Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

IMG_8247„Ich hätte wer weiß was für sie getan“
In Paris trifft der Ich-Erzähler eines Abends auf ein Paar: Gérard und Jacqueline. Alle drei sind jung und mittellos, Gérard spielt jedes Wochenende in einem Casino auf dem Land, der Erzähler verkauft antiquarische Bücher, Jacqueline tut nichts außer Äther zu schnüffeln und von Mallorca zu träumen. Sie ist blass und unscheinbar, doch der Erzähler verfällt ihr und ihrer dünnen Lederjacke: Sie scheint ständig zu frieren und einen Beschützer zu brauchen. Sie geht mit ihm ins Bett, schlägt ihm einen Raub vor und flieht mit ihm nach London. Doch dort ist es nicht besser, im Gegenteil: Das Hotelzimmer schimmelt, die beiden haben einander eigentlich nichts zu sagen, und Mallorca ist immer noch fern. Zudem hätte es dem Erzähler, der in London zum Schriftsteller wird, eine Lehre sein sollen, wie leichtfertig Jacqueline Gérard verlassen hat. Doch als er sie 15 Jahre später wiedersieht, würde er trotzdem wieder alles aufgeben für sie.

Der französische Autor Patrick Modiano erhielt 2014 den Nobelpreis für Literatur. Das ist der Grund, aus dem ich – wie bestimmt viele andere auch – auf ihn aufmerksam geworden bin. Dass ich aus seinem umfassenden Werk genau diesen Roman ausgesucht habe, war purer Zufall. Patrick Modiano erzählt darin in einem überraschend schlichten und unaufgeregten Stil von Zufallsbegegnungen, Verrat und einer Liebelei, die dem Protagonisten wohl am meisten wegen ihrer Unergründlichkeit in Erinnerung geblieben ist. Von einer Liebesgeschichte mag ich gar nicht sprechen, es handelt sich vielmehr um ein Aufflackern der Hormone, um ein Ausprobieren, um einen Versuch, das Leben anders zu gestalten – und vielleicht gemeinsam. Während der namenlose Ich-Erzähler besessen ist von Jacqueline, ist sie ein Fähnchen im Wind, eine kleine Opportunistin. Sie raucht und hustet sich durch den Roman, hat wenig Innenleben, ist still und unzugänglich. Der Ich-Erzähler idealisiert und belebt sie, schreibt ihr Emotionen zu, die sie offenkundig gar nicht hat, kalt und leblos, wie sie ist.

Aber sind es nicht immer diese wankelmütigen, schwer greifbaren Menschen, die uns faszinieren? Aus tiefstem Vergessen ist wie ein Bild aus vergangenen Zeiten, in Sepia-Tönen, das nicht nur vom Hoffen und Scheitern junger Menschen berichtet, sondern auch von einem Leben ohne Handys, ohne permanente Erreichbarkeit, dafür mit Zufallsbekanntschaften, Briefen, langen Wartezeiten an Orten, von denen man dachte, der ersehnte Mensch könnte dort auftauchen, und der ständigen Angst, genau denjenigen aus den Augen zu verlieren: „Ich rechnete oft damit, dass Leute, die ich kennengelernt hatte, von einem Augenblick auf den anderen verschwanden und nie wieder etwas von sich hören ließen.“ Heute findet man die ja alle bei Facebook. Diese Verlustangst mag dem Erleben vielleicht mehr Intensität gegeben haben – letztlich erlagen sie aber trotzdem alle einer großen Täuschung. Und das ist wohl auch heute noch so.

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Aus tiefstem Vergessen von Patrick Modiano ist als Taschenbuch erschienen im dtv (ISBN  978-3-423-14432-2, 160 Seiten, 9,90 Euro).

