Bücherwurmloch

Melissa Broder: Muttermilch

„Ich überlegte, ob es einen Stichtag gab, ab wann eine Person endlich aufhören musste, ihrer Mutter die Schuld für die eigenen Gedanken zu geben“
Rachels gesamter Tag ist durchgetaktet und mit Essenseinheiten verplant: Was darf sie zum Frühstück essen, wie viele Stunden Pause muss sie machen, wie viele Kalorien hat welcher Bissen, was geht sich abends noch aus? Sie isst jeden Tag dasselbe, Salat und fettfreie Eiscreme, aber nur einen halben Becher. Sie liebt Nahrungsmittel, sie denkt unablässig darüber nach, und sie spürt diesen inneren Zwang, dünn zu bleiben, den ihre Mutter ihr eingeimpft hat.

„Liebe ist, wenn du Essen im Mund hast, von dem du weißt, dass es dich nicht fett machen wird. Lust ist, wenn du Essen im Mund hast, das dich fett machen wird. Angst ist der Tag, nachdem du Essen im Mund hattest, das dich fett machen wird.“

Doch dann trifft Rachel auf Miriam, die den üblichen Eiscreme-Verkäufer vertritt und Rachel den Becher nicht nur halb, sondern zur Gänze füllt. Und damit beginnt für Rachel eine wilde, aufregende, sinnlich-abenteuerliche Reise zu sich selbst.

„Es war, als würde ich mir den Kopf abhacken, weil ich Kopfschmerzen hatte. Aber ich war meinen Kopf so leid.“

Melissa Broder hat mich mit ihrem Roman Fische derart nachhaltig verstört, dass ich mir von ihrem neuen Werk nicht allzu viel versprochen habe, ich dachte, es wäre erneut wirr, seltsam und abstoßend. Aber das ist nicht der Fall, ganz im Gegenteil: Dieses Mal hat sie mich nachhaltig begeistert. Rachel ist eine Protagonistin, der ich so viel abgewinnen kann: Ich kenne Frauen, die jeden Gabelbissen zählen, ich weiß selbst um die Schwierigkeiten mit Bodyshaming und der Sucht nach einem dünnen Körper. Großartig finde ich, wie Melissa Broder die Geschmacksexplosionen beschreibt, wie sie Worte findet für Essen, Genießen, für Sex und Leidenschaft, man bekommt Hunger, man wird horny, es ist ein wunderbarer Schmaus. Zugleich thematisiert das Buch Queerness und Religion, die Unmöglichkeit, sich zu outen oder zusammen zu sein, Aufbegehren gegen sexuelle und körperliche Unterdrückung. Ein Buch voller Gelüste und voller Lust, für mich definitiv ein Jahreshighlight.

Muttermilch von Melissa Broder ist erschienen bei Claassen.

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