Gut und sättigend: 3 Sterne

Perfide kleine Erzählung
Der Professor hat mir klargemacht: Amélie Nothomb ist gut für böse, originelle Geschichten. Als ich daher Die Reinheit des Mörders auf dem Remittendentisch fand, ist es in mein Regal gewandert. Und siehe da: Auch in diesem Roman macht Nothomb Gebrauch von ungewöhnlichen Ideen, provokanten Aussagen und Figuren, die so surreal wirken, dass sie fast schon wieder echt sein könnten. Hauptperson ist dieses Mal Prétextat Tach, ein gefeierter Autor, der 83-jährig an einer seltenen Krebsart erkrankt und nur noch zwei Monate zu leben hat. Die Journalisten reißen sich um ein Interview mit ihm, fünf werden ausgewählt. Einer nach dem anderen betritt den Ring und wird von Tach in einem verbalen Boxkampf k. o. geschlagen. Wie begossene Pudel trotten sie aus dem Zimmer, in dem der monströs fette, fiese und rücksichtslose Alte liegt. Es braucht erst eine Frau, die als Einzige all seine Werke gelesen und zudem in seiner Vergangenheit geschnüffelt hat, um dieser Eiterbeule die Stirn zu bieten.

Fast der ganze Roman ist in Interviewform gehalten (ähnlich wie Das Wetter vor fünfzehn Jahren von Wolf Haas, wobei es mir da jedoch noch geschickter gemacht ist), die Charaktere sind extrem überspitzt gezeichnet: Tach scheißt auf Manieren und Konventionen, er spuckt Gift und Galle, während die Journalisten naiv sind und extrem dumme Fragen stellen, sodass sie naturbedingt schnell zu Boden gehen. Was die Geschichte in der Geschichte betrifft, die im Interview mit der Frau ans Tageslicht kommt, so ist sie dermaßen absurd, dass ich nicht weiß, ob ich sie genial oder lächerlich finden soll. Die Erzählung versteigt sich immer mehr in der perversen Fantasiewelt des sterbenden Autors, hat aber – obwohl der Titel ja schon einen Todesfall erwähnt – doch ein, zwei überraschende Wendungen.

Amélie Nothomb ist definitiv eine Ausnahmeautorin. Selten schreibt jemand mit so viel Freude und Lust über das Gemeine, Niederträchtige und Abscheuliche. Die Reinheit des Mörders ist ein kleines Büchlein für zwei, drei Stunden abstruses Vergnügen.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Bericht über ein entbehrungsreiches Leben
Oskar Maria Graf ist ein wichtiger Chronist deutscher Geschichte: 1894 wurde er in Berg am Starnberger See geboren. 1933 schrieb er den Aufruf “Verbrennt mich!” gegen die Nazis, danach lebte er im Exil in New York. Das Leben seiner Mutter, von dem er in diesem Buch erzählt, begann 1857. Sie hieß Theres, wurde aber bayerisch Resl oder Resei genannt. Sie hatte acht Geschwister und wurde auf einem Bauernhof groß, auf dem es vor allem eins im Überfluss gab: Arbeit. Von früh bis spät schufteten die Eltern, die Kinder sowie die Mägde und Knechte im Stall und auf dem Feld. Die Heimrath-Bauern waren in der Gegend geachtet, aber nicht reich. Ihre Frömmigkeit zeichnete sie als besonders katholisch und gläubig aus, sie beteten viel und waren in jeder Lebenslage überzeugt: “Unser Herrgott wird’s schon richten.” Was die Obrigen trieben, war für die Unteren meist undurchschaubar. Kriege zogen durch das Land, doch die Bauern merkten davon nur etwas, wenn ihre Knechte eingezogen und ihre besten Pferde konfisziert wurden. Was wir heute unter Selbstverwirklichung verstehen, war damals nicht einmal im Ansatz denkbar. Die Dorfbewohner waren misstrauisch und begegneten einander mit Argwohn, keiner gönnte dem anderen Erfolg und jeder redete über jeden. Als der Bäcker Maxl eine neue Backstube einrichtete, glaubte niemand an ihn. Doch er kämpfte sich durch und arbeitete hart für wenig Geld. Kaum hatte er das Schlimmste überstanden, hielt er um Resls Hand an, die keine Einwände erhob, denn “heiraten muss halt jeder mal”. Elf Kinder bekamen die beiden, doch nur acht überlebten, darunter Oskar.

