Für Gourmets: 5 Sterne

Von der Hilflosigkeit der Menschen
Zwei Juden in Afghanistan – dass dieses Buch ein trauriges sein wird, das ist von Anfang an klar. Alfred und Simon sind die letzten beiden Juden in Kabul, und sie können einander nicht ausstehen. Da es aber immer noch besser ist, mit jemandem, den man nicht mag, den Shabbat zu feiern, als allein, sehen sie einander regelmäßig. Natürlich steckt hinter dem vermeintlichen Hass aufeinander nichts anderes als Brüderlichkeit, doch keiner der beiden mag es zugeben. Sie führen ein unbehelligtes Dasein als Nachbarn in der Chicken Street. Doch dann braucht Naema, ein junges afghanisches Mädchen, Alfreds Hilfe: Sie hat sich in einen amerikanischen Journalisten, Peter, der längst zurück in Amerika ist, verliebt und erwartet ein Kind von ihm. Als unverheiratete Frau in diesem unfreien Land bedeutet das für Naema nichts anderes als das Todesurteil.

Erzählt wird diese einzigartige Geschichte von Simon, und er sagt uns gleich im ersten Satz, dass Alfred tot ist. Ich mag das und halte es für einen genialen Schachzug der jungen Amanda Sthers, das Unausweichliche vorwegzunehmen, denn der Roman wäre ansonsten zu vorhersehbar geworden. Dass diese Geschichte niemals gut ausgehen kann, verrät das Setting, denn in Afghanistan gibt es keine Happy Ends, nicht für Frauen, nicht für Juden. In kurzen, sehr reinen Sätzen beschreibt die Autorin eine Begebenheit in einem von Fanatikern beherrschten Land, wie sie sich mit Sicherheit in Tausenden Fällen tatsächlich abgespielt hat. Warum also ein Buch lesen, bei dem man von Vornherein weiß, dass es bedrückend sein wird? Weil es so wunderbar, kraftvoll und hervorragend erzählt ist. Während mich die Romane, die ich lese, viel zu oft kalt lassen, berührt dieser mich so sehr, dass ich mir wünsche, ich könnte hineingreifen in die Handlung und das Unvermeidbare vermeiden, die Figuren warnen, mich beteiligen. Das Schicksal hält die Charaktere – Alfred und Simon, Naema, Peter und seine Frau Jenny – fest im Griff, zerbricht sie ohne Weiteres.

Sprachlich gesehen ist Die Geisterstraße sehr reduziert, was mir extrem gut gefällt: Ich habe ohnehin keine Geduld und keine Nerven mehr für ausschweifenden Firlefanz. Amanda Sthers Sätze sind prägnant und sie treffen genau. Sie reiht sich ein neben Milena Agus und Per Petterson, die sich beide einen Platz in meinem Bücherwurmherzen erschrieben haben. Dies ist ein schönes, trauriges, schmerzhaftes Buch, in dem kein Wort zu viel und keins zu wenig ist, und was ungesagt bleibt, dröhnt nur umso lauter. Gut gelungen ist die Konzentration auf die “falschen” Details: Dass Alfred sein Freund ist, sagt Simon nie, viel lieber unterhalten sie sich über Simons bunte, polierte Cowboystiefel. Das ist unpathetisch, authentisch, bewegend. Ich kann diesen Roman nicht weglegen und lese ihn weit nach Mitternacht zu Ende, was für mich eine absolute Ausnahme ist. Aber die ungewöhnlichen Formulierungen sind einfach zu schön: “Sein Körper hatte wie wild um sein Herz herum geklopft”, heißt es beispielsweise und: “Man konnte fühlen, dass sein Inneres mit Finsternis ausgekleidet war.” Lesen.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Angenehm zu lesen, aber kein Highlight
Hanif Kureishi wurde mit Der Buddha der Vorstadt in unseren Breiten bekannt. In Something to tell you porträtiert er den Psychiater Jamal, der pakistanische Wurzeln hat und in London lebt. Der Vater hat sich früh nach Pakistan abgesetzt, die Mutter war mit Jamal und seiner Schwester Miriam überfordert. Miriam hat das spezielle Talent, sich ständig in Schwierigkeiten zu bringen. Sie wohnt in einer gefährlichen Gegend mit mehreren Kindern von verschiedenen Männern und raucht gern mal einen Joint. Als Miriam und Jamals bester Freund Henry, ein Theaterstück-schreiber, sich ineinander verlieben, ist Jamal überrascht und vielleicht auch ein wenig eifersüchtig – klappt es doch mit ihm und der Liebe nicht so recht. Das liegt daran, dass er immer noch an Ajita denkt, ein indisches Mädchen und seine erste große Liebe. Seit vielen Jahren schleppt Jamal ein Geheimnis mit sich herum. Aber wie im Leben sieht man sich auch in der Literatur immer zwei Mal …

