Gut und sättigend: 3 Sterne

Exaltiert, gestelzt, einzigartig, fantastisch, anstrengend: ein Buch mit vielen Eigenschaften
Drei völlig unterschiedliche Helden, Maskenbälle und Kostüme aus dem viktorianischen Zeitalter, Frauen in Korsetts, mächtige Bösewichte und jede Menge blaues Glas: Das sind die Zutaten, aus denen Drehbuchautor Gordon Dahlquist seinen viel gelobten und sehr originellen 924-Seiten-Schmöker gestrickt hat. Und alles beginnt so: Die eigensinnige und naive 25-jährige Miss Temple ist entrüstet, dass Roger Bascombe, Angestellter des Außenministers, ihre Verlobung ohne eine Erklärung löst. Um einen Grund zu finden, folgt sie ihm zu einem Maskenball in einem abgelegenen herrschaftlichen Haus – und gerät unvermittelt in Lebensgefahr. Ähnlich ergeht es dem Auftragsmörder Kardinal Cheng, der auf demselben Maskenball einen Colonel ermorden soll, diesen aber bereits tot vorfindet. Ehe er sich versieht, ist er in dunkle Machenschaften hineingezogen und muss um sein Leben fürchten. In Gefahr befindet sich auch Doktor Svenson aus Mecklenburg, dessen Aufgabe es ist, einen Prinzen zu schützen – und der dabei denselben Bösewichten wie Cheng und Miss Temple in die Quere kommt. Alle drei treffen “zufällig” im Hotel Boniface zusammen und schwören einander, den Ereignissen gemeinsam auf die Schliche zu gehen. Und es ereignet sich allerhand Mysteriöses: Frauen und Männer werden durch eine geheimnisvolle Prozedur, das Verfahren genannt, willenlos und gefügig gemacht. In Karten aus indigoblauem Glas werden lebensechte Erinnerungen in Bildern festgehalten. Hinter der großen Verschwörung stecken Adelige ebenso wie der Außenminister und mächtige Personen des Landes.

Die Glasbücher der Traumfresser ist ein exaltierter, eigenwilliger, spannender und anstrengender Roman, in dem Gordon Dahlquist irreale Elemente, Abenteuer, Erotik und Action wild zusammenmixt. Die Vorgänge rund um das mysteriöse Glas sind reichlich kompliziert, die ersten 150 Seiten lang versteht man erst mal gar nichts. Was aber nicht so schlimm ist – zum einen gibt es ja noch knapp 800 weitere Seiten, zum anderen ist es ganz amüsant, den drei tollpatschigen, ratlosen, aber endlos mutigen Helden des Buchs auf ihren Irrwegen zu folgen. Eine Ruhepause gibt es in diesem Roman nicht: Die ganze Zeit über wird gejagt, gesucht, gemordet und intrigiert. Wer mit wem und wer gegen wen – man weiß es nicht. Bis zum allerletzten Satz spritzt Blut, wird Glas zerbrochen, werden Menschen manipuliert und Geheimnisse verborgen. Wie die drei Protagonisten – zwischen denen die Perspektive regelmäßig wechselt, allerdings meist mit jeweils knapp 80 Seiten dazwischen – im herrschaftlichen Haus Harschmont (wie kann ein Haus so unglaublich viele Zimmer und Geheimgänge haben?), verirrt man sich als Leser in den Handlungssträngen und Ereignissen im Buch. Die Glasbücher der Traumfresser ist fesselnd und originell, stellenweise aber auch mühsam, da man vor lauter Action kaum zum Atmen kommt. Zudem bildet dieser Roman keine Ausnahme bei den Mehr-als-600-Seiten-Büchern: Er ist einfach zu dick, viele Szenen hätte man gut und gern einsparen können, da sie nur das Durchhaltevermögen des Lesers strapazieren. Der rasante Plot rund um eine geheimnisvolle Substanz, um Macht und den Kampf zwischen Gut und Böse ist aber auf jeden Fall fantasievoll und bereitet viel Lesevergnügen – wenn man genug Energie mitbringt. Streckenweise lässt das Buch zu wünschen übrig und das Ende ist geschickt so gehalten, dass man zum zweiten Teil Das Dunkelbuch greift, was ich aber nicht tun werde. 924 Seiten Abenteuer mit Miss Temple sind genug.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Großartige Kritik an der Unterhaltungsbranche
In diesem Buch ist der Originaltitel Programm, der Torture the Artist lautet: Vincent ist sieben, als die New Renaissance Academy auf ihn aufmerksam wird. Sie hat es sich zum Ziel gesetzt, den Mainstream mit guten Songs und Filmen zu unterwandern und die Qualität der Kunst zu verbessern. Und das soll folgendermaßen gelingen: Junge Talente werden auf der Academy zu Künstlern ausgebildet. Da die Geschichte zeigt, dass viele große Kunstwerke aufgrund des Leidensdrucks der Schaffenden entstanden, sollen die potenziellen Kreativen absichtlich gequält und manipuliert werden, damit sie sich nur in ihre Kunst flüchten können – und viel produzieren. Harlan Eiffler wird Vincent als Manager zugeteilt. Seine Aufgabe besteht vorwiegend darin, dafür zu sorgen, dass Vincent niemals glücklich sein wird.