In einer sehr altertümlichen Sprache erzählt Oskar Maria Graf vom beschwerlichen Leben seiner Mutter, vom Alltag auf dem Bauernhof, bevor es Elektrizität, Melkmaschinen und Traktoren gab. Die detailgenaue Darstellung von Figuren und Ereignissen macht das Buch einerseits sehr authentisch, ist aber andererseits auch recht anstrengend. In der zweiten Hälfte erzählt er aus seiner Kindheit und Jugend, die durchsetzt war von Streitigkeiten und Missgunst. Die Geschwister hatten nichts füreinander übrig und prügelten sich bei jeder Gelegenheit. Hier ist der Klappentext um ein Vielfaches sentimentaler als der tatsächliche Buchinhalt: Die große Familie war verfeindet und hat nie Zusammenhalt gekannt, Mutter Theres stand dem allem hilflos gegenüber. Überhaupt zeichnet sich dieser Bericht durch eine merkwürdige Emotionslosigkeit aus: Eltern und Geschwister waren halt da, und wenn einer starb, begrub man ihn eben. Kaum einer ging an einem anderen Familienmitglied, bei manchen wünschten sie sich gar, sie würden im Krieg fallen. Als es dann geschieht, heißt es nur: “Wir vermissten ihn nicht.” Das ist für einen Leser wie mich ist das höchst befremdlich, weil ich mit ganz anderen Werten aufgewachsen bin. Dennoch finde ich es interessant, einen Einblick in das beschwerliche, demütige Leben auf einem Bauernhof im 19. Jahrhundert zu bekommen, denn ich bin nicht nur wenige Kilometer von der bayerischen Grenze, sondern ähnlich ländlich aufgewachsen. Zudem fasziniert es mich, über die Vergangenheit zu lesen oder alte Bilder zu betrachten: Was haben die Menschen früher getragen, wie haben sie ausgesehen, wie haben sie gelebt? Darüber gibt Oskar Maria Grafs Chronik Aufschluss. “Wer dieses Buch liest, lernt die bayerische Seele kennen”, hat meine Freundin, die mir Das Leben meiner Mutter geliehen hat, gesagt. Und sie hat Recht behalten.

Allgemein

Neues Jahr, neue Bücher!
Liebe Lesefreunde, ich bin mal wieder gespannt auf eure Empfehlungen, Hände-weg-Warnungen und Hab-ich-gelesen-Berichte! Was lag bei euch Literarisches unter dem Christbaum und ist mittlerweile schon verschlungen worden? Waren Bestseller dabei oder vielleicht ein Geheimtipp? Was lest ihr jetzt gerade und wie gefällt es euch? Schwingt die Finger, ich freu mich!

Für Gourmets: 5 Sterne

Einen “uralten Akkord der Zärtlichkeit” …
… schlägt Zoli auch in mir an. Dass dies ein trauriges Buch ist, sagt einem sofort der Inhalt: Es geht um die Roma. Ich weiß wenig über dieses geächtete, vertriebene und zu Tode geprügelte Volk – aber in Zoli wird es lebendig, seine Sitten, Gesetze und Erlebnisse werden greifbar. Man muss schon ein Herz aus Stein haben, um von diesem Buch nicht getroffen zu werden: In einer eindrucksvollen Sprache mit herrlich schönen Metaphern beschreibt Colum McCann, wie das junge Zigeunermädchen Zoli zur Frau und – weil sie versucht, ihrem Volk eine Stimme zu geben – ausgestoßen und verflucht wird. Die Befehlshaber wechseln – von den Hlinka-Gardisten und Nazis zu den Kommunisten – doch die Situation für die Roma bleibt immer gleich: Sie gelten als Lügner und Diebe, als schmutzig und dumm, sie sind unerwünscht und verhasst. “Es gab natürlich keine Radiosendung in Romani”, sagt die junge Zoli, “nicht einmal für eine halbe Stunde, und so erfuhren wir nicht, was mit unserem Volk geschah.” Zoli hat auf der Welt nur noch ihren Großvater, einen rauen, sturen Mann, und ihre Verwandten im Geiste, das fahrende Volk. Sie wächst in einem alten, wunderschön geschnitzten Wagen auf, sie näht sich nach alter Tradition Münzen ins Haar, sie wäscht sich in fließenden Gewässern und ernährt sich von dem, was sie findet. Und sie singt. Sie singt die alten Lieder eines Volks, dem der Tod stets auf den Fersen ist.

