Gut und sättigend: 3 Sterne

Die Zeit vergeht, das Leben wartet nicht
Emma und Dexter kennen sich aus der Schule – als diese 1989 zu Ende geht, verbringen sie eine Nacht zusammen. Sie sind jung und planlos, sie wollen in ihr Leben starten und sehen, was es bringt. Obwohl sie weder gute Freunde noch ein Liebespaar sind, bleiben sie über die Jahre in Kontakt, sie schreiben einander Briefe und können sich nie ganz loslassen. Jedes Jahr am 15. Juli gibt ein neues Kapitel Einsicht in die Entwicklung von Emma und Dexter: Emma weiß nicht so recht, was aus ihr werden soll, und jobbt erst mal in einem heruntergekommenen Restaurant, Dexter beschäftigt sich mit Fotografie und rutscht langsam in die Welt des Fernsehens. Ab und zu sehen sich die beiden, sie fahren sogar gemeinsam auf Urlaub – doch näher im erotischen Sinn kommen sie einander nicht. Dexter ist ein Frauenheld, Emma führt eine lange Beziehung mit einem Mann, den sie eigentlich nicht liebt. Ihre beruflichen Ziele verändern sich, sie verlieben sich und werden erwachsen, sie verlieren einander aus den Augen und finden zueinander zurück – und regelmäßig am 15. Juli erhascht der Leser einen Blick auf das, was sich verändert hat.

Die Geschichte so zu erzählen, wie David Nicholls es tut, ist unbestreitbar originell. Dass man nur einmal im Jahr Zugang zu den Protagonisten bekommt, sorgt für Spannung. Gleichzeitig muss man aber auch immer aufholen, was das ganze Jahr über geschehen ist, wodurch sich manche unschöne Doppelung ergibt. Von Presse und Kritikern gehypet und als “moderner Klassiker” gefeiert, ist One Day eine Geschichte über das, was jeder von uns kennt und fürchtet: verpasste Chancen. Das typische “Was wäre wenn” schwingt immer mit und löst ein merkwürdiges Gefühl der Unruhe aus. Es dauert seine Zeit, bis sich alles fügt und natürlich ist – so blind kann niemand sein – das Ende auf gewisse Weise vorhersehbar. Wenn auch anders, als man sich das zuerst denkt: Um dem Kitsch auszuweichen, hat Nicholls den einzig möglichen und sehr radikalen Weg gewählt, was mir nicht unbedingt zusagt. Denn, lieber Autor, wenn schon eine Liebesgeschichte, dann muss man es auch beinhart durchziehen.

Am besten an One Day finde ich die Idee. Der Roman ist angenehm zu lesen, voll schlagfertiger Dialoge, streckenweise ein wenig zäh, aber grundsätzlich sehr flüssig. Herausragend ist er nicht, ebensowenig besonders aufwühlend oder beeindruckend. Und die Moral von der Geschicht: Aufmerksam durchs Leben gehen. Die Möglichkeiten nutzen, die sich bieten. Niemals warten, bis es zu spät ist.

Gut und sättigend: 3 Sterne

“Ich verdiene mein Geld mit Worten, ich traue ihnen nicht”
“Wohin du auch ziehst/ich höre, wie die Flügel schlagen/im Sturzflug schlagen/Ich bin sprachlos/weil du neben mir aufgeschlagen bist/weil deine Wimpern/Rippen winziger zerbrechlicher Tiere sind.”
So ist Das Lieblingsspiel: voll unergründlicher Sprachbilder, poetisch, wirr, opulent. Die Geschichte nachzuerzählen, ist beinahe unmöglich, denn einen Faden gibt es nicht, weder in Rot noch in einer anderen Farbe. Der Protagonist ist Lawrence Breavman, Sohn reicher Juden, der sich als empfindsamen Dichter sieht. In New York lernt er Shell kennen, er verliebt sich. Ihr erzählt er von allen Frauen zuvor, von den Mädchen, mit denen er heranwuchs, von ersten Küssen und sexuellen Erlebnissen. Lisa, Tamara, Bertha – sie kamen und gingen. Wird Shell bleiben? Wird Breavman bei Shell bleiben? Es ist unklar, er hängt in seinem eigenen Leben in der Luft. Mit seinem Freund Krantz führt er tiefsinnige, absurde Dialoge, sie geilen sich auf an ihren eigenen Worten, sie wären so gern etwas Besonderes.
“Du weißt ja, Breavman, dass du die Stadt nicht durch dein Leiden erlösen musst.”
“Oh doch, das muss ich. Kannst du mich nicht sehen, gekreuzigt auf dem Mount Royal, an einem Ahornbaum? Es geht schon los mit den Wundern.”