Something to tell you ist ein “netter Schmöker” über einen Londoner Psychologen, der in seiner Arbeit und in seinem Privatleben mit den Neurosen der anderen Menschen konfrontiert ist – und mit seinen eigenen. Dabei geht es natürlich in erster Linie um die klassischen Auslöser für vermeintlich ungewöhnliches Verhalten: die Beziehung zu den Eltern, Liebe und Sex, sehr viel Sex. Das Buch liest sich flüssig , wartet mit schlagfertigen Dialogen und einigermaßen interessanten Charakteren auf, ist aber insgesamt gesehen kein Highlight, weder sprachlich noch inhaltlich. Am Stil gibt es wenig auszusetzen, es fehlt zwar an der Finesse, das Niveau ist aber in Ordnung, Entgleisungen oder abgelutschte Formulierungen gibt es keine, zumindest nicht in der englischen Originalversion. Hanif Kureishi weiß, wie man eine Geschichte konstruiert, und er füllt diese Konstruktion mit den entsprechenden Elementen und Figuren. Und so wirkt der Roman auch auf mich: konstruiert. Da fließt nichts von selbst, die Handlung reißt mich nicht mit, sie bleibt eher platt und ziemlich 08/15. Es ist von Anfang an klar, dass Jamal und Ajita einander wiedersehen werden und dass Jamals Geheimnis ans Tageslicht kommen wird – die Spannung bleibt in der Hinsicht auch insofern auf der Strecke, als dass der Leser dieses Geheimnis bereits recht früh erzählt bekommt. 520 Seiten hätte es dazu auch nicht unbedingt gebraucht. So bleibt Something to tell you eine angenehm lesbare, aber unspektakuläre Studie über einen Psychiater in einer Großstadt, der sich mit auf den ersten Blick ungewöhnlichen, bei genauerem Hinsehen aber ganz normalen Dingen beschäftigt: mit dem Verlassenwerden, der Suche nach den eigenen Wurzeln und nach dem Glück. Leser mit einem geringeren Suchtpotenzial als meinem können dieser Geschichte vermutlich mehr abgewinnen, ich habe aber wieder einmal das Gefühl, das alles schon zu kennen, und ein gutes Buch ist für mich immer eins, das mich überrascht. Das ist hier nicht der Fall.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Grandiose Sprache, weniger grandioser Inhalt
Stilistisch ist Die Krokodilfärberei ein wahres Fest, ein Augenschmaus: Fantasievolle Beschreibungen und herrlich verquere Metaphern machen diesen Roman zu etwas Besonderem. Ihr Hals roch nach Birnenobst, ihre Stirn nach Fieber”, heißt es beispielsweise, “ihre Augenlider nach Löwenzahn, ihre Schulterblätter nach Wind …” Die verzauberte und verzaubernde Sprache von Rainer Braune ist vermutlich der Grund für die hymnischen Kritiken, “Es muss ihr gut gehen, der deutschen Literatur, wenn sie noch Bücher wie dieses hervorbringt”, schrieb etwa Die Zeit. Ich schwelge in dieser ausladenden Sprache, sie ist wie eine Zeichnung, die man erstaunt betrachtet.