Erzählt wird diese starke, wilde Geschichte von Zoli selbst, vom jungen Engländer Swann, der in den frühen Sechzigerjahren in die Slowakei kommt und maßgeblich daran beteiligt ist, dass Zoli für immer von den Zigeunern verstoßen wird, sowie von einem Journalisten, der im Jahr 2003 auf Zolis Spuren wandelt. Überraschend dabei ist, dass Colum McCann Zoli sowohl in der ersten Person berichten lässt als auch in der dritten Person über sie schreibt. Während mich dieser Perspektivenwechsel zuerst irritiert hat, scheint er mir am Ende plötzlich logisch und wichtig: Es ist, als würde sie aus der Distanz von etwas erzählen, bei dem sie sich so fühlt, als hätte jemand anderes es erlebt – denn sie ist diese Person nicht mehr. Zoli ist ein Buch mit einer nicht (ganz) linearen Handlungskette,  ein mutiges, stolzes, anklagendes Buch, das doch niemals wehleidig wird. “Lass die Menschen vier verschiedene Meinungen über dich haben”, sagt Zoli, “und alle falsch sein.”

Zoli zu lesen, tut weh. Colum McCann hat ausgezeichnet recherchiert und erweckt die zum Leben, die tot sind: in ihren Gesten und in ihrem Lachen, in ihrem Anderssein. Mit Zolis Stimme verurteilt er alle, die intolerant und grausam sind. Er spielt mit Klischees, aber er zeichnet nicht in Schwarz und Weiß: Auch die Roma haben in seinem Buch ihre schlechten Seiten. Sein Stil ist dabei beeindruckend scharf und gleichzeitig verspielt, durchsetzt mit grandiosen Sprachbildern wie “Elena, eine Polin mit Haaren so schwarz wie ein Fingerabdruck”. Meisterhaft gelungen ist das Ende, das mich versöhnt, aber dennoch wehmütig zurücklässt. Ein schmerzhafter, großartiger, unvergesslicher Roman – vielleicht nicht “das perfekte Buch”, aber zumindest eins der wenigen, die ich nicht vergessen werde.

Lieblingszitat: Es gibt ein altes Roma-Lied, in dem es heißt, dass wir anderen Menschen kleine Teile unseres Herzens geben, und je weiter wir im Leben voranschreiten, desto weniger vom Herzen bleibt für uns selbst, bis schließlich nicht mehr genug da ist. Man nennt es Reise, man nennt es auch Tod, und weil es uns allen so ergeht, gibt es nichts Gewöhnlicheres als das.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Außen hui, innen pfui
Richard Yates – dessen Roman Zeiten des Aufruhrs letztes Jahr in die Kinos kam – porträtiert den amerikanischen Mittelstand, die Vorstadtbürger, deren Leben vordergründig so sauber, so lustig und so bunt ist. Dahinter jedoch lauern, wie wir alle wissen, Abgründe. Im Fall von Easter Parade lernen zwei Frauen, die Schwestern Sarah und Emily, diese Abgründe kennen: Als sie noch klein sind, in den 1930er-Jahren, lassen ihre Eltern sich scheiden, die Mutter, die Pookie genannt werden will, zieht ständig mit ihnen um und hat ein Alkoholproblem. Als Erziehungsberechtigte ist sie unbrauchbar. Sarah heiratet früh, Emily geht aufs College und lässt nichts anbrennen: Sie wechselt die Männer in Rekordzeit. Aber schnell stellt sich heraus, dass beide mit ihrem Lebensmodell nicht das Glück gefunden haben.