Mit dem ideenreichen Quälgeist an seiner Seite sind für Vincent Hoffnungslosigkeit und Leid programmiert: Geschickt sorgt Harlan dafür, dass Vincent ungeliebt und einsam bleibt. Seine Methoden sind dabei ebenso effizient wie grausam. Und sie funktionieren: Vincent wird noch als Teenager zum begnadeten Songwriter und Drehbuchschreiber. Er hat keine Freunde, keine Familie, keine Liebe in seinem Leben – nur das Schreiben. Doch als Harlan und seine skrupellosen Bosse es dann zu weit treiben, zeigt sich: Ganz ohne Glück kann man dann doch nicht leben – und auch nicht kreativ sein.

Vincent ist eine bissige Kritik an der Unterhaltungsbranche, die umso härter ausfällt, da sie so viele Wahrheiten enthält. Der junge Künstler wird ausgepresst wie eine Zitrone, er wird manipuliert und verarscht – unter dem Vorwand der Kunst, die nur der Schleier ist für das viele Geld, das dahintersteht. Joey Goebel prangert die Radio- und Fernsehlandschaft durch eine originelle, realistische und extrem lesenswerte Geschichte an, vergisst aber am Ende nicht auf die Moral, die für eine gewisse Art von Gerechtigkeit sorgt. Dies ist ein herausragend gutes Buch über Manipulation und Medienkonsum, über Schicksal, Leid und Glück. Unbedingt lesen!

Gut und sättigend: 3 Sterne

Ein Buch als Mahnmal
In den Siebzigerjahren ist Buenos Aires ein gefährliches Pflaster: Kaddish Poznan, Sohn einer jüdischen Hure, verdient Geld damit. Nachts hievt er sich über die Mauer in den jüdischen Friedhof und entfernt Namen von Grabsteinen, weil die Nachfahren Angst vor der Entdeckung haben – und ihn gut für seine Dienste bezahlen. Kaddishs Frau Lillian und sein Sohn Pato sind nicht erfreut über diese unehrenhafte Arbeit; Pato fühlt sich als kleiner Rebell. Er besitzt verbotene Bücher und träumt davon, sich gegen das grausame Regime aufzulehnen. Der Vater-Sohn-Konflikt ist sehr stark und entlädt sich gegen Mitte des Buchs auf dramatische Weise. Derweil übernimmt die Militärjunta die Macht und fackelt nicht lange – die Kinder Argentiniens verschwinden eines nach dem anderen.

Was die Atmosphäre betrifft, so erinnert mich The Ministry of Special Cases sehr stark an Der Schatten des Windes von Záfon: düster, ein wenig schaurig, ein bisschen mystisch, aber doch realistisch genug. Nathan Englander zeichnet das Porträt eines gescheiterten Mannes, dessen Träume sich nie erfüllt haben und der plötzlich das Schlimmste erlebt, was einem Vater passieren kann. Kaddish und Lillian verlieren im Laufe des Romans alles – sogar das, was das Jüdischste an ihnen ist: ihre Nasen. Sie geraten in die Schusslinie eines Regimes, wie es auf dieser Welt tatsächlich existiert hat und in vielen Ländern weiterhin existiert. Dieses Buch ist eine Mischung aus Familientragödie und Gesellschaftsabbild, gewürzt mit einer Prise Judentum: “When there’s death in the air, the Jew is more likely to catch it”, sagt Lillian.