Leonard Cohen ist ein Meister, seine Musik, so heißt es, wird abends in guten Wohnzimmern gespielt. Das Lieblingsspiel ist sein autobiografisch angehauchter Debütroman, erschienen 1963 und jetzt neu übersetzt, er gilt als einer der zehn besten kanadischen Romane des 20. Jahrhunderts. Cohen ist einer, der mit der Sprache spielt, der sie verdreht und bis in ihr Innerstes schaut. Ob das alles Sinn ergibt, ob es verständlich ist – das kümmert ihn nicht. Und so entstehen unnachahmliche Formulierungen wie “Bäume, so zerbrechlich wie die Läufe horchender Rehe” oder “Sie schloss die Augen vor Sehnsucht (…) nach einem Menschen, der sie in ihre eigene Haut zurückstecken würde”. Um in meinen Augen als Roman zu bestehen, dazu hat Das Lieblingsspiel zu wenig Struktur. Ich frage mich mehr als einmal, ob das noch genial oder schon wahnsinnig ist. Cohen wechselt in der Zeit und in der Perspektive (und nein, ich werde das nie leiden können), er lässt nicht zu, dass man ihm folgen kann. Somit ist dieses Buch eine Sammlung von Stimmungen und Gedanken, von Ideen und Gefühlen – und vor allem ein Beweis eines großen Sprachtalents.

“Was die Körper betrifft, die Breavman abhanden gekommen sind – kein Detektiv wird sie finden. Er hat sie im Zustand höchster, vollkommener Schönheit aus den Augen verloren. Es sind:
eine Ratte
ein Frosch
ein schlafendes Mädchen
ein Mann auf einem Berg
der Mond”
Was das bedeuten soll? Ich habe keine Ahnung. Aber es klingt so schön.

Prost Mahlzeit: 1 Stern

Endlose Langeweile
Schon nach drei Seiten weiß ich, dass ich Nach Hause schwimmen nicht mögen werde. Und da liegen noch 600 Seiten vor mir. Aber der sture Bücherwurm in mir schafft es nie, ein Buch wegzulegen, auch wenn es mich noch so sehr langweilt. Vielmehr lese ich weiter und versuche zu ergründen, warum mir dieser hochgelobte Roman nicht gefällt. An der Geschichte selbst ist gar nichts auszusetzen: Es geht um Wilbur, dessen Leben bisher alles andere als einfach und angenehm war. Bei der Geburt starb seine Mutter, und so war Wilburs Start nicht der beste. Er wird herumgereicht und wächst unter schwierigen Bedingungen auf – was vielleicht der Grund dafür ist, dass er nicht besonders groß wird. Dass die Frauen, an die er sein kleines Herz hängt, sterben, scheint sein Schicksal zu sein. Aufgenommen wird er von seinen Großeltern, wobei sein Großvater der Welt innerlich längst entschwunden ist. Er hat vor Jahren sein Glück in Amerika gemacht und ist mit viel Gold zurückgekommen – zumindest glaubt das jeder. Seine Großmutter Orla liebt Wilbur abgöttisch, die beiden sind einander sehr nah. Wilbur lernt Cello spielen – und nutzt viele Jahre später eine Reise mit dem Orchester dazu, sich abzusetzen und sich auf die Suche nach seinem Vater zu machen …

