Gut und sättigend: 3 Sterne

Die Geschichte einer Frau, die nichts verpasst hat
Mit The Private Lives of Pippa Lee ist Rebecca Miller in den USA ein Bestseller gelungen, der 2009 verfilmt wurde und heuer in unsere Kinos kommt. In diesem Roman erzählt sie von Pippa, einer Frau, die mit dem 30 Jahre älteren Schriftsteller Herb verheiratet ist und ein beschauliches, kultiviertes Leben führt. Die beiden sind gerade in eine Wohnanlage für Senioren gezogen, Pippa bekocht gern Gäste, ihre Kinder, die Zwillinge Grace und Ben, sind längst erwachsen. So beginnt das Buch – und dann wechselt die Perspektive: Als Ich-Erzählerin berichtet Pippa von ihrer Kindheit und Jugend, von allem, was passiert ist, ehe sie Herb traf. Pippas Mutter kämpfte mit depressiven Stimmungen und Tabletten, ihre Beziehung zu Pippa war sehr eng, aber instabil. Und so wurde aus Pippa eine wilde Jugendliche, die sich schon mit 16 allein durch New York schlug. Sex, Drogen, wilde Partys und Alkohol bestimmten ihren Alltag. Erst als sie Herb begegnete, kehrte Ruhe in ihrem Leben ein. Zwar war Herb zu Beginn noch verheiratet, aber – nun ja – nicht mehr lange …

Spannung bekommt dieser Roman durch den starken Kontrast zwischen Pippas Jugend und ihrem späteren Leben, der durch den Wechsel der Erzählperspektive noch verstärkt wird. Am Ende stellt sich jedoch heraus, dass Pippas Leben bei Weitem nicht so ruhig ist wie gedacht – auf sie und den Leser wartet noch eine deftige Überraschung. Die unerwarteten Wendungen sind es auch, die dem Buch Aufwind geben – denn ansonsten ist die Geschichte eher unspektakulär. Zwar ist Pippas Geschichte alles andere als langweilig – dafür sorgen lesbischer Sex, Selbstmord und Kindererziehung. Aber weder der Stil noch die Handlung an sich sind ungewöhnlich genug, um den Roman zum eye-catcher in der Flut der täglich erscheinenden Bücher zu machen. Pippa erlebt alles sehr bewusst, die Erzählung bleibt nah an ihren Gefühlen und Eindrücken. Sie ist eine manipulative Frau mit vielen Gesichtern, eine schillernde Figur. The Private Lives of Pippa Lee ist angenehm und flüssig zu lesen, es ist ein gutes Buch – aber kein herausragendes.

Netter Versuch: 2 Sterne

Wer witzig sein will, hat es schwer
Man teilt ja vieles im Leben. Aber selten seinen Humor. Was den einen zum Lachen bringt, lässt den anderen völlig unbelustigt. Und so hat man es als Autor, der amüsieren will, nicht leicht. Michael Niavarani ist einer der bekanntesten Kabarettisten Österreichs – im Fernsehen und auf der Bühne unterhält er mit patscherten Schmähs und teils raffinierten Witzen. Und dann hat er ein Buch geschrieben. Ob es lustig ist, daran scheiden sich die Geister: Er bekam viel Lob und Gelächter, aber auch kopfschüttelnden Hohn. Aber eins muss man Niavarani zugute halten: Immerhin hat er es gewagt und sich bemüht!

Vater Morgana handelt von einer deutsch-österreichisch-amerikanisch-schwedisch-britisch-persischen Familie, die – vermutlich verblüffende – Ähnlichkeit mit Niavaranis Familie hat. Die vielen Tanten, Cousins und weiter entfernten Verwandten sind über die ganze Welt verstreut. Wenn die Familienmitglieder sich treffen, ist es laut und hektisch und die Tische biegen sich unter den kulinarischen Köstlichkeiten. Es ist ein heilloses Durcheinander. Und als der Vater des Erzählers überraschend an Weihnachten stirbt, bricht das Chaos erst so richtig aus: Die Familie beschließt nämlich, der Großmutter den Tod ihres Sohnes zu verheimlichen, um zu verhindern, dass der Schock sie dahinrafft. Das ist auch anfangs gar nicht so schwer, da die Großmutter im weit entfernten Amerika weilt. Doch als sie sich anschickt, nach Wien zu kommen, um mit ihrem Sohn das persische Neujahrsfest Nowrouz zu feiern, haben die Heimlichtuer ein Problem.