Noch mehr Futter:
– „Ein klassischer Romanstoff, und vermutlich der schönste von allen: die Erinnerung an ein für immer verlorenes (und dabei schon im Moment des Genusses zweifelhaftes) Glück, an Gerüche, Vergnügungen und Orte, die so nie mehr aufzufinden sind, an die vermeintliche Unbeschwertheit einer Jugend, die nur im Rückblick leicht erscheint und in Wahrheit belastet war von Unruhe und einem unbestimmten Leid“, schwärmt spiegel.de.
– „Die Liebe ereignet sich in diesem schönen Roman mehr nebenbei, aber um so leuchtender. Als Abbild der erzählerischen Laune, die mit dem Kontrast von Schatten und Licht spielt, das diesen Lebensabschnitt charakterisiert“, schreibt der Tagesspiegel.
– „Modianos Helden sind immer auf der Flucht – vor der Vergangenheit, vor sich selbst, vor der Vergänglichkeit des Alltags“, erklärt literaturkritik.de.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

IMG_8245„Nur unsere Leidensfähigkeit haben wir nicht verloren. Wir können wunderbar leiden“
New York in den 1950er-Jahren: Zwei lernen sich kennen und verlieben sich. Er ist älter, sie noch jung, Anfang zwanzig erst, aber schon geschieden und Mutter. Das Kind lebt bei den Großeltern außerhalb der Stadt. Sie lieben sich also und können doch die Distanz, die zwischen ihnen liegt, nicht überwinden, umtanzen und testen einander, haben guten Sex und bleiben einander dennoch fremd. „Zugegeben, ich habe mich oft gelangweilt, sie war oft bedrückt, an manchen Abenden saß ich ihr gegenüber, hörte Radio oder eine ihrer Schallplatten und wusste nicht, worüber ich mich mit ihr unterhalten sollte.“ Doch dann kommt ein anderer Mann ins Spiel, ein reicher Mann, der ihr einfach so 1000 Dollar bietet, wenn sie mit ihm ins Bett geht. Aber huch, wie könnte sie, wo sie doch einen Freund hat? Nur scheint es dem egal zu sein, und er sieht tatenlos dabei zu, wie er sie verliert, und dann, erst dann, als er sie verloren hat, merkt er, dass er sie liebt – und er leidet, doch das Leben ist weitergegangen und es ist zu spät.

Wisst ihr es noch, damals, diese eine Liebe, aus der nichts geworden ist, bei der man schon tief innen drin wusste, dass sie scheitern würde, und an der man trotzdem umso mehr festhielt? Der eine, auf den man nachts vor der Tür wartete, wegen dem man das Telefon nicht verlassen wollte? Von einer solch absurden, unausgeglichenen, sinnlosen Liebe handelt In Love von Alfred Hayes aus dem Jahr 1953. Dieses Buch ist die Wehmut selbst, in Worte gegossen, garniert mit Unfähigkeit und dem Schweigen, das uns so oft überfällt, wenn wir eigentlich von unseren Gefühlen sprechen sollten. Ein schmales, aber intensives Büchlein, in dem der Protagonist seine eigene Geschichte viele Jahre später in einer Bar einer fremden Frau erzählt – und dabei seltsam kühl und distanziert bleibt, sich fast schon lustig macht über sich selbst, seine Geliebte nur indirekt im Konjunktiv sprechen lässt und durch all dieses Abstandhalten erst recht zum Ausdruck bringt, wie sehr er all das bereut. Ein Roman über Unreife und Unfähigkeit, über das Scheitern und den Kummer darüber. Er und sie, seine einstige Liebe, sind Menschen, die ihre Gefühle lieber beobachten, statt sie zu empfinden. Trotz dieser Leichenstarre, die sich von dem Liebespaar auf den Leser überträgt, ist In Love packend, brillant, sehr empfehlenswert. Wer es gelesen hat, sollte sofort seine Liebe gestehen, all jenen, die nichts davon wissen.

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In Love von Alfred Hayes ist erschienen bei Nagel & Kimche (ISBN 978-3-312-00651-9, 144 Seiten, 17,40 Euro).

