Bücherwurmloch

„Ich denke, dass es mir jedes Jahr von Neuem unmöglich ist, mich im Winter daran zu erinnern, wie sich der Sommer anfühlt“
Teresa erzählt von ihrer Kindheit und Jugend. Von ihrer Familie und dabei vor allem: von ihrem Vater. Der das Familiengeschehen dominiert hat mit seiner Wut und seiner Unberechenbarkeit, mit seinen Bierflaschen und seinen Schlägen. Sie berichtet von der Mutter, die das blutende Gesicht abgewendet hat, von ihrem Bruder, den sie versucht hat zu beschützen. Es ist eine Geschichte voller Alkoholismus und Gewalt, eine einprägsame, dabei aber irgendwie langsame und stille Geschichte.

Janina Hecht zeigt in diesem Buch, wie sehr das Problem eines Einzelnen eine Familie zersetzt. Wie der Vater mehr und mehr zur Gefahr wird, zur Bedrohung für alle, zu etwas, von dem man sich emanzipieren und befreien muss. Wie schal das Leben aber bleibt, auch wenn dies schließlich gelingt: weil die Freude fehlt und immer gefehlt hat. Der Roman ist sehr atmosphärisch und fängt perfekt jene Zeit ein, in der ich selbst großgeworden bin, weshalb ich vieles nachempfinden konnte: die zähe Langeweile der Sommernachmittage, die ranzigen Ferienhäuser im Urlaub, die Beiläufigkeit, mit der Eltern damals ihre Kinder behandelt haben: nicht unbedingt lieblos, aber auch nicht mit großem Interesse. Sie schreibt ruhig und mit Bedacht, melancholisch, ohne viel Aufhebens zu machen. Dadurch ist In diesen Sommern gut zu lesen, aber auch einigermaßen unspektakulär – ich mochte es sehr, auch wegen des behutsamen, vorsichtigen Stils, und wusste trotzdem schon währenddessen, dass es nicht lange bei mir nachhallen wird. Es nähert sich der Frage, wie wir uns erinnern, wie das Schöne durchwirkt ist vom Schrecklichen, wie den eigenen Erinnerungen vielleicht gar nicht zu trauen ist – und wie sie dennoch das Einzige sind, was uns bleibt.

In diesen Sommern von Janina Hecht ist erschienen bei C. H. Beck.

Bücherwurmloch

„Haben Sie schon einmal versucht, von jemandem grundlegende Achtung als Mensch einzufordern?“

„Und in manchen Fällen brauchen die Worte Jahre, um unseren Körpern folgen zu können, um zu sagen, was längst gesagt worden ist.“

In diesem Fall ist das so: Heute folgen die Worte, die junge Frau spricht. Sie spricht mit dem Arzt, der gerade ihre Genitalien untersucht, sie deckt ihn zu mit einem langen, sehr persönlichen, sehr intimen Monolog, spricht ihn immer wieder an als Dr. Seligman, hat aber selbst keinen Namen. Sie erzählt von ihren Eltern und ihren Sexträumen, in denen Hitler eine verstörend große Rolle spielt, von K, der ihr das Herz gebrochen hat, und der Gesellschaft, die sie nicht akzeptiert, wie sie ist. Es geht um Körperwahrnehmung und Body Dysmorphia in diesem Buch, um Nazis und Katzen und die Frage, wann wir Menschen endlich aufhören, einander in Schubladen zu stecken – und jene zu diskriminieren, die in keine Schublade passen.