So weit, so gut. Das war der Klappentext in anderen Worten – und im Prinzip schon der ganze Buchinhalt. Denn mehr geschieht nicht, die Ankunft der Großmutter steht erst ganz am Ende der 370 Seiten. Der Showdown wird sehr lange hinausgezögert, der Rest ist eine Verwirrkomödie im Stil der Peter-Alexander-Filme: viele Personen, viele Nebenhandlungen, viele kleine Geschichten in der großen. Das ist einerseits durchaus unterhaltsam, andererseits aber auch stressig. Die Story lässt ein wenig zu wünschen übrig, sie besteht aus eher schleppenden Dialogen und umfangreichen Beschreibungen der zahlreichen Protagonisten. Niavaranis Stil ist sehr mündlich, was mich nicht weiter stört, aber die Gags, die er seinen persischstämmigen Figuren in den Mund legt, locken mich nicht hinter dem Ofen hervor. Ab und zu muss ich schmunzeln, ja, aber lachen, nein. Was bleibt als Fazit? Gut gemeint, aber nicht gut geschrieben. Heiter, aber nicht witzig. Nett, aber nicht mehr.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Über einen, der keinen Platz findet im Leben
Lewis ist als Einziger dabei, als seine lebenslustige, unkonventionelle Mutter ertrinkt. Das Trauma wirft ihn völlig aus der Bahn – und es ist niemand da, der ihm beisteht. Sein Vater Gilbert steht dem Verlust seiner Frau hilflos gegenüber und kann nicht umhin, Lewis die Schuld daran zu geben. Er schiebt ihn ab ins Internat, die beiden sprechen kaum miteinander. Und so wundert es nicht, dass Lewis in eine Abwärtsspirale aus Selbsthass und Selbstverletzung gerät, dass er keinen Zugang mehr findet zu Gleichaltrigen und dass er, um seinen Schmerz zu dämmen, gewalttätig wird und seine Zerstörungswut auslebt. Als Lewis mit der jungen, hübschen Alice eine Stiefmutter präsentiert bekommt, gerät er endgültig aus dem Gleichgewicht.

Der Außenseiter ist das Porträt eines heranwachsenden Jungen, der leidet und dem niemand hilft. Er kann den Tod seiner Mutter nicht verwinden, er wird abgeschoben und kommt nicht zurecht. Es liegt nahe, dass er sich in Alkohol flüchtet und einer von denen wird, die sich alles erlauben, weil sie jegliche Grenze längst überschritten haben. Leider steckt dahinter aber auch nicht mehr: Es ist ein sehr klassisches Schicksal, das Sadie Jones hier skizziert. Lewis fährt auf einer vorgefertigten Schiene und verlässt sie nicht, er tut vorhersehbare Dinge und so wird aus diesem – teilweise recht eindrucksvollen – Roman schlussendlich doch nur ein 08/15-Buch. Mit ihrem Stil überzeugt die Autorin nur bedingt, abgeschmackte und blutleere Formulierungen wie “Er wusste selbst nicht, was es war, aber irgendetwas war da” entlocken mir eher einen Seufzer als ein zufriedenes Lächeln. Für mich war es schwer, über 400 Seiten lang ununterbrochen Mitgefühl aufzubringen, ich fand es stellenweise anstrengend, den Figuren auf ihrem Weg, der nur nach unten führt, zu folgen. Der Außenseiter ist ein deprimierendes, bedrückendes Buch, das sich nicht von Stereotypen befreien kann. Und wenn ein Vater seine Tochter schlägt, kann ich nicht anders als zu denken: Nicht DAS schon wieder. Mag sein, dass ich abgestumpft und sattgelesen bin. Aber ein Meisterwerk ist dieses Buch für mich nicht. Wer sich jedoch einlassen will auf diesen Strudel aus Verzweiflung und Gewalt, sei herzlich dazu eingeladen.