Noch mehr Futter:
– „Alfred Hayes addresses the human condition and its heartbreaks with brevity and brutal honesty“, heißt es auf ny.books.com.
– „Alfred Hayes Roman ist zart und melancholisch. In seiner hoffnungslosen Vergeblichkeit so überzeugend, das man ihn lesen muss, wenn man das gelegentliche Kranken an der Welt für einen notwendigen Urlaub von alltäglichem Zweckoptimismus hält. Beide Protagonisten, namenlos wie sie sind, scheitern wie wir alle an sich selbst und aneinander“, schreibt Sophie von Literaturen.
– „Das besondere Raffinement von Hayes’ Komposition besteht darin, dass er seinen Helden einerseits durch dessen Sensibilität und Reflektiertheit über das Modell des «unzuverlässigen Erzählers» hinaushebt, ihn anderseits aber doch nicht ganz auf festen Boden stellt“, erklärt nzz.ch.

Für Gourmets: 5 Sterne

IMG_8241Ein 4.-Juli-Feuerwerk an Geschichten
Sie sind keine Amerikaner, denn ihre Wurzeln liegen in Weißrussland oder Israel, aber sie leben in den Staaten, sind ausgewandert, geflüchtet, oder wollen dorthin reisen. Amerika ist der rote Faden, von dem die unamerikanischen Figuren in Molly Antopols Geschichten zusammengebunden werden. Da ist der israelische Soldat, dem ein Bein abgenommen wird und dessen Freundin die geplante USA-Reise mit seinem Bruder antreten will, da ist der alternde Mann mit weißrussischen Wurzeln, der eine jüngere Frau heiratet und auf der Hochzeitsreise nach Kiew verliert, und da ist der nachlässige Vater, der mit Frau und Kind aus Prag geflohen ist und Jahre später Angst vor dem hat, was die Tochter in einem Theaterstück über ihn auf die Bühne bringen wird. Das ist übrigens meine Lieblingsgeschichte. Oder doch die Story von Talia und Tomer, die sich zum falschen Zeitpunkt ineinander verlieben? Oder die Geschichte von Alexi, der nach einem Jahr Gefängnis seinen Sohn zum ersten Mal wiedersieht … Ich kann es nicht sagen, ich mochte sie alle, jede Story, jede Seite, jeden Satz – ein ganzes Lieblingsbuch ist das geworden, von vorn bis hinten. Ein neues Juwel in meiner Ich-entdecke-Kurzgeschichten-für-mich-Schatzkiste.

Aufgefallen ist mir Die Unamerikanischen von Molly Antopol in der Frühjahrs-Vorschau von Hanser Berlin, allerdings nicht wegen des (ja doch eher hässlichen) Covers, sondern weil die Autorin so hübsch ist. Da musste ich zweimal hinschauen, das wollte ich lesen, und als Hanser-Lektorin Tatjana Michaelis beim Bloggertag genauso von den Erzählungen schwärmte wie die Klappentexterin, war ich sowieso schon total angefixt. Und Molly Antopol kann all diese hohen Erwartungen erfüllen – mit Leichtigkeit und mit Verve. Sie schreibt klug und pointiert, beweist eine erstaunlich scharfe Beobachtungsgabe und ein feines Gespür für zwischenmenschliche Beziehungen. Ihre Geschichten regen ebenso zum Nachdenken wie zum Schmunzeln an, denn sie scheinen mir bei aller Ernsthaftigkeit auch ein bisschen zuzuzwinkern. Was kann ich noch sagen, damit ihr dieses Buch lest? Denn ich will unbedingt, dass ihr es tut! Es ist großartig, schön, wehmütig, intelligent und einzigartig. Ihr werdet es nicht bereuen, ich verspreche es.

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Die Unamerikanischen von Molly Antopol ist erschienen bei Hanser Berlin (ISBN 978-3-446-24771-0, 320 Seiten, 20,50 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

IMG_8251Eine Hinrichtung in der Dunkelheit Islands
Wir schreiben das Jahr 1829, und das Leben in Island ist hart, geprägt von langen, gefährlichen Wintern, in denen ganze Familien erfrieren, von Armut, Arbeit und Einsamkeit. Einzig die Religion scheint eine Zuflucht zu bieten für die Herzen der Menschen. Das gilt auch für den jungen Assistant Reverend Thorvardur, der plötzlich vor der größten Herausforderung und Glaubensprüfung steht: Die verurteilte Mörderin Agnes Magnúsdóttir hat seinen Beistand erbeten. Er soll ihr in der Zeit vor ihrer Hinrichtung zur Seite stehen. Agnes, so heißt es, habe zusammen mit einem anderen Dienstmädchen und dessen Liebhaber den Herrn des Hauses, Natan, ermordet. Dafür droht ihr die Todesstrafe, doch bis es soweit ist, wird sie auf dem Hof Kornsá untergebracht, wo sie bereits als Kind gearbeitet hat. Die Menschen haben Angst vor ihr, doch die Hofherrin und die Töchter behandeln sie so normal wie möglich und nutzen vor allem ihre Arbeitskraft. In den dunklen Nächten erzählt Agnes ihre Geschichte. Sie hat Natan geliebt. Und sie will nicht sterben.

