss es doch, weil das Leben sie zwingt, zurückzukommen und sich zu erinnern. Sie war eins jener Kinder, die geliebt, aber nicht mit Zuneigung überschüttet werden, und sie blieb zwischen den persönlichen Wünschen der Erwachsenen auf der Strecke. Karin Richner erzählt davon ganz unaufgeregt, sprachlich elegant und dennoch mit einer Stimme, die Gewicht hat und Klang. Sieben Jahre Schlaf ist wie ein verstörender Traum voller Szenen, die scheinbar nicht zusammenhängen und doch Sinn ergeben, voll Verzweiflung und Hoffnung zugleich, ein Traum, der an einem so heißen Ort stattfindet, dass man verschwitzt daraus erwacht. Sehr gut gemacht.
Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge: das Cover gefällt mir so gar nicht, und was der Herbst mit dem Roman zu tun haben soll, ist mir schleierhaft.
… fürs Hirn: ein altes Thema, aber eloquent umgesetzt – wie die Kindheit uns prägt und niemals loslässt.
… fürs Herz: die Einsamkeit der kleinen Lucie.
… fürs Gedächtnis: der bilgerverlag, der mir in diesem Jahr schon mit Skoda positiv aufgefallen ist.