Für Gourmets: 5 Sterne

In jeder Hinsicht eine Überraschung
Edward Carey hat schon zwei Romane veröffentlicht und ist dennoch unbekannt. Einer davon, nämlich Alva & Irva, wurde auf Deutsch im kleinen, feinen Münchner Verlag liebeskind publiziert und geriet in meine Finger. Zum Glück! Denn die fantasievolle, skurrile und berührende Geschichte hat mich begeistert. Alva und Irva sind Zwillinge, die einander gleichen innen und außen. Sie sind so eng miteinander verbunden, dass sie sich nicht trennen können, nicht einmal für einen Augenblick, und dass sie keinen Zugang finden zu den anderen Menschen. Als sie heranwachsen, stellt sich allerdings heraus, dass das Bedürfnis, am Geschehen in der Außenwelt teilzunehmen, ungleich zwischen den Zwillingsschwestern verteilt ist: Die extrovertierte Alva hat alles abbekommen, die introvertierte Irva nichts. Als sie beginnen, die Stadt Entralla, in der sie leben, aus Plastilin nachzubauen, ist das von Vorteil: Alva erkundet die Stadt, Irva bildet sie zu Hause ab. “Alvairvalla ist eine Stadt aus Plastilin und daher sehr geduldig.” Doch um sich von Irva zu unterscheiden, greift Alva zu radikalen Methoden. Und die Risse zwischen den beiden gehen einher mit noch viel größeren Rissen in der Stadt …

Als Leser wandert man durch dieses Buch wie ein Tourist durch eine Stadt. Zu jedem Kapitelanfang gibt es eine Einführung mit Foto zu einem Gebäude von Entralla, Hinweise auf Öffnungszeiten und Rabatte vervollständigen den Eindruck eines Reiseführers. Dann folgt die Erzählung aus Alvas Sicht. Das ist originell und bringt mir den Spaß am Lesen zurück, den ich allzu oft verliere. Die Sprache von Edward Carey ist hinreißend, gefühlvoll, ausufernd und meisterhaft. Er beschreibt zwei Mädchen, die verrückt und schrullig sind, einsam und doch nie allein. Sie scheren sich nicht um Konventionen, sondern nur um sich selbst. Sie werfen einen staunenden und befremdlichen Blick auf andere. “Unser Vater, Waisenjunge Linas, gehörte zu den Menschen, die wissen, was Leiden bedeutet. Der Schrei eines gestürzten Kindes, ein alter Mann, der um jeden Atemzug kämpft, die Courage, die eine fette Frau täglich aufbringen muss, um sich zu setzen: Die Traurigkeit all dieser Dinge raubte ihm den Schlaf.” Die Zwillinge können nicht in Interaktion treten mit der Welt, sie formen sie und bilden sie nach aus Plastilin. “Man weiß, daß man die Sprache des Plasitilins fließend beherrscht, wenn man sich zu fragen beginnt: Rieche ich nach Plastilin oder riecht das Plastilin nach mir?”

Alva & Irva ist ein ungewöhnliches, ein böses, witziges, unterhaltsames und völlig absurdes Buch. Es ragt heraus aus der Masse und wird mir in Erinnerung bleiben. Wenn es sich irgendwo auftreiben lässt – unbedingt zugreifen!

Gut und sättigend: 3 Sterne

Schwierigkeiten einer jungen Ehe
Gerade erst haben Hans und Ina geheiratet, wenig später sucht er in Frankfurt eine neue Bleibe für das junge Paar. Das Richtige zu finden, ist nicht einfach, und so geht er immer mehr Kompromisse ein – bis er eine Dachgeschoßwohnung in einer lauten und unfeinen Gegend mietet. Zuerst scheint es, als würde es Ina nichts ausmachen, dass der Start in das gemeinsame Leben nicht in einer Wohlfühlumgebung stattfindet. Schnell aber zehrt das ungemütliche Umfeld an den Nerven der beiden. Hans muss viel arbeiten, Ina ist allein – aber auch ungesellig, denn zu den Nachbarn, ebenfalls ein Paar, will sie nicht mitkommen, auch nicht zu den abendlichen Trinkrunden im Innenhof, bei denen der zwielichtige Hausmeister Souad aus Äthiopien federführend ist. Nicht unbedingt hilfreich für die Harmonie in der Beziehung zwischen Ina und Hans ist Inas nervtötende Mutter Frau von Klein. So entgleitet den beiden sehr schnell das, was sie für eine gute Ehe halten.