Easter Parade ist die Studie einer Frau – Emily, der wir als Leser folgen – , an der eigentlich nichts besonders ist: Sie macht Karriere, lernt viele Männer kennen und lebt vor sich hin. Am Verlauf der Handlung hat mich nichts überrascht (bis auf das Ende), da Yates viele Klischees aufwirbelt und hinter der Fassade der beiden Frauen das aufdeckt, was man dahinter erwartet: Unzufriedenheit, Perspektivenlosigkeit, häusliche Gewalt, Alkohol und Selbstsucht. Erstaunt hat mich dagegen Emilys Verhaltensweise, ihr eiserner Egoismus und ihre Weigerung, zu helfen. Das ist nicht das Bild, das man von seinen Mitmenschen hat bzw. haben möchte: dass sie nur an sich denken. Und doch hat Yates damit genau einen Knackpunkt getroffen: weil es natürlich so ist.

Der Erzählstil wirkt auf mich sehr träge, stellenweise ein wenig oberflächlich. Das mag damit zusammenhängen, dass die Jahre in Easter Parade rasend schnell vergehen und wir uns immer wieder in das Leben von Emily einklinken, ohne so richtig an dessen Entwicklung teilzuhaben. Beeindruckend ist, wie Yates sich in eine Frau hineinfühlt, die alles andere ist als sympathisch – und gerade dadurch authentisch. Was also kann uns dieser Roman sagen? Nichts, was wir nicht schon wüssten: dass das Leben oft traurig und einsam und dann auf einmal viel zu schnell vorbei ist. Aber Yates erzählt es glaubwürdig und lesenswert.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Ein lebendiger, einfühlsamer und glaubwürdiger Roman
Zu Beginn schafft William Kowalski eine Ausnahmesituation, wie eine gute Geschichte sie braucht: William Amos Mann wird als Säugling in einem Korb vor die Haustür seines Großvaters gelegt, seine Mutter hat ihn auf einem Zettel als “Eddies Bastard” bezeichnet. Eddie ist kurz davor in Vietnam gefallen. Der Großvater erkennt in dem Baby auf den ersten Blick als seinen Enkel und nimmt ihn auf in das alte, leere Haus, in dem es außer vielen Gespenstern und noch mehr Geschichten nichts mehr gibt. Die Manns waren einst eine Dynastie von einer gewissen Größe – nicht umsonst heißt der Ort Mannsville -, doch Schicksalsschläge und Fehlinvestitionen haben ihren Untergang herbeigeführt. So gut er kann, zieht der alkoholkranke Großvater Billy groß – mit reichlich Mortadella und vielen Erzählungen. “Mein Leben war von Anfang bis Ende aus Geschichten gemacht”, sagt Billy später. Aber was wäre das für eine Story ohne ein Mädchen? In diesem Fall heißt sie Annie und Billy nimmt sich vor, sie von ihrem tyrannischen Vater zu befreien …

Eddies Bastard ist ein Buch, bei dem das Lesen Spaß macht. Es lässt schmunzeln, es überrascht, es macht nachdenklich und zufrieden. William Kowalski hat seine Figuren sehr liebevoll gezeichnet – den kauzigen, aber bemühten Großvater und den verlorenen, aber mutigen Billy – und lässt sie nie ganz im Stich, auch wenn ihnen etwas Negatives widerfährt. Auf dem Klappentext wird behauptet, Kowalski werde als Nachfolger von Irving gefeiert – und auch wenn ich nicht der Meinung bin, dass es einen zweiten Irving braucht bzw. geben kann, lassen sich einige wenige Parallelen wie die Neigung zum Sex mit älteren Frauen und die absurden Elemente. Eddies Bastard ist ein Roman voller Lebensweisheit und unerklärlichen, aber logischen Ereignissen. Jedes Mal, wenn man denkt, man wüsste, was passieren wird, geschieht etwas völlig anderes. Dabei wartet der Autor durchaus mit sprachlicher Finesse auf und unterhält sogar einen anspruchsvollen Leser wie mich. Ein besonderer Pluspunkt: Im Gegensatz zu 98 % aller Bücher, in denen ein Kind nach und nach erwachsen wird, verliert Eddies Bastard auch zum Ende hin kaum etwas von seinem Zauber. Nach der Lektüre musste ich feststellen, dass ich sie richtig vermisste, Großvater und Billy.

Lieblingszitat: Vom Zusehen lernte ich, dass man betete, indem man den Kopf senkte und verlegen tat.