Nur leider ist die Sprache nicht alles, was ein gutes Buch ausmacht – auch der Inhalt muss fesseln und interessieren. In Die Krokodilfärberei hinkt die Geschichte ihrer Form jedoch hinterher. Worum es überhaupt geht? Zeichner Gilles fährt in das abgelegene Haus des alten Cembalisten Quitzow, das Tulpische Wildnis heißt und auch so aussieht. Er soll dort zwei Zimmer renovieren, damit Quitzow einziehen kann. In der Tulpischen Wildnis trifft Gilles die 17-jährige Adolphine, die ihm gefällt, ihre Schwester, die nur die Wusterwitz genannt wird, deren Tochter, die kleine Capaldi, und den niederträchtigen Geiger Möbius. All diese sperrigen Gestalten sind eigenwillig und (bis auf Möbius) auf ihre Weise liebenswert. Gilles denkt schon nach seiner Ankunft nicht mehr daran, die Tulpische Wildnis zu verlassen, hier fühlt er sich wohl. Doch auch diese Idylle ist nicht vor Gewalt und Bosheit gefeit, die sich in diesem Fall gegen Adolphine richtet. Gemeinsam mit Gilles verübt sie Rache.

Thematisch ist an dieser Geschichte wenig neu: Einer klinkt sich aus seinem Alltag aus, fährt an einen anderen Ort, wo es ihm gefällt, er verliebt sich neu und bleibt dann einfach dort, er schert sich nicht mehr um sein altes Leben. So etwas habe ich schon oft gelesen, zuletzt etwa in Der Geschmack von Apfelkernen. Zwar kann ich solchen Geschichten durchaus etwas abgewinnen, sie erscheinen mir aber oft sehr starr, angepasst an ein Schema, das nicht durchbrochen wird. Das gilt auch zum Großteil für Die Krokodilfärberei, die Erzählung plätschert wie ein Bach vor sich hin, mit Ausnahme eines Bruchs in der Mitte, ein kleiner Wasserfall sozusagen. Originell ist die Handlung rund um Bösewicht Möbius und Adolphines Racheakt, damit rechnet man als Leser nicht. Erfrischend sind die Charaktere, besonders die kleine Capaldi gibt dem Buch viel Lebendigkeit. Ansonsten gibt der Roman für mich inhaltlich aber nicht viel her. Er erscheint mir vielmehr wie ein einziger verworrener Traum, der in einer genialen Sprache erzählt wird, aber dennoch fern der Realität und seltsam unbegreiflich bleibt. Das Buch ist in der Gegenwart angesiedelt, wirkt aber durch den ausufernden Erzählstil, die altertümlichen Namen und die oft skurrilen Dialoge wie aus einer anderen, vergangenen Zeit. Als modern-märchenhaftes Werk lässt sich Die Krokodilfärberei wohl am ehesten beschreiben. Das ist nicht im Geringsten schlecht, aber am Ende ergeht es mir, als erinnerte ich mich an nächtliches, verstörendes Traumgeschehen: Ein paar Bildfetzen sind noch da, aber bald werde ich sie vergessen haben. Fazit: Sprachlich wunderbar, inhaltlich weniger.

Netter Versuch: 2 Sterne

Spuk oder Hysterie? Eine Antwort in vier Akten
Constance hat den gesellschaftlichen Aufstieg geschafft: Der Wissenschaftler Joseph hat sie geheiratet, sie wohnt nun in einer noblen Gegend. Nach zahlreichen Fehlgeburten konnte sie ihm auch endlich ein Kind schenken: Tochter Angelica. Diese schläft nun seit rund vier Jahren im elterlichen Schlafzimmer – weil Constance jeden Annäherungsversuch ihres italienischen Gatten unterbinden will. Als er die Kleine jedoch in ein eigenes Zimmer verbannt, steigert Constance sich in eine Panik hinein, die sich zu einem regelrechten Wahn ausweitet: Zwischen ihr und Angelica scheint eine mysteriöse Verbindung zu bestehen, denn immer wenn Constance ihren nächtlichen Angreifer abwehren muss, trägt das Kind dieselben Verletzungen davon. Constance ist davon überzeugt, dass im Haus ein Dämon sein Unwesen treibt. Loswerden soll ihn Anne Montague, ein Medium. Die macht alles aber nur noch schlimmer …