The Ministry of Special Cases ist ein spannendes, trauriges und regelrecht deprimierendes Buch mit einem für mich sehr überraschenden Ende. Auszusetzen habe ich nicht viel, Schreibe und Inhalt reichen für mich zwar nicht zur Glorioses-Meisterwerk-Bewertung, das Buch ist aber durchgehend gut gemacht. Es behandelt Verlust und Erinnerung, Hilflosigkeit und Elternsein.

Lieblingszitat: Lillian zu Kaddish: “You’re broken in so many places for so long that – like your nose – it has come to pass for beauty.”

Bücherwurmloch

Das Jahr 2009 in Büchern
In diesem Jahr hab ich es zum ersten Mal seit 2004 – seit ich angefangen habe, mein schlaues Bücherbuch zu führen – geschafft, erneut mehr als 80 Bücher zu verspeisen. Einige davon haben eher für literarischen Durchfall gesorgt, andere für ein angenehmes Wohlgefühl im Bauch. Was war euer Highlight des Jahres? Welches Buch hat euch besonders gut gefallen und warum? Ich freue mich auf Tipps, Kommentare und Empfehlungen!

Hier die Zusammenfassung meiner Schmankerln von heuer. Besonders begeistert haben mich
Julia Franck mit Die Mittagsfrau (was bereits für eine Diskussion gesorgt hat),
Per Petersons Im Kielwasser (ich bin ein großer Fan von Peterson und werde auch das neue lesen),
Elternland von Aharon Appelfeld (auch wenn heuer fast schon wieder ein Overkill an Holocaust-Büchern vorherrschte),
der junge fesche Paolo Giordano mit Die Einsamkeit der Primzahlen (mal sehen, was da noch kommt von diesem bemerkenswerten Autor!),
Anne Enright mit The Gathering (allerdings eine Einzeltat, wunderbar und ausreichend)
und Zsuzsa Bánks Der Schwimmer (was meine Vorliebe fürs Melancholische erneut bestätigt).

Erwähnt werden sollen aber auch jene Bücher, die immerhin vier von füng Punkten ergattern konnten und die ich durchaus empfehlen kann:
Im Rausch der Stille von Albert Sánchez Pinol (beeindruckend gruselig),
Craig Clevenger mit Der geniale Mister Fletcher (originelle Story),
Nicholas Christophers Eine Reise zu den Sternen (wunderbarer Schmöker!),
Die Frau im Mond von Milena Agus (klein, aber fein),
Warten auf die Sonne von Hitonari Tsuji (japanische Literatur at its best),
Carlos Ruiz Záfon mit seinem Zweitling Das Spiel des Engels (gut gemacht),
Eliott Pattisons The Prayer of the Dragon (einer meiner liebsten Autoren),
Elizabeth George mit Doch die Sünde ist scharlachrot (wenn schon Krimi, dann nur von ihr),
Vernimm mein Flehen von Ann-Marie MacDonald (der Überraschungshit des Jahres),
Steven Galloway mit The Cellist of Sarajevo (bedrückend und beeindruckend),
Brave New World von Aldous Huxley (ein Klassiker, den man doch gelesen haben sollte),
Winter in Maine von Gerard Donovan (eines der besten Bücher des Jahres),
Siri Hustvedt mit The Sorrows of an American (wobei es jetzt aber für mich reicht mit Siri),
Meg Mullins mit Der Teppichhändler (ein unerwarteter Genuss),
John Irving mit Until I find you (und ich werde weiterhin Irving-Fan bleiben),
Eros von Helmut Krausser (sehr empfehlenswert!),
Die Wasser des Bosporus von Alan Drews (unvermutet interessant),
Das Löwenmädchen von Erik Fosnes Hansen (eine originelle Geschichte),
Tim Parks mit Cleaver (wunderbar bissig und zynisch),
Sándor Márai mit Die Glut (auf Sándor ist eben Verlass),
Die Fremde von Magdalena Felixa (völlig unbekannt, aber umso mehr lesenswert).

Das waren die kulinarischen Leckerbissen aus meiner Menüzusammenstellung des Jahres 2009 … nun bleibt Platz für alles, was euch heuer gemundet hat!