Die antiquierte Sprache des mehrfach preisgekrönten Schriftstellers Martin Mosebach und das Cover erwecken den Eindruck, die Geschichte von Der Mond und das Mädchen spiele in einer längst vergangenen Zeit, doch sie ist in der Gegenwart angesiedelt. Geradezu verblüffend ist, wie der Autor sich in winzige Details verbeißen kann, wie er Autoabgase als “gewürzhafte Fülle” beschreibt und wie er die “enterotisierende Wirkung von Eheringen” schildert. Inhaltlich gibt die Handlung nicht viel her: Hans und Ina entfremden sich mit einer Geschwindigkeit, die fast schon absurd wirkt. Dabei wundert es mich, wie das möglich ist, denn die beiden sind bereits seit fünf Jahren zusammen – über ihre Beziehung vor der Hochzeit erfahren wir allerdings nichts. Es entsteht der Eindruck, als hätten sie einander erst vor dem Altar kennengelernt – und stellten jetzt fest, dass sie überhaupt nicht zueinander passen. Sie sind übersensibel und empfindlich, sie schieben der hässlichen Wohnung die Schuld an ihrem Unglücklichsein zu, wobei ich diese Mängel der ehelichen Unterkunft kaum ernst nehmen kann. Sollte es bei wahrer Liebe nicht – zumindest ein wenig – egal sein, wo man haust, überhaupt, wenn es nur auf Zeit ist?

Die Story ist ein wenig aufgeblasen, aber: Die Sprache ist schön, exaltiert, detailgenau, herausragend und einzigartig. Martin Mosebach findet elegante Metaphern, er lässt seinen Stil schillern und beleuchtet ein junges, uninteressantes Paar und die Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung für einen Moment. Das sind 180 Seiten voller ungewöhnlicher Beschreibungen, wie man sie selten findet.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Rasant und komisch
Alex ist verliebt in Esther. Wie sich diese Beziehung entwickelt, wer sich einmischt und wie es eigentlich ist, erwachsen zu werden, davon handelt Selim Özdogans Roman aus dem Jahr 1995 mit dem herrlichen Titel Es ist so einsam im Sattel, seit das Pferd tot ist. In diesem Buch gibt es keine großen Überraschungen, weder inhaltlich noch stilistisch. Es ist gut und flott geschrieben, der Autor fühlt sich ein in die Welt eines jungen Mannes, der sich treiben lässt und sich nicht festlegen will auf einen endgültigen Lebensentwurf. An die Uni geht er kaum, das Jobben nimmt er auch nicht ernst. Er feiert gern, betrinkt sich bei jeder Gelegenheit und hängt mit seinen zwei besten Freunden ab. Zwischendurch schreibt er Gedichte. Die Liebe zu Esther ist ihm allerdings ernst – ernster als ihr. Und wie weh das tut, ob beim ersten oder beim wiederholten Mal, davon erzählt Selim Özdogan in diesem Roman.

“Fröhliche Musik muss man laut hören, es dürfen keine Nebengeräusche überleben, jede Faser des Körpers muss erfasst werden, der Brustkorb muss vibrieren, man muss erfüllt werden von der ganzen Kraft, man muss sie verinnerlichen man muss sich ganz auf die Magie einlassen.” Mit solchen Sätzen weckt das Buch mit dem langen Titel die Erinnerung daran, wie es ist, jung und frei zu sein, das Leben vor sich zu haben, zu träumen. Das zu lesen, ist keine Offenbarung, aber unterhaltsam. Die Sprache ist betont rotzig, das muss man natürlich mögen. Mir liegt es nicht unbedingt, trotzdem finde ich das tote Pferd okay – als entspannende Literatur für zwischendurch.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Amerika in den Goldenen Zwanzigern
“La donna è mobile, qual piuma al vento …” ist eine bekannte Zeile aus der Oper Rigoletto von Verdi, die Frau wird darin als launisch, als flatterhaft bezeichnet – es ist unmöglich, sie festzuhalten, sie ist wie eine Feder im Wind. Auf Daisy, die Frau, die in F. Scott Fitzgeralds bekanntestem Roman The Great Gatsby im Mittelpunkt der männlichen Begehrlichkeit steht, trifft das zu. Erzählt wird die Geschichte von ihrem Cousin zweiten Grades, einem jungen Mann namens Nick Carraway, der in den Osten zieht und in New York als Aktienmakler arbeitet. In der Villa neben seiner Unterkunft werden allabendlich rauschende Feste mit Musik, Tanz und Alkohol gefeiert: Hier wohnt der reiche Gatsby. Nick lernt ihn kennen und wird Teil der illustren Gesellschaft, zu der auch die golfspielende Jordan Baker gehört, mit der Nick eine Affäre beginnt. Als sich herausstellt, dass Gatsby und Daisy einander kennen, ja, dass sie einander geliebt haben damals, bevor Daisy den grobschlachtigen und reichen Ex-Footballspieler Tom Buchanan geheiratet hat, arrangiert Nick ein Treffen zwischen den beiden. Und ebenso unvorhergesehene wie verhängnisvolle Ereignisse nehmen ihren Lauf …