Wilburs Geschichte wird aus zwei Perspektiven erzählt: In der Vergangenheit als Bericht und in der vermeintlichen Gegenwart in der Ich-Form von Wilbur selbst, der sich in der psychiatrischen Anstalt befindet. Eine gewisse Aimee, so sagt der Klappentext, zeigt ihm, warum es sich lohnt zu leben. Das ist so nicht richtig, Aimee hat nicht ganz die ihr zugeschriebene Bedeutung: Sie heitert Wilbur auf und schläft mit ihm, aber sie ist selbst mit Problemen beladen und Wilbur irrt auch als er sie bereits kennt noch immer planlos durch sein Leben. Was mir an Nach Hause schwimmen fehlt, ist das Feuer, die Leidenschaft, der Esprit. Dies ist kein Buch, von dem man nicht lassen kann. Aber es ist gut möglich, dass das nur für mich gilt: Denn ich stelle während der Lektüre fest, dass ich wahnsinnig überlesen bin. Die Vatersuche Wilburs erinnert mich sofort an John Irvings Until  I find you, dass Wilbur ein Waisenkind ist, lässt mich an Eddies Bastard von William Kowalski denken und die Aggression und Verzweiflung, die Wilbur gegen sich selbst und andere richtet, sind ähnlich geschildert wie in Der Außenseiter von Sadie Jones. Was sagt uns das? Dass ich bereits zu viel gelesen habe. Dass alles irgendwie schon einmal da gewesen ist. Dass Rolf Lappert mit Sicherheit nichts abgeschrieben – aber auch nichts Neues erfunden hat.

Die Geschichte hinter Nach Hause schwimmen fordert mich nicht heraus, sie quält und schmerzt mich nicht, sie unterhält mich nicht, kurz: Sie interessiert mich nicht. Ich spüre nichts. Ich bin angeödet und jedes Mal, wenn ich einen halbwegs guten Satz lese, erleichtert. Nur passiert das in etwa alle 50 Seiten. Am schlimmsten sind die Kapitel in der Ich-Form, in denen auch der Stil wechselt: Wilbur soll betont cool und lässig dargestellt werden, sehr rotzig, sehr abgeklärt. Leider macht ihn das auch unglaublich unausstehlich. Ich denke, dass mein Urteil über diesen Roman extrem subjektiv ist. Das zeigen auch die guten Kritiken und Rezensionen. Ich bin einfach übersättigt, während viele andere Leser einen unbedarfteren Zugang zu diesem Buch finden. Es sei ihnen vergönnt.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Kleine Geschichte, große Liebe
Hema kennt Kaushik schon lange: Ihrer beider Eltern waren befreundet, damals in Massachusetts. Sie sind alle Bengalen und ihre Wege kreuzen sich Jahre später erneut, als Kaushik mit seinen Eltern aus Indien zurückkommt. Hema ist drei Jahre jünger als er und schwärmt für den verschlossenen 17-Jährigen, den nichts interessiert außer seiner Kamera. Er bekommt von Hemas Verliebtheit nichts mit, da sie kaum miteinander sprechen. Und dann ist es der Zufall, der sie zwei Jahrzehnte wieder übereinander stolpern lässt: Hema ist Expertin für Latein, Kaushik ist Kriegsfotograf, sie treffen einander in Rom. Plötzlich entbrennt eine unerwartete Liebe, die sie übereinander herfallen lässt in der kurzen Zeit, die ihnen gemeinsam bleibt.