Der Termin ist ein einziger, 120 Seiten langer Stream of consciousness, teilweise sehr scharf und wahr, teilweise sehr seltsam und verstörend. Es ist Katharina Volckmer, die in Deutschland geboren ist, aber in London lebt und das Buch auf Englisch verfasst hat, hervorragend gelungen, ihrer namenlosen Ich-Erzählerin eine eigenwillige Stimme zu geben. Und auch wenn schnell klar wird, worin der Kern des Romans in Wahrheit besteht – und um nicht zu spoilern, verrate ich euch das nicht –, finde ich das Thema wichtig und zeitgeistig. Selten wird es so bissig und schamlos auf den Punkt gebracht. Der Termin wirft einen entlarvenden, fast hämischen, aber auch völlig resignierten Blick auf die Welt, in der wir leben, auf die Kategorien, denen wir uns unterwerfen, tut dies anhand kleiner Alltagsbegebenheiten sowie mittels großer umwälzender Veränderungen am Körper und im Auftreten. Es ist ungewöhnlich, originell und im Ton oft herausfordernd, Berührungsängste mit Toilettenficks und Hitler darf man jedenfalls keine haben. Ich habe oft genickt, geschmunzelt, mich gegraust, und ich feiere das Buch für seinen düsteren Witz, die gnadenlose Ironie und den entwaffnenden Mut.

Der Termin von Katharina Volckmer ist erschienen im Kanon Verlag.

Bücherwurmloch

„Schönheit ist nicht nur ein Geschäft, sie ist vor allem eines: politisch“
Wenn ich mit Menschen über Diet Culture und Schönheitsideale spreche, über Body Positivity und Fatosphere, bekomme ich oft zu hören „ach, da kenn ich mich nicht so aus“ oder „das ist alles so kompliziert, wer soll das verstehen“. In Zukunft werde ich diesen Menschen einfach das Buch von Elisabeth Lechner in die Hand drücken, denn erstens ist es überhaupt nicht so kompliziert, zweitens geht es uns alle an und ist ein enorm wichtiges Thema, und drittens hat sie es geschafft, einen derart guten und verständlichen Überblick zu geben, dass sich niemand mehr auf ein Informationsdefizit rausreden kann. Educate yourself, und das geht mit Riot, don’t diet sehr gut: Die Kulturwissenschaftlerin, die sich bestens auskennt mit der Wahrnehmung von Körpern, hat über Dickenhass und Othering geschrieben, über Queerness und Körperbehaarung, über Age-Shaming und den Umgang mit Behinderungen. Dieses Buch ist so inklusiv, wie die Gesellschaft es sein sollte, denn es bezieht alle mit ein: Männer wie Frauen, Weiße wie Schwarze, heterosexuelle wie queere Menschen, und es zeigt einmal mehr, dass das Patriarchat nicht nur für Frauen große strukturelle Nachteile bringt, sondern auch für Männer.

Schön finde ich, dass Elisabeth Lechner nicht nur die Probleme aufzeigt – und ihre Entstehung aus dem historischen Kontext erklärt –, sondern auch Lösungsansätze bietet, ein ganzes Kapitel am Ende heißt „In fünf Schritten zur Schönheitsrevolution“. Knackig verpackt, denkt man da, und ob es wirklich so einfach ist? Sicher nicht, aber Bücher wie dieses sind wegweisend und sollten Schullektüre sein, weil sie wirklich helfen und etwas verändern könnten. Warum ist Schönheit ein diskriminierendes System und was bedeutet Lookismus? Was hat es mit Blackfishing auf sich und was ist gemeint mit Misogynoir? Wieso sind Körper gefangen zwischen Unsichtbarkeit und Hypersichtbarkeit und warum lehnen wir Dicksein ab, obwohl so viele von uns nicht dünn sind? All das und vieles mehr beantwortet dieses Buch, und glaubt mir: So kompliziert ist es nicht. Dafür aber schockierend – und eine Herausforderung für uns alle.

Riot, don’t diet. Aufstand der widerspenstigen Körper von Elisabeth Lechner ist erschienen bei Kremayr & Scheriau.