400 Seiten lang quälen den Leser die Fragen: Ist Constance verrückt? Ist Joseph ein Kinderschänder? Was hat es mit den höchst dubiosen Vorgängen im Haus auf sich? Beantwortet werden sie alle am Schluss von demjenigen, der sich die ganze Zeit über hinter dem Ich-Erzähler verbarg. Ein schöner Schachzug, der nur leider bei genauerem Hinsehen keinen Sinn ergibt. Überhaupt sind die Ereignisse recht wirr und undurchsichtig, Arthur Phillips verbirgt viel und bringt sich dadurch selbst in die Bredouille, dass er nichts verraten darf, den Leser ja aber dennoch bei Laune halten muss. Das ist nur bedingt gelungen. Zwar bin ich die ersten 100 Seiten über durchaus gefesselt, mein Interesse lässt dann aber spürbar nach, was vermutlich auch daran liegt, dass die Geschichte aus vier verschiedenen Perspektiven erzählt wird und unnötige Längen hat. Constance ist eine wehleidige Frau ohne Selbstbewusstsein und eine eifersüchtige Mutter, die in einer Zeit lebt, in der Frauen nichts zu sagen, sondern nur ihrem Mann zu dienen haben. Leider geht sie mir ziemlich auf die Nerven, genau wie diese ganze sinnlose Story. Angelica hat sehr wohl gute Seiten, es ist einigermaßen spannend, ganz gut geschrieben und stellenweise thrillermäßig wie Der Exorzist. Für mich überwiegen aber die schlechten Seiten: Mir ist das alles zu geheimniskrämerisch, zu wirr, zu übertrieben, zudem kann ich die Protagonisten allesamt nicht leiden, weil sie sich so hysterisch verhalten.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Ein italienischer Klassiker
Il Gattopardo ist Pflichtlektüre für Italienischstudierende. An der Uni hab ich mich erfolgreich davor gedrückt, nun habe ich es doch gelesen: Es hat allerdings 6 Monate gedauert. Dabei wurde das Buch in meiner Wohnung schon fast zum Möbelstück – es lag immer irgendwo herum und wartete geduldig, dass ich es wieder in die Hand nehmen und ein paar Seiten lesen würde. Erster Eindruck: Für eine Pflichtlektüre nicht so übel. Zwar hatte ich mit der altertümlichen Sprache und einigen Wörtern, die ich nicht kannte, zu kämpfen, der Sinn erschloss sich mir aber dennoch: Tomasi di Lampedusa porträtiert eine Fürstenfamilie in Sizilien zwischen 1860 und 1910. Protagonist ist Don Fabrizio, der Herzog von Salina, der mit Frau und Kindern ins Sommerschloss in Donnafugata zieht, wo sich sein Neffe Tancredi in die schöne Angelina verliebt, deren Vater zwar reich, aber neureich ist. Verliebt in Tancredi wiederum ist seine Cousine Concetta. Zu dieser Zeit ist Italien im Umbruch, Tancredi nimmt teil an Garibaldis Aufstand 1860, die Gesellschaft wandelt sich, das Bürgertum mausert sich, der Adel verliert an Macht.

Il Gattopardo gibt Einblick in das herrschaftliche Leben der Salinas, die angeblich nach dem Vorbild von Tomaso di Lampedusas eigener Familie geschaffen wurden. Dabei stellt der Autor dieses edle Geschlecht so vor, wie man sich das denkt: Es gibt rauschende Bälle, festliche Abendeinladungen, allerhand Schnickschnack, viele Regeln, viel Politik. Dennoch fasst er seine Charaktere nicht mit Samthandschuhen an, er präsentiert sie mit all ihren Fehlern und Eitelkeiten und gibt seiner Erzählung einen sehr ironischen Unterton. Zudem greift er stellenweise innerhalb der (Menschheits-)Geschichte vor, was irritierende, aber interessante Stilbrüche ergibt. So heißt es beispielsweise, als Tancredi und Angelina einander näher kommen und gemeinsam den Palast durchstreifen auf der Suche nach Gelegenheiten für gestohlene Küsse, dass das die schönste Zeit der beiden bleiben wird, denn ihre Ehe wird diese verliebten Versprechen nicht halten können, auch nicht im Bett. “Certo, l’amore”, denkt Don Fabrizio, “Fioco e fiamme per un anno, cener per trenta.” Ja, die Liebe – Feuer und Flamme für ein Jahr, Asche für dreißig. Das bringt auch das zentrale Thema des Romans auf den Punkt: das Vergängliche. Die aristokratische Familie ist – gesellschaftlich gesehen – dem “Untergang” geweiht, genau wie die Liebe.