Für Gourmets: 5 Sterne

Drei Leben, verbunden durch eine große Traurigkeit
Zsuzsa Bánk hat für ihr Erstlingswerk Der Schwimmer allerbeste Kritiken bekommen – zu Recht, wie ich finde. Ich-Erzählerin Kata ist noch ein junges Mädchen, als ihre Mutter die Familie verlässt und aus Ungarn flieht. Zusammen mit ihrem kleinen Bruder Isti und ihrem Vater Kálmán zieht Kata daraufhin ziellos durch das Land. Die drei kommen bei verschiedenen entfernten Verwandten unter, die sie mehr oder weniger gern aufnehmen. Sie freunden sich mit neuen Menschen an, sie lassen sich nieder – nur um erneut aufzubrechen. Am besten gefällt es ihnen in einem kleinen Ort am See, wo sie längere Zeit bleiben. Isti liebt das Schwimmen und beide hängen sehr an ihrer Cousine Virág. Die Kinder gehen nur sporadisch in die Schule, der Vater kümmert sich kaum um sie. Besonders Isti verliert sich immer mehr in einer anderen Welt, er hört, was gar kein Geräusch macht, und spricht nur wenig. Über die verschwundene Mutter redet niemand – und doch denken alle nur an sie.

Dieses wunderbare Buch ist durchtränkt von einer großen Traurigkeit. In einer unvergleichlich schönen Sprache erzählt Zsuzsa Bánk von drei einzelnen Menschen, die eine Familie sein sollen und doch keine sind, weil die Verbindungen zwischen ihnen durchtrennt wurden. Der Vater und seine beiden Kinder haben kein Zuhause mehr, weder innen noch außen. “Ich hatte das Gefühl”, sagt Kata, “Isti und ich, wir waren bloß zwei Zusätze, die an unserem Vater, an seinem Leben klebten und die er nicht mehr loswurde.” Der erschütternde Schluss wirkt erst übermäßig tragisch, doch eigentlich kann ein solcher Roman gar nicht anders enden. Und obwohl so viel erzählt wird, ist Der Schwimmer ein Buch, das vom Ungesagten lebt, von den leisen Zwischentönen, von den Gefühlen. In der Mitte des Buchs erfährt man auch, was mit der Mutter von Kata und Isti geschehen ist, wohin es sie verschlagen hat. Hier kippt die Perspektive ins Schräge, weil die Ich-Erzählerin über die Worte ihrer Großmutter von ihrer Mutter berichtet – so detailreich, wie keine der beiden davon wissen kann. Das ist wunderbar, originell und schön zu lesen.

In Der Schwimmer steht weniger die Handlung und mehr die Sprache im Vordergrund. Zsuzsa Bánk bedient sich kleiner Begebenheiten, um ein großes Ganzes zu schildern. Der Ton ist entspannt und freundlich, der Inhalt traurig und melancholisch. Dies ist der Bericht von zwei Kindern, die anders sind, weil sie zerbrochen sind. Es geht um Verlassenwerden, um Familienbeziehungen, um das Kindsein und ums Schwimmen. Ein großartiges Buch.

Netter Versuch: 2 Sterne

Ein alter Mann, eine junge Frau und eine Freundschaft
Die Frage, ob Männer und Frauen befreundet sein können, ist uralt und tausendfach gestellt worden. Auch in Hans Werner Kettenbachs Roman Sterbetage spielt sie eine Rolle. Interessant dabei: Der Mann ist mit knapp 60 schon älter, die Frau dagegen jung, Anfang 20. Sie treffen zufällig aufeinander: Heinz Kamp ist ein arbeitsloser Buchhalter, der nachts nicht schlafen kann und spazieren geht. Studentin Claudia läuft ihm über den Weg. Weil keine Straßenbahn mehr fährt und das Mädchen friert, nimmt er es mit nach hause. Was er sich damit angefangen hat, ist ihm selbst nicht so ganz klar: Einerseits geht ihm die zickige Claudia auf die Nerven, andererseits würde er sich in seiner Einsamkeit mit jeglicher Gesellschaft zufrieden geben, auch mit ihrer. Aber es ist natürlich alles nicht so einfach: Zwar spielt Sex kaum eine Rolle zwischen den beiden, sie haben sich vielmehr “ganz doll lieb”. Claudia hat aber jede Menge Schwierigkeiten am Hals, in die Kamp sich ein wenig verstrickt und die undefiniert bleiben. Sie kommt und geht, wie es ihr gefällt, ist ungezwungen und verrückt, sie hat kein Zuhause und übernachtet bei Kamp, wenn es ihr gerade in den Kram passt. Zwischen den beiden entwickelt sich eine Freundschaft, die ungewöhnlich und eigenwillig ist.