Der Roman Burial Rites der Australierin Hannah Kent ist auf sehr kuriose Weise entstanden: Eigentlich handelt es sich dabei um eine Studiumsabschlussarbeit. Als die Autorin 17 Jahre alt war, verbrachte sie ein Austauschjahr an einem abgeschiedenen Ort in Island, wo sie zum ersten Mal die wahre Geschichte von Agnes Magnúsdóttir hörte: Sie war die letzte Frau, die in Island hingerichtet wurde. Viele Jahre später war Hannah Kent immer noch fasziniert von Island und von Agnes, und sie beschloss, ihre Abschlussarbeit über sie zu schreiben. Sie recherchierte zwei Jahre lang in Archiven, Kirchen und auf Höfen. Dann setzte sie sich hochdiszipliniert jeden Tag an den Schreibtisch und verfasste ihr Manuskript, mit dem sie später den Writing Australia Unpublished Manuscript Award gewann – und das Buch wurde veröffentlicht.

Die Mischung aus Realität und Fiktion ist Hannah Kent ausgezeichnet gelungen. Man merkt dem Roman an, dass sie tief in die Geschichte und die wahren Fakten eingetaucht ist, all das wirkt sehr fundiert. Obwohl sie keine Isländerin ist, kennt sie sich erstaunlich gut mit dem Land, der Sprache und den Menschen aus – inzwischen lebt sie wohl auch dort. Ebenso glaubwürdig und dicht gewebt sind aber auch die fiktionalen Teile: War es so, hat Agnes Natan geliebt? Ist sein Tod tatsächlich so geschehen? Wir werden es nie erfahren, aber es klingt durchaus plausibel. Burial Rites ist die Geschichte einer Frau, die eine schwere Kindheit und ein hartes Leben hatte ohne Aussicht auf Glück, die stets fremdgesteuert war und schließlich einem grausamen Ende entgegenblickt. Die von allen gefürchteten Mörderin ist ein Mensch mit Ängsten und Sehnsüchten. Fasziniert haben mich die unheimliche, fast gruselige Atmosphäre, das Dunkel, die Furcht, der Schnee, die durch die Seiten kriechen und mich frösteln lassen. Ein sehr besonderes und sehr gutes Buch.

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Auf Deutsch ist Burial Rites von Hannah Kent unter dem Titel Das Seelenhaus bei Droemer Knaur erschienen.

Noch mehr Futter:
– „Kent hat sich mit dem Schicksal der Agnes Magnúsdóttir nicht nur dem Leben einer bedauernswerten Frau gewidmet. An ihrem Schicksal und dem der Menschen, denen sie begegnet, zeichnet sie ein eindrucksvolles Bild einer unsäglich armen und entbehrungsreichen Lebens, in dem der Tod täglich reiche Ernte hält…“, schreibt Flattersatz.
– „Dieser Roman geht unter die Haut und wahrlich erreicht Agnes eine gewisse Unsterblichkeit und dieses Buch bleibt seinen Lesern einfach unvergesslich“, heißt es auf lesefieber.ch.