Warum Il Gattopardo so eine wichtige Rolle spielt in der italienischen Literatur, ist mir nun klar: Dieser Roman handelt einen Teil der italienischen Geschichte ab und zeigt eine Familie, wie es viele gab im Sizilien des 19. Jahrhunderts. Zudem können die Italienischprofessoren an der Uni die Studierenden mit vielen schwierigen Wörtern und interessanten Interpretationen quälen. Aber für alle Interessierten: Das Buch gibt’s selbstverständlich auch auf Deutsch!

Gut und sättigend: 3 Sterne

Wer wagt, verliert
Inga ist im Nachkriegsdeutschland 1948 als Civilian Employee bei den englischen Besatzern angestellt und tippt dort Briefe und Listen. All ihre Tage sind gleich und quälen sie in ihrer Eintönigkeit. Als sie einen verletzten Leutnant kennenlernt, erwacht ihr Interesse: aber nicht an dem Mann, sondern am Spiel, denn der Leutnant ist ein leidenschaftlicher Kartenspieler. Er bewegt sich in hohen Kreisen, Funktionäre sitzen mit ihm am Tisch, englische wie deutsche. Dabei wird schnell klar, dass der Leutnant nicht immer vom Glück verfolgt wird – genau wie Inga. Sie verfällt der Spielleidenschaft und setzt alles daran, an den geheimen Treffen teilhaben zu können. Dazu braucht sie jedoch natürlich vor allem eins: Geld. Und dafür tut sie, was Spielsüchtige eben tun, sie lügt und betrügt.

Wer sich – wie ich – vom Klappentext ein wenig in die Irre führen lässt und in Zwischen den Gezeiten eine Liebesgeschichte erwartet, ist schief gewickelt (wobei der Klappentext das gar nicht direkt behauptet, es war eher meine eigene Fehlinterpretation der Formulierung, Inga bedeute dem Leutnant etwas). Inga und der Leutnant sind einander recht egal, vielmehr geht es um das Spielen und die Sucht, um das Aufräumen nach dem Krieg, um die “Nichteinwandfreien” wie Ingas Vater. Ein bisschen missverständlich ist der Text auch dahingehend, dass er suggeriert, der Leutnant sei ein Spieler und Inga fühle sich von ihm angezogen – sie wirkt auf mich süchtiger als er. Ich habe das anders erwartet. Inga ist einfach langweilig und sie will etwas erleben – einerlei, ob gut oder schlecht. Sie verhält sich dabei teilweise außerordentlich dumm und bringt ihre Familie in Gefahr, aber dadurch wird die Geschichte wenigstens interessant. Ich versuche also, zusammenzufassen, was ich an dem Buch mag: den entrückten Stil, die merkwürdig zähe Story, das raffinierte und logische Ende. Was ich dagegen nicht mag, ist, dass die Perspektive eigentlich immer Ingas ist, der Leser aber ein, zwei Mal für wenige Absätze nur zu einer anderen Person wechselt – ich halte es da mit “ganz oder gar nicht”. Zudem vermisse ich die Aussage hinter dem Buch, den tieferen Sinn. Drei Prämissen lassen sich festmachen: 1. Das Leben nach dem Krieg war in Deutschland nicht einfach, 2. Viele vermeintliche Opfer waren in Wirklichkeit begeisterte Täter und 3. Wer spielt, kann süchtig werden. So weit, so gut, nichts davon ist mir neu. Dennoch ist Zwischen den Gezeiten eine solide, mittelgute Geschichte, die man ruhig lesen kann, wenn man mag.