Bei Sterbetage handelt es sich um eine harmlose kleine Erzählung ohne rechten Höhepunkt oder großen Konflikt. Obwohl zwei einsame Menschen aufeinandertreffen, ist dies keine Liebesgeschichte im eigentlichen Sinn. Die Handlung läuft schnurgerade dahin und bietet keine Stolpersteine, aber auch keine interessanten Einsichten. Einzig überraschend ist das originelle Ende, das alles auf angenehme Weise auf den Kopf stellt. Ein Buch, das man lesen kann, aber nicht muss.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Ein grandioser Roman über Fremdheit und Einsamkeit
Eine namenlose Fremde lebt illegal in Berlin und versucht, sich Tag für Tag am Leben zu erhalten. Sie hat keinen Besitz, keine Papiere und keine Wohnung. Sie ist intelligent und gebildet, sie nimmt verschiedene Jobs an – als Pianistin, Übersetzerin oder Stripperin – und findet immer wieder Unterschlupf. Es treibt sie durch diese große, bevölkerte Stadt, in der sie stets untertauchen und verschwinden muss, sie ist eine Fremde, eine Isolierte, abgeschnitten von der Gesellschaft. Zu ihrem Glück hat sie ein paar Freunde, Außenseiter wie sie, die ihr in der größten Not helfen. Sie trifft auch zwei, drei Menschen mit dem Herz am richtigen Fleck, die sie mehr als einmal vor dem Abgrund retten.

Die Fremde ist ein fesselndes Buch über eine Frau, die am Rand des genormten Gesellschaftslebens steht. Sie entspricht nicht dem Bild, das man von illegalen Einwanderern und Obdachlosen hat, sie trinkt nicht, sie arbeitet (wenn sie darf), sie ist jung, hübsch und klug, spricht mehrere Sprachen und ist teilweise in der Schweiz aufgewachsen. Aber die Mischung aus innerer Ruhelosigkeit und äußerer Gefahr führt dazu, dass sie keinen Platz findet, an dem sie bleiben könnte. Gekonnt entwickelt Magdalena Felixa in einer sehr schönen, metaphernreichen Sprache einen faszinierenden Sog, ich konnte das Buch kaum zur Seite legen. Auf den Spuren der Protagonistin sieht man als Leser Vor- und Nachteile eines geregelten Lebens mit anderen Augen. “Die Dunkelheit gibt mir Geborgenheit, sie ist meine Verbündete, sie versteckt mich vor dem Unheil. Sie wird die Zeit eine Weile aufhalten, falls ich im nächsten Augenblick fliehen muss”, sagt die Fremde, und: “Meine Freunde sind Neger, Kanaken, Schwule, Fliehende, Fremde. So wie ich.” Sie lebt eine große Freiheit und kann tun, was sie will – doch als sie zum Beispiel an einer Lungenentzündung erkrankt, bedeutet das beinahe ihren Tod.

Inhaltlich wie stilistisch ist dieser Roman ein Highlight. Die Autorin versteht es, ein Gefühl für diese verlorene Frau zu vermitteln, die sich nicht festlegen kann und die jedes Angebot, sich lieben zu lassen, ausschlägt. “Mein Herz ist aus Eis”, sagt sie, “mein Verlangen gilt der Flucht.” Magdalena Felixa fällt kein Urteil über eine solche Lebensweise, sie schildert sie nur – in einer sehr eindrucksvollen Sprache. Einziger Wermutstropfen: Natürlich gerät die Protagonistin auf ihrem Weg durch die sumpfartigen Schichten Berlins an Leute, die ihr Böses wollen. In diesem Fall sind es Russen (eh klar), die sie jagen – das war mir dann doch zu platt. Davon abgesehen, ist Die Fremde originell, sehr gut geschrieben, rasant, spannend und unbedingt lesenswert. 