Einmal im Leben ist schön, berührend und tragisch. Jhumpa Lahiri erzählt von zwei Menschen, die ihre gemeinsame Vergangenheit verbindet und die an einem fremden Ort zu einer völlig falschen Zeit aufeinander treffen und sich verlieben. Dabei geht sie nicht in die Tiefe und nicht ins Detail – was bei knapp 170 Seiten auch nur schwer möglich ist. Die Handlung und die Figuren bleiben wie Skizzen auf einem Reißbrett, die eigene Fantasie kann, wenn sie will, dazu dichten, was fehlt. Sehr unerwartet kommt für mich das Ende, das statt der zwei offensichtlichen Möglichkeiten eine dritte wählt. Das Buch bleibt die Kurzgeschichte, die es eigentlich ist, entnommen aus einer Sammlung von Short Stories. Das so aufzublasen und als gebundenen Roman zu verkaufen, finde ich recht gewagt. Nichtsdestotrotz spürt man hinter Jhumpa Lahiris Worten eine interessante Sprachgewalt, die jedoch nur in sehr gezügelter und eingeschränkter Form zum Vorschein tritt. Was wirklich schade ist.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Stalking, Sex und Schwangerschaft
Lizzie hatte die große Liebe schon gefunden: mit Sally. Nur leider sah Sally das nicht so, sie hat Lizzie verlassen – ausgerechnet für einen Mann. Der hat auch noch einen dicken Hals. Zudem ist Lizzies Bruder – der sich immer schon wie eine Frau gefühlt hat – verschwunden, die Polizei ist ratlos. Lizzies Mutter ist ihr auch keine Hilfe, sie verlässt ohne ein Wort des Abschieds die Stadt. Kein Wunder, dass sich Lizzie allein und unverstanden fühlt. Nur ihre Freundin Petula steht ihr bei und begleitet sie sogar, als Lizzie heimlich Sally bis in deren Liebesurlaub verfolgt. Allerdings wissen Petula und Sally nichts davon. Genauso wenig wie von Lizzies Einbrüchen in Sallys Wohnung, bei denen sie Haare und Fotos stiehlt, um sie an ihren Kühlschrank zu kleben. Sie klammert sich an die Erinnerung und will sich innerlich nicht von Sally trennen – denn dann würde ihr wirklich gar nichts mehr bleiben.

In search of the missing eyelash ist eine Geschichte über die Liebe, die unabhängig vom Geschlecht auftaucht und wieder verloren geht. Lizzies Homosexualität an sich ist kein Thema, sie muss nicht in irgendeiner Weise erklärt werden. Karen McLeod erzählt von einem Menschen, der einsam ist und schwach, der sich dazu hinreißen lässt, in die Privatsphäre desjenigen einzudringen, der ihm das Herz gebrochen hat. Sie lässt ihre Protagonistin bizarre Dinge tun, von denen so mancher Leser vielleicht auch schon fantasiert hat, auch wenn er das nie zugeben würde. Das Buch wird dabei aber nie klischeehaft, ganz im Gegenteil: Die Autorin tobt sich aus, entwirft spritzige Dialoge, macht ihre Figuren dick, tollpatschig und von zweifelhaftem Charakter, und bei manchen Ereignissen bekomme ich den Eindruck, dass es ihr völlig egal ist, ob das noch jemand gut findet. Dieses Buch ist anders. Es ist traurig und deprimierend, amüsant und verblüffend. Dabei muss man als Leser viel Aufmerksamkeit und Konzentration aufbringen, um dem verqueren Schreibstil und den merkwürdigen Geschehnissen folgen zu können: Neben dem Stalking kommt viel Sex vor, noch mehr Alkohol und eine eventuelle Schwangerschaft. In search of the missing eyelash zeigt, dass das Leben nicht immer lustig ist und heiter. Und dass wir alle manchmal ein bisschen sind wie Lizzie: hilflos und ganz schön verrückt.

Netter Versuch: 2 Sterne

Kleine, harmlose Geschichte
Armand hat früher Philosophie unterrichtet. Jetzt ist er im Ruhestand und einsam. Seine Frau ist gestorben, seine Kinder wohnen weit weg und denken nur an sich selbst. Das Leben, so scheint es ihm, ist vorbei. Und es ist fast lächerlich, dass er sich so freut, als er Pauline im Bus kennenlernt: Sie hebt ihm seinen Stock auf und grüßt ihn freundlich. Diese oberflächliche Begegnung berührt ihn so sehr, dass er Pauline finden will. Und das gelingt ihm. Die Zwanzigjährige ist auf der Suche nach einer Familie und sieht in Armand gleich einen Großvater, den sie adoptieren könnte. Sie mögen sich und treffen sich. Doch ganz so einfach ist es dann doch nicht, wenn zwei so unterschiedliche Menschen zusammenkommen – und auch noch andere in ihrer beider Umfeld Ansprüche stellen.