Gut und sättigend: 3 Sterne

IMG_8243„Aber ich habe in letzter Zeit selbst vieles gemacht, was mich schockiert“
Es ist fast 30 Jahre her, dass die blutjunge Emilie vergewaltigt und erwürgt wurde. Nun hat man durch einen DNA-Abgleich den mutmaßlichen Täter gefunden. Der Journalist Marc Rappaport, bekannt für seine Aufdeckerreportagen, interessiert sich aufgrund einer undefinierbaren inneren Getriebenheit für die Geschichte und recherchiert, obwohl sein Freund, Chefredakteur Pierre, nicht dafür ist. Zuerst findet er lange nichts, doch dann stößt er auf ein wahres Wespennest: Politische Verstrickungen, ein skrupelloser Konzern, Antisemitismus, Arbeitsplätze und viel Geld spielen im Hintergrund eine Rolle. Marc will nun nicht mehr nur Emilies Tod aufklären, sondern auch den betroffenen Menschen helfen – und greift dafür zu einigermaßen radikalen Mitteln …

Die deutsche Autorin Gila Lustiger, die seit 1987 in Paris lebt, hat mit Die Schuld der anderen ein Buch geschrieben, das sich irgendwo zwischen Krimi, Thriller und Gesellschaftskritik befindet. Obwohl es darin um einen verjährten Mordfall mit politischer Brisanz geht, steht eigentlich Protagonist Marc im Vordergrund. Alles dreht sich um ihn, das Rätsel tritt zum Teil in den Hintergrund. Er ist ein verkopfter, komplizierter Mensch und kann praktisch keine Sekunde des Tages aufhören zu denken. Er seziert alles, seine Gefühle für Freundin Nora, seine Beziehung zum Großvater, der ein hohes, mächtiges Tier war, seine Freundschaft zu Pierre, die Gründe, warum er Journalist geworden ist … und so weiter. Es ist nicht möglich, dieses Gedankenkarussell abzustellen, und das ist für Marc und mich recht anstrengend. Für des Rätsels Lösung ist sein Getriebensein freilich ein Vorteil. Denn wie es immer ist in diesen Kriminalgeschichten: Nur wer unablässig bohrt, findet unter all den Dreckschichten die Antworten.

Die Schuld der anderen ist ein gut lesbares, flüssig geschriebenes und trotz der komplizierten Story auch schlüssiges Buch. Ich war sehr gespannt darauf, wer Emilies Mörder war und wie ihr Tod mit den anderen Ereignissen, die ich natürlich nicht verraten will, zusammenhängt. Insgesamt war mir das Buch aber einfach zu überladen, voller Baustellen, roter Fäden und Spekulationen. Dass es der Autorin da noch gelungen ist, den Überblick zu wahren, ist bewundernswert. Marc hätte ich mir ein wenig lässiger und nicht so bis zum Rand abgefüllt mit Moral gewünscht, aber das ist freilich sehr subjektiv – für andere ist er vielleicht der Traummann schlechthin. Das Ende ist ein schöner, stimmiger Schlag in sein selbstgefälliges Gesicht, auch wenn ich mir bis heute nicht sicher bin, ob ich der Autorin eine solche Wendung wirklich glauben soll.

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Die Schuld der anderen von Gila Lustiger ist erschienen im Berlin Verlag (ISBN 978-3-8270-1227-2, 496 Seiten, 22,99 Euro).

Bücherwurmloch

IMG_0711Ich weiß nie, was ich kriege.
Meine Planlosigkeit ist hier, in meinem Umfeld, legendär. Ich schaffe es nie, mir was zu essen mit in die Agentur zu nehmen, ich denke zwei Tage vor einer 30er-Feier über Spiele und Deko nach, ich besorge erst dann die Abschiedsgeschenke für die Kindergartentanten, wenn die schon in den Sommerferien sind. Und genauso gut vorbereitet lese ich auch Bücher. Falls ihr euch jetzt fragt, wie ich das meine: Mir passiert es immer wieder, dass ich während der Lektüre total überrascht davon bin, worum es da eigentlich geht. Das liegt daran, dass ich bei der Wahl meiner Bücher ziemlich willkürlich bin – und vor allem überaus vergesslich. Wenn ein Roman mich interessiert, lege ich ihn auf die Wunschliste, und bis ich ihn dann lese, kann viel Zeit vergehen. Da hab ich dann keine Ahnung mehr, was mich daran reizte. Außerdem beschäftige ich mich im Vorfeld überhaupt nicht mit einem Buch, ich lese keine Rezensionen bzw. überfliege sie nur, ich recherchiere nicht über den Autor oder sonstwas.