The Great Gatsby spielt in einer Zeit, in der Amerika wie der Großteil der Welt im Aufbruch war. Der Erste Weltkrieg war zu Ende, neuer Wohlstand wurde geschaffen, die jungen, intellektuellen und vermögenden Leute langweilten sich. F. Scott Fitzgeralds Porträt einer Generation, die nicht viel mit sich anzufangen weiß, gilt als sein “masterpiece”. Der Autor selbst hatte ein bewegtes Leben, das vor allem von der nervenzehrenden Liebe zu seiner Frau Zelda bestimmt war, die mehrere Aufenthalte in Nervenkliniken hinter sich brachte. In der Kürze – das Original hat knapp 140 Seiten – bleibt dieser Roman eher eine Erzählung und geht nicht in die Tiefe, er wartet aber mit überraschenden und durchaus gesellschaftskritischen Geschehnissen und einem Ende auf, das alles zusammenfügt.

Wie Fitzgerald seine angeödeten Charaktere lügen, betrügen, trinken und feiern lässt, ist interessant zu lesen. Sie sind egoistisch und jeder für sich – Daisy, Tom, Gatsby und Nick – nur auf ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse bedacht. Tom und Gatsby buhlen um Daisys Liebe, die seltsam leblos und unberührt vom Leben bleibt, sie ist wie eine schöne Puppe, die man ansehen und nach Belieben anziehen kann, die aber keine eigene Meinung oder eigene Gefühle entwickelt. Sprachlich ist das Buch gelungen und stimmig, stellenweise nicht richtig spannend, dann aber wieder mit guten Teasern und pontierten Formulierungen. Das Ende des großen Gatsby ist tragisch, die Moral gerät ins Wanken, Rache wird verübt – und ob es den Richtigen getroffen hat, mag jeder Leser selbst entscheiden. Unbedingt ist The Great Gatsby ein Buch, das man gelesen haben sollte.

Netter Versuch: 2 Sterne

Wie einfach es ist, zu verschwinden
Die 18-jährige Kim fährt vom Strand nach hause, zieht sich um und macht sich auf den Weg in die Arbeit an der Tankstelle. Dort kommt sie jedoch nie an. Schnell wird klar: Kim ist verschwunden. Ihr Vater Ed kann nicht warten, bis die Polizei etwas unternimmt, und zieht allein seine Runden auf der Suche nach Kim. Mutter Fran geht ebenso systematisch vor: Sie fertigt Flyer an und kontaktiert die Medien. Schwester Lindsay dagegen erstarrt vor Schreck. J. P., dessen Romanze mit Kim ohnehin mit dem Sommer zu Ende wäre, ist getroffen und schließt sich – wie Kims Freundinnen – der Suche an. Doch von Kim fehlt jede Spur.

In Alle, alle lieben dich zeigt Stewart O’Nan, wie einfach es ist, zu verschwinden – und wie ratlos Familie und Freunde zurückbleiben. Kim ist ein typisches All-American-Girl und stammt aus einem 08/15-Ort, wie es in diesem Land viele gibt. Es ist ihr letzter Sommer vor dem College, das Leben liegt glitzernd vor ihr. Das hört sich alles nach einer guten und spannenden Geschichte an – aber leider gelingt es dem Autor nicht im Geringsten, mich zu fesseln. Das liegt daran, dass Durchschnittskim mich ganz einfach nicht interessiert: Vor ihrem Verschwinden wird sie dem Leser kurz vorgestellt, aber diese Vorstellung bleibt so oberflächlich, dass diese Figur für mich nicht greifbar wird, an ihr ist nichts Besonderes. Das ist auch gar nicht Voraussetzung, denn es verschwinden tagtäglich normale, unbesondere Menschen aus normalen, unbesonderen Familien. Aber es führt dazu, dass Kims Verschwinden mir komplett egal ist. Das Lesen dieses Romans ist für mich daher so, als würde mir meine Nachbarin erzählen, die Tochter ihrer Cousine sei verschwunden – ich hätte selbstverständlich Mitgefühl, aber die Distanz wäre groß, ich wäre nicht betroffen. Stewart O’Nan schafft es nicht, in meinem abgebrühten Herzen Interesse für das Schicksal seiner Kim zu wecken, ich langweile mich entsetzlich.