Die letzte Liebe des Monsieur Armand ist eine angenehm zu lesende kurze Geschichte über eine nicht alltägliche Freundschaft, über die Erfahrung der Alten und die Unfähigkeit der Jungen, zuzuhören. Francoise Dorner zeichnet auf knapp 130 Seiten ein – aufgrund der Kürze nicht sehr tief gehendes – Porträt von zwei völlig verschiedenen Charakteren, die sich finden und einander für eine Weile begleiten. “Liebenswert und anrührend” nennt Die Welt dieses Buch, sentimental ist es, zum Schmunzeln bringt es, und für zwei, drei Stunden verschafft es dem Leser eine kleine Pause vom Alltag. Mehr kann man von diesem Roman nicht erwarten. Muss man aber auch nicht.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Eine schräge und ungewöhnliche Geschichte
Abel ist verliebt in Mae. Er ist verliebt in die Art, wie sie Kaffee einschenkt, und in ihre Zehen. Das wäre ja noch nicht so schlimm. Aber Mae ist die Frau von Abels Zwillingsbruder Paul. Ungerecht verteilt ist zwischen den Brüdern nicht nur die Liebe, sondern auch die Schönheit: Abel hat einen Buckel und kann mit Attraktivität nicht punkten. Paul dagegen scheint Mae auch nicht glücklich zu machen … Aber darum geht es eigentlich überhaupt nicht. Denn vielmehr handelt Wie ich mich einmal in alles verliebte von einem seltenen Gendeffekt, der zu geistigem Verfall und einem verfrühten Tod führt. Paul und Abels Mutter litt daran – und das kranke Gen hat sie vererbt. Aber nicht an alle. Woher die Krankheit stammt und wie mit ihr umzugehen ist, das erforscht der 15-jährige Seth, den mit Abel mehr verbindet, als beide anfangs ahnen.

Bis ich in diesen Roman hineinfinde, dauert es sehr lange. Der Klappentext und der Beginn führen mich vollkommen in die Irre, ich bin eingestellt auf eine Dreiecksgeschichte zwischen Abel, Paul und Mae, und wer dieser Seth überhaupt ist, durchschaue ich erst nach einiger Zeit. Langsam fügen sich die Puzzleteile zusammen, wirr bleibt die Geschichte aber dennoch. Stefan Merrill Block hat einen ungewöhnlichen Roman geschrieben, der sich nur sehr schwer einordnen lässt. In jeder Geschichte steckt wieder eine Geschichte, die entblättert wird: Da wäre etwa Lord Mapplethorpe aus Iddylwahl im 17. Jahrhundert, bei dem der Ausgangspunkt für die zermürbende genetische Krankheit liegt, dann die Goldene Stadt Isidora, in der die Menschen nicht reden, sondern sich berühren, um zu kommunizieren, und schließlich gibt es da eben jene Story zwischen Abel und Mae. Das passt alles überhaupt nicht zusammen – und tut es irgendwie doch.