Lieblingszitat: Mein Herz trägt tausend Wunden, und sie bluten immer noch. Eines Tages wird aus ihm kaltes, klares Wasser fließen.

Prost Mahlzeit: 1 Stern

Von verbalen und literarischen Missverständnissen
Professor Desmond Bates hat an der Universität Linguistik unterrichtet. Jetzt ist er in Frühpension und praktisch taub. Der tägliche Kampf mit dem Hörgerät zehrt an seinen Nerven, seine Frau Winifred ist ob der vielen sprachlichen Missverständnisse am Ende ihrer Geduld. So besteht Desmonds Leben aus Alleinsein, Lesen, Fernsehen mit Kopfhörern und Schlafen. Ein soziales Leben ist ihm kaum noch möglich: Im Theater verpasst er die Pointen, auf Partys versteht er seine Gesprächspartner nicht. So geschieht es auch mit der jungen Dissertantin Alex, der er auf einer Veranstaltung unabsichtlich verspricht, ihr bei ihrer Doktorarbeit zu helfen. Schnell stellt sich heraus, dass Alex massive psychische Probleme hat. Sie verfasst eine Dissertation über Abschiedsbriefe von Selbstmördern und verhält sich außerordentlich verrückt. Als dann auch noch Desmonds Vater zusehends der Demenz verfällt, ist ihm wenigstens nicht mehr so langweilig in seinem Ruhestand.

Der Inhalt von Deaf Sentence klingt nach einer witzigen Geschichte. Diese Erwartung wird aber leider enttäuscht. Die vielen Missverständnisse, die angeblich so “hilarious” sein sollen, sind nur mäßig amüsant. Im Endeffekt ist dieses Buch leider so langweilig wie Desmonds Leben als tauber pensionierter Professor: Es passiert einfach viel zu wenig. Als die psychotische Alex auf den Plan tritt, die sich vom Professor wünscht, er würde ihr den nackten Hintern versohlen, scheint zunächst ein bisschen Pfeffer in den Roman zu kommen. Er verpufft aber sehr schnell wieder, denn Alex gerät in den Hintergrund und verschwindet schließlich ganz, ohne dass diese Geschichte eine Art Höhepunkt erlebt hätte. Überhaupt plätschert die Handlung recht ruhig und harmlos vor sich hin, Aufreger oder Spannungsmomente gibt es keine. Interessant war für mich stellenweise der Einblick in den früheren Linguistikunterricht des Professors, aber auch nur aus Sentimentalitätsgründen in Erinnerung an mein eigenes Linguistikstudium. Alle Handlungsstränge in Deaf Sentence, die ein wenig Pepp versprechen würden, verlaufen schließlich im Sand. Es gibt keine Auflösung am Ende, vielmehr scheint die Geschichte einfach ein Auszug aus dem Leben eines Mannes zu sein, der langsam taub wird. Das ist eher deprimierend als witzig. Dabei wurde dieser Roman mir empfohlen – das muss ein Missverständnis gewesen sein. Leider ein unfassbar uninteressantes Buch.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Ein Mann, ein Bein, zwei Frauen
Bei einem Unfall mit dem Fahrrad wird der Pensionist Paul Rayment so schwer verletzt, dass ihm ein Bein amputiert werden muss. Nun beginnt eine Zeit der Hilflosigkeit und Einsamkeit: Weil Paul keine Familie hat, ist er auf eine fremde Person angewiesen, die ihn wäscht, mit ihm Übungen macht und für ihn einkauft. Er stellt die Krankenschwester Marijana ein, die gemeinsam mit ihrem Mann und ihren drei Kindern aus Kroatien nach Australien geflüchtet ist. Sie ist eine Frau aus dem alten Europa, die zupackt, nicht jammert und Paul mit Achtung behandelt. Er merkt, dass er sich immer mehr zu ihr hingezogen fühlt. Er mischt sich in ihr Leben ein – und bekommt ganz unvermittelt jemanden vor die Nase gesetzt, der sich in sein Leben einmischt: Elizabeth Costello, siebzigjährig, aufdringlich und rätselhaft.