Kürzlich hab ich Ein Pakt fürs Leben von Fabio Stassi gelesen und dachte erst mal: Wie bitte, Charlie Chaplin?! Dabei ist der ja sogar vorn auf dem Cover. Dass Neil Gaimans Ozean am Ende der Straße so viel Fantasy enthält, hätte mich auch nicht derart verwundern müssen. Und dass ich so dermaßen fassungslos war, als ich kapiert habe, worum sich die Story von Karen Joy Fowlers We are all completely beside ourselves wirklich dreht, ist auch nur dem Umstand geschuldet, dass ich mich an die Besprechung dazu in der New York Times nicht mehr erinnern konnte.

Das sind nur drei Beispiele, so geht es mir andauernd. Vielleicht lacht ihr mich jetzt aus oder denkt euch – wie ich hoffe –, dass mich das auch ein klein wenig sympathisch macht. Und dass ich dank meiner Planlosigkeit mehr Spannung und Spaß im Leben habe.

Aber nun sagt mir: Wie ist das bei euch? Ist euch bei jedem Roman klar, worauf ihr euch da eingelassen habt, oder seid ihr auch manchmal so vor den Kopf gestoßen wie ich? Ich spreche nicht vom Handlungsverlauf oder verblüffenden Wendungen, sondern von so was wie dass ihr die Bibel in die Hand nehmt und euch erst mal verwundert am Kopf kratzt: Wie jetzt, Gott?

Mit einem ironischen Augenzwinkern von
Mariki

P. S.: Bevor ihr euch jetzt Sorgen macht, lasst euch versichern, dass meine Kinder immer tipptopp versorgt werden, pipifeines Butterbrot in der Früh, saubere Unterhosen, pünktliches Erscheinen bei Spieldates. Und der Inhalt von Räuber Hotzenplotz oder Grüffelo überrascht mich keineswegs.

Gut und sättigend: 3 Sterne

IMG_8161Alt und Jung auf einer Reise in die Vergangenheit
Hannas Mutter ist im Alter von 100 Jahren gestorben. Hanna, die sie gepflegt hat, ist selbst schon 80 und nutzt die wiedergewonnene Freiheit für einen letzten Ausflug. Sie fährt von Wien nach Bayern, wo sie als junges Mädchen im Krieg auf einem Bauernhof untergebracht war. An ihrer Seite ist Michael, ein arbeitsloser Schauspieler, der seinem Freund Ernst nachtrauert und der Hanna flüchtig aus seiner Kindheit kennt. Damals schaukelte er auf dem Spielplatz, während Hanna sich mit seiner Mutter unterhielt. Die hat ihn später beim Vater zurückgelassen, und Michael hofft, während des Roadtrips mehr von Hanna über seine Mutter zu erfahren. Dummerweise ist er jedoch zu feig, sie zu fragen. Am Ziel angekommen, merken alle Beteiligten, dass das Vergangene längst vorbei ist und nichts sich mehr ändern lässt.

Kennt ihr den Film Frau Ella mit Matthias Schweighöfer? Den hatte ich beim Lesen permanent vor Augen. Das war einerseits ganz angenehm, weil das ein recht netter Film ist, führte aber andererseits zu dem Gefühl, es nicht unbedingt mit einer originellen Geschichte zu tun zu haben. Kurz vor dem Tod sucht ein alter Mensch ein letztes Mal Kontakt zu einer Jugendliebe, und ein junger Mensch fährt mit, um dabei etwas fürs Leben zu lernen und es umzusetzen, weil er ja selbst noch Zeit hat – das ist das Patentrezept vieler Bücher und Filme. Der junge österreichische Autor Jürgen Bauer macht es sich zunutze und stellt zwei Figuren zu einem Roadtrip-Duo zusammen: die resolute Hanna, die ihr Leben lang nur geschuftet hat, und den antriebslosen Michael, der nichts tut, als sich selbst zu bemitleiden. Dazu kommt noch die gehässige Elvira, eine 08/15-Schattenexistenz, die sich für was Besseres hält als alle anderen.