Netter Versuch: 2 Sterne

Nette Idee, langweilige Umsetzung
Pharmavertreter Paul Eck hat seinen Vater seit 30 Jahren nicht gesehen. Die Eltern sind geschieden bzw. die Mutter ist längst tot, Vater und Sohn haben keinen Kontakt. Daher ist Eck überrascht, als ihn in Triest mit der nachgesendeten Post eine Einladung seines Vaters zum Segeln am Neusiedlersee erreicht. Er macht sich auf den Weg dorthin, doch während er erschöpft schläft, tobt ein Sturm über dem See – und Ecks Vater verschwindet spurlos. Polizei und Rettungsmannschaften durchforsten den See und die Umgebung nach ihm, Eck quartiert sich in einem Wohnwagen voller Silberfische ein und bleibt eine Weile am See. Er übernimmt die Vertretung für einen Kollegen und klappert mit seinem Medikamentenmusterkoffer die Ärzte in der Umgebung ab, die Tabletten schluckt er bei jeder Gelegenheit selbst, denn er ist süchtig danach. Obwohl er kein Interesse daran hat, den Vater zu finden, sucht er mit seinem Jugendfreund Robert nach ihm und spricht auch mit seiner Stiefmutter und seinem Stiefbruder. Am Ende löst sich alles auf – aber ein “Detektivroman” ist das trotzdem nicht.

Stellt sich allerdings die Frage, was es dann ist. Auf jeden Fall ist es leider recht langweilig. Pharmavertreter Paul Eck ist genauso, wie er sich anhört: uninteressant. Die Beziehung zwischen Vater und Sohn ist nicht existent, daher gibt es darüber auch nichts zu berichten. Sein Job ist öde, sein Leben unfassbar normal – wenigstens kommt er, was die Liebe betrifft, zwei Mal spontan zum Schuss, wobei er einmal dafür bezahlen muss. Auf spannende Elemente warte ich leider vergeblich. Gerhard Roth hat die Spannung dadurch, dass der Sohn sich nicht für das Verschwinden des Vaters interessiert, von vornherein gekillt. Dass Eck selbst verdächtigt wird, ist nur logisch und daher auch nicht besonders aufregend. Die “kriminellen Machenschaften”, die sich hinter den ganzen Ereignissen verbergen, sind … nun ja … gähn. Es gibt nicht viel über den Inhalt zu erzählen und daher auch nicht viel zum Buch zu sagen. Stilistisch erinnert es mich ein wenig an Arno Geiger und Peter Stamm, die ja beide recht gelobt werden, bei denen ich mich aber sauber gelangweilt habe. Das gilt auch für Der See.

Für Gourmets: 5 Sterne

“Ein Mann mag weit reisen, aber sein Herz hält nicht Schritt”
Lev ist 43 Jahre alt und Witwer. Seine Frau Marina ist mit nur 36 Jahren gestorben. Im Sägewerk von Baryn in der Ukraine gibt es keine Arbeit mehr für ihn – alle Bäume wurden abgeholzt. Um seine Mutter Ina und seine fünfjährige Tochter Maya versorgen zu können, bricht er auf nach London. Auf der Reise lernt er Lydia kennen, die in England als Übersetzerin arbeiten will und ihm hilft, dort Fuß zu fassen. In der Fremde Londons ist Lev so einsam, dass ihm alles wehtut. Aber er hat Glück, er findet einen Job als Tellerwäscher und ein Zimmer bei Klempner Christy, der wegen seiner Alkoholsucht seine Frau und seine Tochter Frankie verloren hat. Ständig denkt Lev an seinen besten Freund Rudi, einen Draufgänger und Witzbold, der dem Leben so viel abringt wie möglich. Lev arbeitet wie verrückt, um Geld nach hause schicken zu können. Und er findet eine neue Liebe … Doch damit ist noch lange nicht alles zu Ende: Denn es kommt in der Arbeit und in der Liebe anders als erwartet. Und als ihn aus Baryn schlechte Nachrichten erreichen, muss Lev sich etwas einfallen lassen, um Rudi, Maya, seiner Mutter und sich selbst eine Zukunft bieten zu können.