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„Ich habe das Gefühl, mich nie wieder in meinem Leben vor irgendetwas fürchten zu müssen“
Die Ich-Erzählerin und ihre Freundin Bea fahren gemeinsam für zwei Wochen auf Urlaub. Sie kennen sich schon lange, seit ihrer Kindheit, haben gute und schlechte Zeiten durchlebt und immer zusammengehalten. Seit sie erwachsen sind, studiert haben und arbeiten, sehen sie einander nicht mehr so oft, sie reisen auch aus verschiedenen Städten an. Es ist eine ungleiche, aber zähe Freundschaft, Bea ist der weiche, nachgiebige, verständnisvolle Part, die Ich-Erzählerin ist, um es rundheraus zu sagen, eine richtig beschissene Freundin. Sie kümmert sich wenig, sie hört nicht zu – und es scheint auch schwierig zu sein, ein sinnvolles Gespräch mit ihr zu führen. Im Urlaub ist das nicht anders, sie lernt den sehr jungen Julien und seine Schwester Marianne kennen, verbringt die Nächte mit ihnen, haut einfach ab, ohne Bea Bescheid zu geben – und ohne sie mitzunehmen.

Sehr besonders an diesem Buch, das als nette, sommerliche Urlaubsgeschichte daherkommt, ist der Ton. Wir haben eine verpeilte, unzugängliche Erzählerin, die so anders ist und über den Dingen steht, die sich nicht amüsieren will am Strand und bei den nächtlichen Partys eigentlich auch nicht, die keine Verantwortung übernimmt – und offenbar einen großen Kummer mit sich trägt, den sie nicht mit uns teilt. Sie ist eine dieser typisch depressiven Heldinnen, privilegiert bis zum Geht-nicht-mehr und trotzdem unglücklich, seltsam verloren im eigenen Leben, schwer einzuordnen, weil sie sich im letzten Moment dann doch wieder entzieht. Das ist nervig, macht den Roman aber vom seichten Strandhappen zum literarischen Erlebnis: gut zu lesen, mit viel Identifikationspotenzial in Sachen Frauenfreundschaft und dem Gefühl, dreißig zu werden. Geheimnisvoll, nachdenklich und nicht so ein feel good read, wie das Cover glauben lässt, sondern ein Buch, das eher unangenehme Fragen stellt, auf die wir die Antworten kennen.

Krokodile von Angie Volk ist erschienen bei Atlantik.

Bücherwurmloch

„Ich musste es ihm nie sagen, und daher wusste ich, dass ich ihn liebte“
Jonny ist ein NDN, ein Indianer, aufgewachsen im Reservat mit seiner Mutter und seiner Großmutter. Als er alt genug ist, zieht er nach Winnipeg und verdient sich sein Geld als Sexarbeiter. Er trifft sich mit Männern oder befriedigt sie über Webcam, benötigt dringend jeden Dollar, um sich Zigaretten und etwas zu essen kaufen zu können. Er kann jede gewünschte Rolle einnehmen, ist Frau und Mann zugleich, ist Indianer und Catwoman und alles, was der Kund will.

„Wenn sie mich als Freudenhaus bezeichnen, bestätigt mir das nur, dass ich ein Heim in mir selbst gefunden habe.“

Sein bester Freund, sein Geliebter, sein Seelenverwandter ist Tias, mit dem er bereits seit der gemeinsamen Kindheit im Reservat immer wieder Sex hat – der aber auch mit der starken, schönen Jordan zusammen ist. Die drei bilden ein seltsames Dreieck, tun sich gut und tun einander weh.

„Es ist schon komisch, dass sich „Ich liebe dich“ bei einem NDN immer eher wie „Du bereitest mir Schmerzen“ anhört.“

Als Jonny erfährt, dass sein Stiefvater gestorben ist, muss er dringend innerhalb von zwei Tagen genug Geld einnehmen, um sich eine Fahrt ins Reservat leisten zu können und seiner Mutter beizustehen. In dieser Zeit erzählt er uns von früher, vom Leben unter Alkoholikern, von Ausgrenzung, Verachtung und Verrat, von den Wunden eines Volkes, das getötet und vertrieben wurde – und davon, was es heute im modernen Kanada bedeutet, indianische Wurzeln zu haben. Er tut dies unverblümt und in einem ganz eigenen, richtig guten Sound, er tut es mit einem lachenden Auge und Wut im Bauch. Dieses Buch zu lesen, schmerzt extrem – und das macht es umso wichtiger. Es ist zornig und sentimental, es ist abgebrüht und offen bis auf die Knochen, es ist neu und anders und eigentlich nicht: Wir kennen diese Geschichte, wir verdrängen sie gern. Und deshalb muss sie uns wieder und wieder erzählt werden, denn dieser Völkermord hat tiefgreifende Folgen. Ein eindringlicher, stolzer, schöner, sehr berührender Roman, der definitiv zum Besten gehört, das ich bisher in diesem Jahr gelesen habe.