Auch die eigentlichen Protagonisten – der Vater, der Mutter, die Schwester – bleiben für mich viel zu platt und facettenlos. Lindsay ist ebenso langweilig wie ihre Schwester, der Vater legt Aktion über seine Sorgen, die Mutter muss sogar betonen, dass sie hysterisch ist, weil man es sonst gar nicht merken würde. Schriftstellerisch gesehen ist Alle, alle lieben dich in meinen Augen keine Glanzleistung: Zwar gibt es einige wenige Satzperlen, die Dialoge aber sind unerträglich fad, die Metaphern haben einen Bart. Alle Ereignisse sind vorhersehbar und werden abgespult wie in einem Film nach Schema F: Die Suche allein im Auto in der Gegend, die Interviews im Fernsehen, das Chatten mit anderen betroffenen Müttern, die Gespräche mit der Polizei. Es gibt keine Wendung, die durch die Geschichte fährt wie ein Blitz, keine Figur, die heraussticht. Was ich vermisse, ist, durch den Roman hindurch das Erschüttern zu spüren, das durch diese Familie geht, das Verzweifelte, das Zermürbende, die panische Angst, die Vorwürfe, die schlaflosen Nächte. Viel zu schnell findet sich die Familie meiner Meinung nach mit dem Fehlen eines Mitglieds ab, Lindsay macht den Führerschein, die Eltern arbeiten ganz normal, alle feiern Geburtstag. Vielleicht kann man gar nicht anders reagieren in einer solchen Situation. Vielleicht aber – und das klingt gehässig, ich weiß – geht es der Familie wie mir: Kim ist verschwunden und keinen interessiert’s.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Von Gotteskriegern, Asylbewerbern und kulturellen Unterschieden
Das dunkle Schiff ist ein dunkles Buch: Es handelt von Religion und Terror, von Gefahr, Einsamkeit und Unverständnis. Kerim wächst im Irak auf, nördlich von Bagdad. Seine Eltern führen ein kleines Gasthaus, von den politischen Unruhen bekommen sie wenig mit. Kerim ist ein dickes Kind, das wenig Freunde, aber ein Sprachtalent hat. Sein Weg wird ihn zu den Gotteskriegern führen, die das Land mit ihren grausamen Selbstmordattentaten in Angst und Schrecken versetzen. Doch in den irakischen Bergen nimmt Kerims Odyssee erst ihren Anfang: Als Asylbewerber kommt er nach Berlin, wo er Unterschlupf bei seinem Onkel Tarik und im deutschen Staat findet. Doch es scheint, als könne er den langen Armen des Islam auch in der Fremde nicht entkommen …

2008 landete Sherko Fatah mit Das dunkle Schiff auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis, weshalb ich darauf aufmerksam wurde. Schon der Prolog fesselt mich derart, dass ich nicht aufhören kann zu lesen und in zwei Stunden fast 200 Seiten verschlinge. Hier schreibt jemand, der ein unglaubliches Talent hat und zudem etwas zu erzählen – die bestmögliche Kombination. Mit Kerim schafft Sherko Fatah einen Protagonisten, der beeinflusst wird von dem unglückseligen Ort, an dem er aufwächst, der gefangen genommen wird von den Umständen in seinem Land, dem Irak. In einer sehr bildlichen, eindringlichen Sprache erzählt der Autor vom Heranwachsen eines Jungen, der mit Religion und ihren fanatischen Auswüchsen eigentlich nur durch Zufall in Berührung kommt – und darin verloren geht. Er berichtet in einer sehr wertfreien Sicht von Terrorismus und kulturellen Unterschieden – und weicht dabei geschickt den Klischees aus, die mit diesem Thema einhergehen. Umso glaubhafter wirkt die Geschichte, da Kerim alles andere als ein guter Mensch ist. Er lässt sich zu Gewalt hinreißen und ist Opfer und Täter in einer Person.