Der weite Weg nach hause ist die Geschichte eines “Ausländers”, der sich in einem fremden Land ausbeuten lassen muss, damit seine Familie eine Chance hat, der geschlagen und verachtet wird und dem sein Zuhause fehlt. Er ist ganz unten, er ist in der Gesellschaft nichts wert. In London begegnen Lev aber auch hilfsbereite Menschen, die in ihm keinen “Asylantenabschaum” sehen und ihn unterstützen. Lev ist ein sanfter, geduldiger Mann, der aber – was sehr sympathisch und menschlich ist – auch nicht alles richtig macht und sich aus Verzweiflung und Wut zu schockierenden Handlungen hinreißen lässt. Die Autorin hat mit ihm einen authentischen Protagonisten geschaffen, dem ich glaube, was er erlebt und fühlt. Die Erzählung plätschert angenehm dahin – und nimmt jedes Mal, wenn ich denke, ich könnte die nächsten Ereignisse vorhersehen, eine überraschende Wendung. Die Protagonisten tun immer etwas, womit ich nicht gerechnet habe. Und das mag ich. Ebenso mag ich, wie Rose Tremain mit einfachen, klaren Worten diese Geschichte erzählt, die das Leben abbildet, das viele Menschen in der Fremde führen. Noch mehr mag ich das Ende, an dem sich alles gut, aber unkitschig zusammenfügt und das mich zufrieden zurücklässt. Der weite Weg nach hause ist ein schönes, melancholisches, stimmiges Buch, an dem ich ganz einfach nichts auszusetzen habe.

Netter Versuch: 2 Sterne

Ein Dorf ohne Männer
Es herrscht Bürgerkrieg in Kolumbien, Guerillakämpfer ziehen mordend und plündernd durch das Land. Als sie in Mariquita ankommen, verschleppen sie alle Männer, die älter sind als 13. Das kleine, abgeschiedene Dorf bleibt männerlos und im Chaos zurück. Die Frauen trauern um ihre Männer und Söhne, sie sind verzweifelt. Schnell geht es mit den Witwen und Kindern bergab: Die Schule muss geschlossen werden, bald haben sie weder Wasser noch Strom noch etwas zu essen. Ihre Kleider fallen auseinander und ihre Mägen bleiben leer. Dona Rosalba viuda de Patino sieht ihre Stunde gekommen und ernennt sich zur Bürgermeisterin. Die Liste ihrer geplanten Verbesserungen für Mariquita ist lang. Aber ständig kommt ihr etwas in die Quere …

Was sich nach einer guten Geschichte anhört, ist in der Umsetzung leider nicht so gelungen wie erhofft. James Canón porträtiert die verschiedenen zurückgelassenen Frauen von Mariquita sowie einzelne Guerillakämpfer und Soldaten. In fast jedem Kapitel geht es um eine andere Frau oder um einen anderen Mann (wobei jene über die Männer nur knapp 1,5 bis 2 Seiten lang sind und immer jemand stirbt) – was dazu führt, dass ich nach 50 Seiten ziemlich verwirrt bin. Eine klare Perspektive gibt es nicht. Zwischen den einzelnen Porträts liegen Jahre – aber verändert hat sich im Dorf kaum etwas. Denn während der glorifizierende Klappentext die Utopie eines friedlichen, glücklichen, männerfreien Dorfs unter Frauenherrschaft entwirft, sieht die Realität im Buch ganz anders aus: Die Frauen sind unfähig, sie kriegen nichts auf die Reihe, sie jammern und weinen, lassen alles verfallen und wissen sich überhaupt nicht zu helfen. Zudem sind sie verrückt – aber nicht auf eine skurrile Art verrückt, sondern auf eine Benutze-bitte-deinen-Hausverstand-Art.