Jonny Appleseed ist erschienen bei Albino.

 

 

Bücherwurmloch

„Ich überlegte, ob es einen Stichtag gab, ab wann eine Person endlich aufhören musste, ihrer Mutter die Schuld für die eigenen Gedanken zu geben“
Rachels gesamter Tag ist durchgetaktet und mit Essenseinheiten verplant: Was darf sie zum Frühstück essen, wie viele Stunden Pause muss sie machen, wie viele Kalorien hat welcher Bissen, was geht sich abends noch aus? Sie isst jeden Tag dasselbe, Salat und fettfreie Eiscreme, aber nur einen halben Becher. Sie liebt Nahrungsmittel, sie denkt unablässig darüber nach, und sie spürt diesen inneren Zwang, dünn zu bleiben, den ihre Mutter ihr eingeimpft hat.

„Liebe ist, wenn du Essen im Mund hast, von dem du weißt, dass es dich nicht fett machen wird. Lust ist, wenn du Essen im Mund hast, das dich fett machen wird. Angst ist der Tag, nachdem du Essen im Mund hattest, das dich fett machen wird.“

Doch dann trifft Rachel auf Miriam, die den üblichen Eiscreme-Verkäufer vertritt und Rachel den Becher nicht nur halb, sondern zur Gänze füllt. Und damit beginnt für Rachel eine wilde, aufregende, sinnlich-abenteuerliche Reise zu sich selbst.

„Es war, als würde ich mir den Kopf abhacken, weil ich Kopfschmerzen hatte. Aber ich war meinen Kopf so leid.“

Melissa Broder hat mich mit ihrem Roman Fische derart nachhaltig verstört, dass ich mir von ihrem neuen Werk nicht allzu viel versprochen habe, ich dachte, es wäre erneut wirr, seltsam und abstoßend. Aber das ist nicht der Fall, ganz im Gegenteil: Dieses Mal hat sie mich nachhaltig begeistert. Rachel ist eine Protagonistin, der ich so viel abgewinnen kann: Ich kenne Frauen, die jeden Gabelbissen zählen, ich weiß selbst um die Schwierigkeiten mit Bodyshaming und der Sucht nach einem dünnen Körper. Großartig finde ich, wie Melissa Broder die Geschmacksexplosionen beschreibt, wie sie Worte findet für Essen, Genießen, für Sex und Leidenschaft, man bekommt Hunger, man wird horny, es ist ein wunderbarer Schmaus. Zugleich thematisiert das Buch Queerness und Religion, die Unmöglichkeit, sich zu outen oder zusammen zu sein, Aufbegehren gegen sexuelle und körperliche Unterdrückung. Ein Buch voller Gelüste und voller Lust, für mich definitiv ein Jahreshighlight.

Muttermilch von Melissa Broder ist erschienen bei Claassen.

Bücherwurmloch

„Aber Wissen und Wissenwollen sind sehr verschiedene Sachen“

„Entweder nämlich ist man hier in der Gegend redselig, sehr sogar. Oder man schweigt. Ein Dazwischen gibt es nicht.“

Die Männer, die sagen meistens nur Mhm. Sonst nichts, aber die Frauen können die unterschiedlichen Mhms deuten. Zwei Weißbärtige gibt es im Dorf, der eine ist Ilja, er sagt das Wetter aufgrund des Röhrchens voraus, der andere ist Pjotr, er sagt das Wetter aufgrund des Flusses voraus. Die Leute glauben entweder dem einen oder dem anderen, lesen und schreiben kann hier niemand. Das Dorf ist irgendwo in der Einöde Russlands, so abgeschieden, dass 1918 noch nicht einmal die Kunde vom Ende des Krieges dort angekommen ist. Was jedoch sehr wohl ankommt, ist ein junger Mann, und der entscheidet sich offenbar auch noch dazu, zu bleiben.