Für Gourmets: 5 Sterne

“Ein Märchen aus heutiger Zeit”, sagen die Kritiker …
… und sie haben recht: In ihrer fantastisch leichten, verspielten Sprache schafft es Milena Agus mit Die Flügel meines Vaters, mir ein Gefühl zu vermitteln wie damals als Kind, als alle Geschichten noch spannend und neu waren und ich nicht genug bekommen konnte von den Fantasiewelten zwischen zwei Buchdeckeln. In diesem Roman entführt die Schriftstellerin den willigen Leser nach Sardinien, an einen kleinen, verlorenen Küstenort, den Tourismusbosse gern in ein 08/15-Feriendorf verwandeln würden. Die Dorfbewohner sind einverstanden – die Pläne scheitern jedoch an der Madame, die das Grundstück besitzt, das zwischen den anderen liegt und ans Meer führt. Sie will nicht verkaufen, sie will nicht reich werden. Sie liebt das Leben auf der Insel und hat ein kleines, schwer erreichbares Hotel. Die Nachbarn halten sie für verrückt – bis auf eine Familie, zu der die 14-jährige Ich-Erzählerin gehört. Sie und ihr Großvater sind Freunde der Madame, die so genannt wird, weil das Französische ihr gefällt, und die trotz ihrer wilden Locken und ihrer gutmütigen Art keinen Mann findet. Die Liebe fehlt in ihrem Leben, und deshalb versucht sie es mit Magie – denn ohne Magie “ist das Leben nur ein einziger großer Schrecken”.

Mit Die Frau im Mond hat Milena Agus mir Appettit gemacht – mit Die Flügel meines Vaters hat sie mich begeistert. Es handelt sich dabei um ein schmales Büchlein von gerade mal 157 Seiten, das einen – leider nur – für ein paar Stunden ins duftende Sardinien bringt. Ihre Sprache ist anmutig, sie tanzt beim Beschreiben, sie ist märchenhaft – aber mit viel Lebensweisheit und niemals oberflächlich. In kurzen Kapiteln, die selbst wie kleine, feine Geschichten sind, beleuchtet die Ich-Erzählerin eine ungewöhnliche Frau, die in ihrer Art so unverständlich und zugleich so liebenswert ist. Vor Sex und derben Szenen schreckt sie dabei genauso wenig zurück wie vor Andeutungen auf Gespenster, Erscheinungen und Magie. Das alles wirkt authentisch für die raue Insel und die abergläubische Mentalität ihrer Bewohner, die so unberechenbar sind. Schön ist, dass man bei Milena Agus nie weiß, was passieren wird – nur, dass es etwas Originelles, Schönes oder Trauriges und immer sehr, sehr Lesenswertes sein wird. Ein zauberhaftes Buch.

Für Gourmets: 5 Sterne

Wunderbare Literatur hört auf den Namen Per Petterson
Ich hab’s gar nicht mit Lieblingsbüchern und Lieblingsautoren. Aber hätte ich einen liebsten Autor, es wäre Per Petterson. Er gehört zu den wenigen Schriftstellern, bei denen ich zur Wiederholungstäterin werde. Umso größer meine Freudeals sein neuestes Buch Ich verfluche den Fluss der Zeit unterm Christbaum lag. Und: Es ist so wunderbar, wie ich es erwartet habe. Nach Im Kielwasser, dem Roman, indem Petterson eine Vater-Sohn-Beziehung durchleuchtet hat, kehren wir zurück zur Hauptfigur Arvid: Nur steht dieses Mal seine Mutter im Mittelpunkt. Als sie die Diagnose Krebs erhält, bricht sie als gebürtige Dänin sofort auf in das Ferienhaus der Familie nach Dänemark – mitten im Winter. Und Arvid reist ihr nach.

Per Petterson findet die richtigen Worte für alles, was ungesagt bleibt. Und das ist zwischen Arvid, den seine bevorstehende Scheidung unendlich schmerzt, und seiner Mutter, die diesen ihrer vier Söhne für schwach und wehleidig hält, viel. Ich verfluche den Fluss der Zeit, dessen Titel aus einem Gedich von Mao stammt, ist ein melancholisches Buch mit wenig Handlung, aber umso mehr Inhalt. In Rückblenden erfahren wir, warum Arvid so sehr davon gequält wird, dass seine Frau ihn nicht mehr mag, warum die Konflikte zwischen ihm und der Mutter entstanden sind und wie sich sein Alltag als praktizierender Kommunist in den letzten Jahren gestaltet hat.