Das Buch ist gut strukturiert und ungemein spannend. Meine persönliche Begeisterung flaut im letzten Drittel ein wenig ab, da Kerim plötzlich naiv und fremdbestimmt erscheint – vielleicht soll das aber auch nur zeigen, dass er hier nicht zu Hause ist. Von dem Zeitpunkt an, da er sich Asyl in Deutschland erschlichen hat, verläuft die Geschichte eher im Sand – der fulminante Abschluss ist nicht ganz gelungen, daher gibt es einen Punkt Abzug. Der Schluss selbst ist passend und in Ordnung, aber die Charaktere, die Kerim in Berlin trifft, und die Dinge, die er dort tut, wirken auf mich im Vergleich zu den Erlebnissen im Irak und den Berichten über seine Jugend hohl. Das ist allerdings Jammern auf hohem Niveau, denn mit Das dunkle Schiff ist Sherko Fatah ein grandioser Roman gelungen, der auf ganz besondere Weise Einblick gibt in das, was uns täglich mit Grauen erfüllt und dem wir hilflos gegenüberstehen: dem Wahnsinn der Selbstmordattentäter und ihrem Einfluss auf die ganze Welt. Auch ohne den Deutschen Buchpreis ist dieses Buch ausgezeichnet.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Leise sein, hinschauen, nachdenken
Es ist ein ungewöhnlicher Job, den der Ich-Erzähler in Wilhelm Genazinos Ein Regenschirm für diesen Tag ausübt: Er testet Herrenschuhe, spaziert mit ihnen durch die Stadt und schreibt dann Gutachten über seine Eindrücke. Deshalb muss er viel spazierengehen, deshalb kann er den ganzen Tag Leute beobachten: eine Frau im Supermarkt, ein Kind im Auto, ein Liebespaar. Und er macht sich so seine Gedanken über diese Menschen, über sich selbst, über das Leben, von dem er nicht weiß, ob er ihm seine “nachträgliche Genehmigung” erteilen würde. Er leidet an “Verschwindsucht” und ist immer ganz bei sich, obwohl er sich so viel im Außen bewegt, agiert er kaum mit anderen bzw. nur dann, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Er trifft verschiedene Frauen auf seinen Spaziergängen, die er kennt und mit denen er manchmal reden muss, aber sein Herz hängt noch an Lisa, die ihn verlassen hat. Er steht außerhalb des Trotts, der sich der meisten Menschen bemächtigt hat, aber ganz entziehen kann er sich der Anforderung, Geld verdienen zu müssen zum Überleben, und der Sehnsucht, mit einer Frau zusammen zu sein, nicht.

“Literatur muss besser gemacht sein als das Leben”, soll John Irving einmal gesagt haben. Davon hält Wilhelm Genazino nichts. Es ist das Leben, das er abbildet – und zwar so, wie es ist: manchmal spannend, meistens monoton. Ein Regenschirm für diesen Tag ist gleichzeitig ungewöhnlich und unspektakulär. Dieser Roman gewinnt nicht mit seiner Handlung, sondern vielmehr mit dem Blick durch ein subjektives Fernrohr, das auf die Welt gerichtet ist. Dieses Buch zeigt, wie es ist, wenn man nicht hetzen muss, wie es ist, wenn man nichts braucht und nichts sucht und einfach mit sich selbst durch eine Stadt spaziert, die Augen weit offen, das Hirn auch, wenn einem Gedanken kommen, die klug sind, und solche, die absurd sind. Dabei steht der Roman für mich immer ganz nah am Abgrund zum Belanglosen: “Ich lege meine Jacke ab und schneide mir eine Scheibe Brot ab”, heißt es beispielsweise, “Das Brot schmeckt mir sehr gut. Ich nehme die Brille ab und reibe mir mit der Hand die Augen.” Aber die treffenden Beobachtungen retten die Erzählung immer wieder vor dem Absturz. Besonders die Sexszene finde ich sehr amüsant. Was den Erlebnisfaktor betrifft: Während andere Bücher wie Disneyland sind, ist dieser hier der Stadtpark. Und es ist manchmal ganz schön, in den Stadtpark zu gehen und einfach seine Ruhe zu haben.