„Auch Annuschka hat ihre Geheimnisse, und es kommen täglich neue dazu. Mindestens ein Geheimnis pro Tag, darunter macht sie es neuerdings nicht.“

Iljas Enkelin Annuschka freundet sich mit dem geheimnisvollen Fremden an, und dann hat das Dorf nicht mehr viel Zeit, bis die Realität den Weg über den Fluss findet.

Yulia Marfutova, selbst in Moskau geboren, hat ein zartes, lieblich-schönes Buch geschrieben über das Ende einer Zeit. Der Himmel vor hundert Jahren erzählt von Aberglauben und Patriarchat, von harter Arbeit und längst vergangenen Ritualen, vom Widerstand gegen Veränderungen, es ist exakt an der Grenze zwischen Fiktion und Mystik, Realität und Fortschritt angesiedelt. Der poetische, fast schon kindlich-poetische Ton ist schön und besonders, macht das Buch zu einer erstaunlich leichtfüßigen Lektüre. An manchen Stellen hätte ich mir mehr Aussagekraft und weniger hochartifizielle Märchenhaftigkeit gewünscht, der Zauber hat bei mir nicht durchgehend gewirkt. Magische Elemente, politische Metaphern, Geheimnisvolles und Unheilvolles, dazu viel atmosphärisch angedeutete Befindlichkeiten: Das erwartet euch in diesem irgendwie aus der Zeit gefallenen Roman.

Das Wetter vor hundert Jahren von Yulia Marfutova ist erschienen bei Rowohlt.

 

 

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Commissario Brunettis dreißigster Fall
Es ist lange her, dass ich Krimis gelesen habe, es ist auch lange her, dass ich Italienisch an der Uni gelernt habe: Damals habe ich Donna Leon und Andrea Camilleri geliebt. Brunetti und Montalbano waren DIE italienischen Kommissare, immer nur am Essen und Trinken interessiert, immer halbgrantig und trotzdem auf Zack, immer typisch südländisch leicht überemotional. Irgendwann war ich übersättigt, von Krimis generell, und von meinen beiden italienischen Pantoffelhelden auch, es gab ja noch so viel anderes zu lesen.

Umso schöner war es jetzt, mit Brunettis dreißigstem Fall, doch mal wieder nach Venedig zurückzukehren: Was für ein Fest! Er ist älter geworden, die Kinder sind inzwischen fast erwachsen, die Ehe zu Paola nach wie vor stabil und sein Chef Patta immer noch unerträglich, und die kriminellen Fälle und Morde häufen sich wie eh und je in der Laguna. Donna Leon, die mittlerweile nicht mehr in Venedig lebt, hat meine Hochachtung: Seit so vielen Jahren liefert sie einen Bestseller nach dem anderen, mittlerweile ist sie beinahe 80 Jahre alt. Und sie gibt sich Mühe, sie versucht, ihren Brunetti auszubalancieren zwischen dem alten Chauvinismus, dem er ein wenig anhängt, und der Moderne, sie bringt queere Figuren in die Geschichte und behandelt den Menschen- bzw. Mädchenhandel, der auf den Gewässern vor Venedig stattfindet. Es war richtig nett, erneut kurz zu Brunetti ins Wohnzimmer und ins Büro zu schauen, und ihren Humor hat seine Schöpferin nicht verloren.

Flüchtiges Begehren von Donna Leon ist erschienen bei Diogenes.

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„Wir wachsen mit einem Mutterbild auf, bei dem die Frau an ein Stück Würfelzucker erinnert: immer zur Hand und zur Selbstauflösung bereit“
LASTESIS ist ein chilenisches Kollektiv, das mit der viral gegangenen Performance „Un violador en tu camino“ (Ein Vergewaltiger auf deinem Weg) bekannt geworden ist. Dieses kleine, aber umso wuchtigere Buch ist ihr Manifest. Sie erzählen darin, wie und warum sie diese Performance organisiert haben, welche Katharsis Kunst bedeuten kann – und wieso jede Aufmerksamkeit für diese Themen so wichtig ist. Die Frauen schreiben in Kapiteln wie „Sie rauben uns alles, außer der Wut“ oder „Patriachat und Kapital, dieses Bündnis ist fatal“ gleichermaßen zornig wie nüchtern über Femizid und sexualisierte Gewalt, über die Notwendigkeit, die Ketten des Patriarchats zu sprengen.