Per Pettersons Bücher sind für mich ein Phänomen: Denn ich kann es nicht ausstehen, wenn in einem Roman so wenig passiert. Aber der Norweger entwickelt mit seiner sagenhaft schönen Sprache einen Sog, dem ich mich nicht entziehen kann. Ein großes Lob soll an dieser Stelle auch für die hervorragende Übersetzung ausgesprochen werden. Dabei benutzt er keine pathetischen, großen Worte, vielmehr konzentriert er sich auf das Kleine, webt es zusammen zu einem Netz aus Literatur, die man nicht vergessen kann. Das Einzige, was an Pettersons Romanen schade ist, ist, dass sie so schnell ausgelesen sind und es so lange dauert, bis ein neuer erscheint. Ich hätte so gern noch weitergelesen.

Bücherwurmloch

Hurra: So startet das Bücherwurmloch ins Jahr 2010.

Das Christkind war brav und hat mich mit dem (gewünschten) Lesestoff versorgt. Und ein Abstecher zum Remittendenwühltisch von Jokers hat dafür gesorgt, dass mein SuB nicht unter 20 Bücher fällt. Ich bekäme ja sonst Mangelerscheinungen …

Aufs Gelesenwerden warten demnach neuerdings:

Rose Tremain: Der weite Weg nach hause
Clemens J. Setz: Die Frequenzen
Stewart O’Nan: Alle, alle lieben dich
Sadie Jones: Der Außenseiter
William Kowalski: Eddies Bastard
Arthur Philipps: Angelica
Robert Schneider: Die Offenbarung
Michael Wallner: Zwischen den Gezeiten
Rainer Braune: Die Krokodilfärberei
Edward Carey: Alva und Irva
F. Scott Fitzgerald: The Great Gatsby

Und los geht’s!

Gut und sättigend: 3 Sterne

Ein Roadtrip anno 1947
Jack Kerouac ist ein Autor, den man mit der Beat-Generation der beginnenden Fünfzigerjahre in Verbindung bringt: Mit On the Road wurde er berühmt. In diesem halbautobiografischen Roman erzählt er von Sal Paradise, der 1947 von New York nach Denver und weiter nach San Francisco trampt. Er ist jung, er hat keinen Job und zeitweise reist er mit nur einem Dollar in der Tasche (der damals bedeutend mehr wert war). In Denver hofft er, seinen Freund Dean Moriarty, den er bewundert, und andere Kumpels zu treffen. Dean, der sich immer mit mehr als einer Ehefrau herumschlägt, will, genau wie Sal, unabhängig sein und Autor werden. “We drove around aimlessly” trifft das, was sie tun, wohl am besten.

Allein und frei reist Sal Paradise durch Amerika – und genießt das Leben. Er lernt ein Mädchen nach dem anderen kennen und hinterlässt gebrochene Herzen. Wie er und Dean sich verhalten, würde man heute im besten Fall asozial nennen. Sie sind auf der einen Seite verantwortungslos, auf der anderen Seite ungebunden. Sie probieren Drogen aus, trinken Alkohol und wollen sich nicht binden, weder beruflich noch an einen Ort noch in der Liebe. Doch da es die swingenden, coolen, aufstrebenden Fünfzigerjahre sind, erweckt Sals Geschichte einen raubeinigen, lässigen Eindruck, sein Leben wirkt beneidenswert.

Was mich an On the Road stört, ist die dürftige Handlung: Es passiert nicht viel. Der Roman ist eher die Charakterstudie von Männern einer vergangenen Zeit, die umso authentischer wirkt, da sie zeitgleich geschrieben – und teilweise auch vom Autor erlebt – wurde. Dennoch fehlt mir die Entwicklung der Persönlichkeiten bzw. der Sinn und Zweck des Buchs, der, wie ich merke, für mich persönlich unerlässlich ist. Nichtsdestotrotz gibt On the Road interessante und überraschende Einblicke in eine Generation, die mir fremd ist. Schön ist, wie Sal das Außergewöhnliche sucht und findet: “… because the only people for me are the mad ones, the ones who are mad to live, mad to talk, mad to be saved, desirious of everything at the same time, the ones who never yawn or say a commonplace thing, but burn burn burn …”