Was also will Wie ich mich einmal in alles verliebte eigentlich erzählen? Die Angst des Menschen vor dem Verlust der Kontrolle, vor dem Vergessen wird dargestellt, dem nahenden Tod wird ins Auge gesehen und die Liebe wird verloren. Zum Beispiel. Leider kippt die an sich amüsante Erzählung stellenweise ein wenig ins Lächerliche, und seine Fantasie hat der Autor gar zu zügellos umherspringen lassen. Das Ende aber ist sehr passend, wenn auch keine Krönung. Wegen der euphorischen Kritiken habe ich definitiv mehr erwartet: Anfängerfehler! Was also bleibt? Jede Menge Verwirrung. Eine noch nie dagewesene Geschichte. Und ein, zwei wirklich schöne Sätze.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Ein Junge im Land der Männer
Suleiman ist 9 Jahre alt. Er lebt in Libyen, und wir schreiben das Jahr 1979. Muammar el-Gaddafi, “Führer der libyschen Volksrevolution”, ergreift die Macht. Und das ist für alle, die anderer Gesinnung sind, gefährlich – darunter Suleimans Vater. Ihrer beider Beziehung ist jedoch nicht so eng wie Suleimans Bindung an seine Mutter. Sie wurde mit nur 14 Jahren an einen wesentlich älteren Mann verheiratet, ihre Wünsche zählen nichts in Libyen. Der Titel des Buchs bringt ihre Lage auf den Punkt. Und während sie sich diesem Schicksal tagsüber fügen muss, gibt es viele Nächte – wenn Suleimans Vater auf Geschäftsreise ist -, in denen sie nicht schweigen kann. Dann nimmt sie ihre “Medizin” und erzählt Suleiman Geheimnisse, die ihm auf der Seele liegen und die er für sich behalten muss. Doch Suleiman ist zu jung für das, was rund um ihn geschieht: Er versteht es nicht. Die Erwachsenen erklären ihm nichts, und so verhält sich Suleiman naiv und bringt seine Familie unbeabsichtigt in Gefahr.

Im Land der Männer ist ein politisch angehauchter Roman, der die Hilflosigkeit der Frauen und die potenzielle Gefahr für Andersdenkende im Libyen der 1980er-Jahre beschreibt. Schwierig daran ist, dass man sich ein wenig in der hiesigen Geschichte auskennen muss, um der Handlung folgen zu können: Denn der Leser folgt der Hauptperson Suleiman, und der ist nicht informiert. Vielmehr stolpert er orientierungslos durch die Ereignisse – und ich rätsle mit ihm mit. Das ist stellenweise anstrengend und verwirrend. Zumindest aber ist es glaubwürdig – denn Hisham Matar hat sich nun einmal für die Erzählperspektive eines kleinen Jungen entschieden und bleibt konsequent. In manchen Einschüben erkennt man aber, dass Suleiman die Geschichte viele Jahre später erzählt und hier eigentlich kein Kind spricht. Da hätte er vielleicht doch aus der Ferne eingreifen und ab und zu etwas erklären können. Grundsätzlich aber trifft Hisham Matar den Ton, den ein solcher Roman braucht: kindlich, erschrocken, traurig und voller Angst. Das Ende ist schlüssig, allerdings nicht herausragend. Alles in allem angenehm zu lesen, informativ, stilistisch solide und eine leise Anklage gegen ein totalitäres System.

Für Gourmets: 5 Sterne

“The art of saumensching”
“Saumensch, dreckigs” wird Liesl von ihrer Pflegemutter genannt – aber das ist nicht so böse gemeint, wie es klingt. Denn eigentlich hat Liesl es gut bei ihren Pflegeeltern in der Nähe von München. Jede Nacht lässt ein Traum sie aufschrecken – und ihr Pflegevater Hans ist immer da, um ihr beizustehen. Alles könnte gut sein – wären das nicht die Jahre ab 1938, in denen es finster wurde in Deutschland. Liesl lernt die Liebe zu Büchern kennen, Freundschaft und Toleranz – aber auch Ausgrenzung, Hass und den Tod. Dieser ist ihr stets näher, als sie ahnt … denn er ist es, der uns Liesls Geschichte erzählt.

Wenn jemand stirbt, kommt der Tod, um ihn zu holen, und er sieht dabei Farben. Vorsichtig nimmt er die Seele mit sich. Während die Nazis in Europa wüten, hat er alle Hände voll zu tun. “The bombs were coming – and so was I.” Und es lässt ihn nicht kalt, was in dieser Zeit geschieht: “For me, the sky was the colour of Jews.” Er macht sich Gedanken, der Tod, Gedanken über das Sterben und über die Menschen. Er tut dies auf eine sehr distanzierte und herrlich sarkastische Weise: “Proof again of the contradictory human being. So much good, so much evil. Just add water.”

