Bücherwurmloch

Joshua Whitehead: Jonny Appleseed

„Ich musste es ihm nie sagen, und daher wusste ich, dass ich ihn liebte“
Jonny ist ein NDN, ein Indianer, aufgewachsen im Reservat mit seiner Mutter und seiner Großmutter. Als er alt genug ist, zieht er nach Winnipeg und verdient sich sein Geld als Sexarbeiter. Er trifft sich mit Männern oder befriedigt sie über Webcam, benötigt dringend jeden Dollar, um sich Zigaretten und etwas zu essen kaufen zu können. Er kann jede gewünschte Rolle einnehmen, ist Frau und Mann zugleich, ist Indianer und Catwoman und alles, was der Kund will.

„Wenn sie mich als Freudenhaus bezeichnen, bestätigt mir das nur, dass ich ein Heim in mir selbst gefunden habe.“

Sein bester Freund, sein Geliebter, sein Seelenverwandter ist Tias, mit dem er bereits seit der gemeinsamen Kindheit im Reservat immer wieder Sex hat – der aber auch mit der starken, schönen Jordan zusammen ist. Die drei bilden ein seltsames Dreieck, tun sich gut und tun einander weh.

„Es ist schon komisch, dass sich „Ich liebe dich“ bei einem NDN immer eher wie „Du bereitest mir Schmerzen“ anhört.“

Als Jonny erfährt, dass sein Stiefvater gestorben ist, muss er dringend innerhalb von zwei Tagen genug Geld einnehmen, um sich eine Fahrt ins Reservat leisten zu können und seiner Mutter beizustehen. In dieser Zeit erzählt er uns von früher, vom Leben unter Alkoholikern, von Ausgrenzung, Verachtung und Verrat, von den Wunden eines Volkes, das getötet und vertrieben wurde – und davon, was es heute im modernen Kanada bedeutet, indianische Wurzeln zu haben. Er tut dies unverblümt und in einem ganz eigenen, richtig guten Sound, er tut es mit einem lachenden Auge und Wut im Bauch. Dieses Buch zu lesen, schmerzt extrem – und das macht es umso wichtiger. Es ist zornig und sentimental, es ist abgebrüht und offen bis auf die Knochen, es ist neu und anders und eigentlich nicht: Wir kennen diese Geschichte, wir verdrängen sie gern. Und deshalb muss sie uns wieder und wieder erzählt werden, denn dieser Völkermord hat tiefgreifende Folgen. Ein eindringlicher, stolzer, schöner, sehr berührender Roman, der definitiv zum Besten gehört, das ich bisher in diesem Jahr gelesen habe.

Jonny Appleseed ist erschienen bei Albino.

 

 

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