Der erwartete Aufschwung bleibt aus – und zwar sehr, sehr lange. Rosalba ist als Bürgermeisterin völlig unbrauchbar und schafft es erst auf Seite 300 (und nach 6 Jahren), wenigstens ein paar ihrer Pläne in die Tat umzusetzen. Bis dahin habe ich, ich gebe es zu, längst die Geduld verloren. Das Buch ist sehr ermüdend und man muss schon sehr viel Ausdauer haben, um die wenigen Goldnuggets in all dem Schutt zu finden. Einzelne Ideen sind wunderbar: eine junge Frau, die stinkt, wenn sie sich ärgert, ein Priester, der zu Zeugungszwecken das Zölibat niederlegt, oder Burschen, die über Nacht zu Mädchen werden. Aber es fehlt dennoch an der Magie. Denn dem Vergleich mit Gabriel García Márquez, der nahe liegt, kann James Canón bei Weitem nicht standhalten. Und als die Frauen dann auch noch lesbisch werden, bekomme ich einen kleinen Wutanfall. Der Tag, an dem die Männer verschwanden ist ein Roman über einen Haufen dummer Weiber und kriegsgeschädigter Männer – und eine herbe Enttäuschung.

Prost Mahlzeit: 1 Stern

Schade um die Bäume, die dafür sterben mussten …
Es gibt diese Bücher, die man nicht mag. Schlecht ist, wenn man sie schon von Anfang an nicht mag. Am schlechtesten ist, wenn man gleich den ersten Satz nicht mag. So geht es mir mit Die Habenichtse. Ich fange an, es zu lesen, und ich weiß, dass ich es nicht mögen werde. Ich lese trotzdem weiter. Und ich mag es nicht. Es stört mich nicht so sehr, dass der Stil sperrig und gewöhnungsbedürftig ist, denn das ist mir oft lieber als das Gefällige. Aber es dauert geschlagene 20 Seiten, bis ich überhaupt halbwegs in diesem Roman drin bin … und sofort fliege ich wieder raus. Ich kann nicht bei den Personen bleiben, willkürlich springt die Perspektive, die Charaktere werden abgetastet, aber es gibt keinen Zugang, wir sind bei allen und gleichzeitig bei keinem. Ich bin überfordert von den vielen unwichtigen Namen, kann mir nicht merken, wer wer ist – was daran liegt, dass die Gestalten farblos und uninteressant sind.

So viel Kritik vorweg, dennoch will ich mich um eine objektive Inhaltsangabe bemühen: Isabella und Jakob treffen einander am 11. September 2001 nach Jahren wieder. Dieses Mal bleiben sie zusammen und heiraten. Sie sind ein normales, langweiliges Paar, das wegen Jakobs Job nach London zieht. Dort wohnt neben ihnen die Familie von Sara, einem kleinen, vernachlässigten Mädchen. Und dann gibt es da noch den Drogendealer Jim, der den Ärger mit sich bringt. So weit, so gut. Aber wo ist die Geschichte? Katharina Hacker präsentiert Klischees: ein verheiratetes Paar, das sich bald anödet, ein Kleinkrimineller mit Wut im Bauch und ein Kind, um das niemand sich kümmert. Ich halte mich durchaus für eine Leserin, die nicht taub ist für das, was zwischen den Zeilen steht, was durch die Wörter klingt. Aber in Die Habenichtse höre ich nichts als Rauschen, keine Zwischentöne, keine Melodie, nicht einmal ein Rumpeln. Die Ereignisse sind belanglos, die Protagonisten leblos. Isabelle und Jakob sind unfreundlich, ungeduldig und wie gelähmt. Ich warte auf eine Zuspitzung der Geschehnisse – sie fällt jedoch so lahm aus, dass ich sie fast nicht bemerke.

Die Begründung der Jury für den Deutschen Buchpreis klingt für mich in diesem Fall wie die willkürliche Interpretation eines Gedichts früher an der Germanistik: Hier hat Goethe das Wort Schuh verwendet, das bezieht sich auf den lahmen Fuß seiner Kusine zweiten Grades, die ihm einen Apfel gab, als er 14 war. Hier haben wir zwei Protagonisten, an denen alles langweilig ist – das steht für eine Generation, die ganz verloren ist. Ha. Hätte ich nicht meine Zeit mit diesem Buch verschwendet, ich würde lachen. Ab der Hälfte beschränke ich mich darauf, nur noch jede fünfte Seite zu lesen – und bekomme trotzdem noch mit, was passiert. Nämlich nichts.