Über den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust zu schreiben, ist schwer – denn man hat das Gefühl, dass darüber schon unendlich viel erzählt wurde. Markus Zusak nähert sich dem Thema auf originelle und mutige Weise: Den Tod von dieser düsteren Zeit berichten zu lassen, ist ein genialer Schachzug. Es gelingt ihm, eine neue Sicht zu eröffnen auf das Schicksal der Menschen, er nähert sich den Ereignissen ein wenig zynisch, aber nie ohne Herz. Er gibt dem Tod Gefühle, er vermenschlicht ihn – und wird dennoch nie kitschig. The Book Thief ist so berührend und traurig, dass ich an einer Stelle tatsächlich nicht mehr anders konnte als zu weinen. Und doch ist es ein Buch, das lächeln macht, das den Humor durchglitzern lässt durch alles Leid. Wunderbar sind die kurzen, in einer anderen Schrift gesetzten Einschübe und die gezeichneten kleinen Geschichten. Besonders erwähnenswert sind auch die vielen deutschen Ausdrücke in der englischen Version – wer kann, sollte den Roman unbedingt im Original lesen, das macht noch viel mehr Spaß.

The Book Thief ist ein Buch, das wehtut, das sich nach innen bohrt. “Imagine smiling after a slap in the face. Then think of doing it twenty-four hours a day. That was the business of hiding a Jew.” LESEN!!!

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Und dann das Warten auf den Tod
Helmer ist übrig geblieben, er ist die Hälfte eines Zwillingsbrüderpaars. Seit 1967 lebt er ohne sein Ebenbild Henk auf dem elterlichen Hof in der Einöde Hollands. Hier gibt es nichts außer Kühen, Schafen und zwei Eseln. Die Mutter ist vor langer Zeit schon gestorben, und dann verspürt Helmer plötzlich den Drang aufzuräumen. Er verfrachtet den kranken Vater ins Obergeschoß, schiebt ihn ab, am liebsten würde er sich seiner komplett entledigen. Er wartet darauf, dass der Vater stirbt. Doch seine Einsamkeit wird verdrängt, als der junge Henk zum Arbeiten zu ihm auf den Hof geschickt wird. Er ist der Sohn von Riet – der damaligen Freundin von Helmers Bruder …

Oben ist es still ist ein böser, sarkastischer, sehr lebenskluger und unheimlich bedrückender Roman. Hier traut sich einer, nach jenen Gedanken zu handeln, für die andere sich schämen: Er wünscht dem Vater den Tod, er missachtet seine Bedürfnisse, lässt ihn leiden. Das hat natürlich seine Gründe, die der Leser nach und nach erfährt. Es ist ein karges, herbes Leben, das Helmer führt, eines, das er nie geliebt hat. Als der 18-jährige Henk eintrifft, kommt Schwung in die Geschichte – und es entsteht die Möglichkeit, vieles aufzuarbeiten. Ruhig und bedächtig gräbt sich Gerbrand Bakker durch die vielen Schichten dieser Schicksale, die auf den ersten Blick so langweilig wirken und bei genauerem Hinsehen doch so tragisch sind.

“Ich mache schon so lange alles mit halber Kraft”, sagt Helmer, “ich habe schon so lange nur noch einen halben Leib.” In einem sehr klaren, skrupellosen Stil erzählt Gerbrand Bakker von einem Mann, der bereits in jungen Jahren seine Zukunft verloren hat, der sich kaum noch erinnern kann, wie es war, “ganz” zu sein. Das ist deprimierend – aber hervorragend geschrieben. Ein feinsinniger, kluger Roman, der besonders mit einem ausgezeichneten Ende besticht. Lesenswert!