Laut Kritikern gehört J. M. Coetzee zu den “besten Schriftstellern der Welt”, 2003 hat er den Nobelpreis für Literatur bekommen. In Zeitlupe erzählt er von einem Mann, der am Ende seines Lebens erkennt, was er alles versäumt hat – und der in seiner Verzweiflung versucht, Zugang zu einer fremden Familie zu bekommen, um nicht so allein zu sein. Doch mit der Familie Jokic hat er sich nicht unbedingt die Richtigen ausgesucht: Die Beziehungen der Familienmitglieder untereinander sind kompliziert, Paul hat keinen guten Stand. Und dass die merkwürdige und lästige Elizabeth Costello ihn auf Schritt und Tritt verfolgt, erleichtert sein Leben auch nicht gerade. Gekonnt gibt Coetzee Einblick in das Seelenleben eines Mannes, der mit seinem Bein auch die Zufriedenheit mit seinem Lebensentwurf verliert.

Während ich in der ersten Hälfte des Buchs sehr angetan bin von Inhalt, Stil und Ausrichtung, taucht dann der Schwachpunkt des Romans auf: Elizabeth Costello. Sie geht nicht nur Paul auf die Nerven, sondern auch mir. Ihre Rolle bleibt leider bis zum Schluss unklar – und das ist wirklich schade. Im Gegensatz zu anderen Lesern, die vielleicht gern Rätsel mögen, kann ich es einfach nicht leiden, wenn Verwicklungen am Ende ungelöst bleiben. Zeitlupe ist eine eher schwache Erzählung, die sich zwar rasant entwickelt und einen schönen Spannungsbogen enthält, die aber kein klares Ende findet, was mir nicht behagt. Von der Schreibweise her jedoch ausgezeichnet, Coetzee versteht auf jeden Fall etwas von seinem Fach.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Ist gemeinsamer Selbstmord der Gipfel der Liebe?
Johanna Adorjáns Großeltern waren ungarische Juden, die den Holocaust überlebten – und sich gemeinsam im hohen Alter das Leben nahmen. Über ihre Erlebnisse im Krieg haben sie nie gesprochen. Jahrzehnte später macht sich die Enkelin auf die Suche nach Spuren ihrer Großeltern, um Einblick zu gewinnen in das Leben der beiden Menschen, die ihre Vorfahren sind und von denen sie so wenig weiß: Dass die Großmutter Kette geraucht hat und ausgesprochen elegant war, daran erinnert sie sich, dass der Großvater in Mauthausen gefangen war, das hat sie erzählt bekommen. Bei dem Versuch, die Geschichte ihrer Großeltern zu rekonstruieren, reist Johanna Adorján nach Paris und Israel, nach München und Kopenhagen, wo die beiden am Ende gelebt haben und wo sie gestorben sind. Sie spricht mit Weggefährten ihrer Großeltern und fragt sich: Was bedeutet es, die Enkelin jüdischer Holocaust-Überlebender zu sein? Und: Ist es wirklich der Beweis einer großen Liebe, wenn man sich zusammen umbringt? Sie findet vielleicht keine allgemeingültigen Antworten. Aber das, was sie findet, ist zumindest lesenswert.

Ich bin überrascht, wie gut in Eine exklusive Liebe Fiktion und Realität miteinander harmonieren. Für gewöhnlich sind mir echte Ich-Erzähler mit ihren Ansichten ja ziemlich wurscht. Aber Johanna Adorján schafft es, mich zu faszinieren: weil sie es gar nicht versucht. Sie erzählt völlig ohne Pathos davon, was die Tat ihrer Großeltern in ihr selbst und in den anderen Familienmitgliedern ausgelöst hat. Sie ist ehrlich und beschönigt nichts. Die Beziehung ihrer Großeltern, die sie fiktiv beschreibt, ist nicht im Übermaß liebevoll, die beiden siezen einander ihr ganzes Leben lang, sie sind genervt voneinander und streiten sich. Und doch gehen sie gemeinsam in den Tod. Sehr klar zeigt die Autorin auf, dass es dazu nicht unbedingt (nur) Liebe braucht, sondern auch eine gehörige Portion Egoismus. Ich mag das Buch wegen seines unaufgeregten Tons und auch deshalb, weil hier auf das große Drama verzichtet wird. Die kleinen Dramen sind im Endeffekt schon groß genug.