„Dem Feminismus begegnest du nicht, weil er einfach des Weges kommt, in der Schule steht er für gewöhnlich nicht auf dem Lehrplan. Er ist das Ergebnis einer Suche, eines Verdachts, dass das, was du kennst und was dir Unbehagen bereitet, tatsächlich nicht in Ordnung ist. Was dir Unbehagen bereitet, was dir keine Ruhe lässt, ist das bestehende System, in dem alles zum Konsumgut wird: Körper, Tiere, Natur, Erfahrungen.“

Verbrennt eure Angst gibt einen guten Überblick über den Ist-Stand der (chilenischen) Gesellschaft und beantwortet ganz klar die Frage, ob wir Feminismus brauchen – und wofür. Es ist ein hilfreicher Einstieg in das Thema, und es macht Hoffnung: dass da viele junge Frauen heranwachsen, die etwas verändern werden. Für eine freie, gewaltfreie, gleichberechtigte Zukunft.

„Zur historischen Misogynie gesellt sich die historische Homo- und Transfeindlichkeit, eine Engstirnigkeit, die außerstande ist, im Anderen eine lebbare Option zu sehen.“

Verbrennt eure Angst! Ein feministisches Manifest von LASTESIS ist erschienen bei S. Fischer.

 

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„When can I say your name and have it mean only your name and not what you left behind?“

Als Ocean Vuong diesen Roman schrieb, diesen Brief an seine Mutter, wurde er damit schlagartig über Nacht berühmt. Das liegt mit Sicherheit an der zarten Tragik, die dieses Stück autobiografisches Schweigen durchzieht, denn Ocean Vuongs Mutter kann nicht lesen.

„I only have the nerve to tell you what comes after because the chance this letter finds you is slim – the very impossibility of your reading this is all that makes my telling it possible.“

Es liegt aber auch an seiner poetischen, eingängigen Sprache. An seiner Art, zu teilen, was er gesehen und erlebt hat: die Liebe zur Mutter, die sich abgeschuftet hat in einem Maniküreladen, die streng zu ihm war und ihn oft geschlagen hat, die Fremdheit in Amerika, die Beziehung zur Großmutter, die ihn beschützt, aber auch beschimpft hat, die erste Verliebtheit, der erste Sex. Der Autor, der in Vietnam geboren ist, geht mit Worten um, wie es manchmal nur Menschen können, für die diese Worte nicht ihre Muttersprache sind: sanft und vorsichtig, liebevoll, sie bedeuten ihm alles. Er berichtet nicht chronologisch, springt hin und her, wechselt auch in die dritte Person, immer dann, wenn er sich emotional distanzieren muss von seinem Schmerz.

„In these moments, next to you, I envy words for doing what we can never do – how they can tell all of themselves simply by standing still, simply by being. Imagine I could lie down beside you and my whole body, every cell, radiates a clear, singular meaning.“

Ich habe dieses Buch nun endlich gelesen, und ich habe lange dafür gebraucht. Weil man es nicht inhalieren kann, weil man ihm Respekt schuldet, weil es einem etwas abverlangt. Manche Bücher geben nicht nur, sie nehmen auch: Dieses gehört dazu. Ich fand es eindrucksvoll und melancholisch, mutig und traurig, weil es den Finger in so viele Wunden legt. Weil Ocean Vuong es geschafft hat, seine Mutter im Kern zu erkennen und zu verstehen – und sich gleichzeitig von ihr zu lösen. Es ist gleichermaßen ein Liebesbrief sowie eine Anklage.

„I remember it. I remember it all because how can you forget anything about the day you first found yourself beautiful?“