Das Fenster zur Welt ist gut geschrieben, und ich hab es gern gelesen. Allerdings schafft der Autor es in meinen Augen nicht, die Vorlag in ein Tor des Jahres zu verwandeln – der Ball rollt eher langsam und fast zufällig ins Netz. Etwas enttäuscht bin ich von diesem alles verklebenden Schweigen, das mich mit offenen Fragen zurücklässt. Warum musste Hanna ihren Mann verlassen, was hat er getan? Wieso kennen nicht einmal ihre Kinder den Grund? Was bedeutet es, dass ihr Sohn dort ist, wo er ist, weil sie „so ehrlich“ war, hat sie ihn verraten? Und warum darf ich all das nicht erfahren, soll das eine Demonstration dessen sein, wie wenig Hanna ihrer Familie anvertraut hat? Für mich wären diese und weitere Punkte essenziell für die Geschichte gewesen. Zudem muss ich ausnahmsweise etwas erwähnen, worüber ich ansonsten immer schweige, aber es ist wirklich verblüffend, wie viele sie/Sie-Fehler man in einem so schmalen Buch unterbringen bzw. als Lektor übersehen kann. Das Ende kommt ein wenig abrupt daher und bietet in Sachen Michael nichts Überraschendes. Aber nun ja: Ein Tor ist trotzdem ein Tor.

Das Fenster zur Welt von Jürgen Bauer ist erschienen im Septime Verlag (ISBN 978-3-902711-25-0, 176 Seiten, 17,90 Euro).

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Noch mehr Futter:
– „Die Liste an literarischen Roadtrips als metaphorische Reisen in vergangene Innenleben ist lang, und doch büßt die doppelte Sinnsuche der Protagonisten in diesem Text nichts von seiner tiefgründigen Absicht und seinem Charme ein, denn die Spannung beruht zum Großteil auf den Ereignissen, die sich rundherum abspielen“, heißt es in der Rezension vom Literaturhaus Wien.
– „Jürgen Bauers Debütroman Das Fenster zur Welt – ein Buch von Liebe und Abschied – hat stellenweise eine gute Portion Humor, ist trotz allem ein sehr innerliches Buch“, schreibt das titel-kulturmagazin.
– „Wer eine locker-leichte Lektüre erwartet, ist hier falsch, denn die Abzweigungen im Leben, über die zwischendurch diskutiert wird, führen auf beiden Seiten in ein farbloses und vor sich hin plätscherndes Dahinvegetieren, das keine Höhepunkte kennt. Leider bleiben dadurch auch die Gefühle auf der Strecke, die einen Leser normalerweise an einen Roman fesseln“, stellt lazyliterature.de fest.

Für Gourmets: 5 Sterne

IMG_8167„We call them feelings because we feel them. They don’t start in our minds, they arise in our bodies“
Dies ist die Geschichte von Rosemary und ihrer Schwester Fern, von ihrem Vater, dem Wissenschaftler, und von ihrem Bruder, dem Aktivisten, der vom FBI gesucht wird. Dies ist die Geschichte eines Experiments, wie es in den 1970er-Jahren beliebt war, und eines Vorfalls, der alles veränderte, als Rose fünf Jahre alt war. Dies ist eine Geschichte von Menschen und Tieren und all den unfassbaren Grausamkeiten, die die einen den anderen antun. Dies ist eine Geschichte, die euch das Herz brechen wird.

Ich habe mir sagen lassen, dass der deutsche Klappentext verrät, worum es in Karen Joy Fowlers siebtem Buch geht. Beim englischen Original ist das nicht der Fall. Theoretisch hätte ich es wissen können, aber vom Auf-die-Wunschliste-Legen über das Kaufen bis hin zum Lesen hab ich es längst vergessen. Umso größer war meine Überraschung nach dem ersten Drittel des Buchs, und das war ein so grandioser strategischer Zug der Autorin, dass ich mir wünschte, ihr könntet ihn ebenso erleben. Deshalb werde ich nicht spoilern. Trotzdem möchte ich euch meine absolute Begeisterung für dieses Buch näherbringen. Es ist ein Porträt der Menschlichkeit und dem, was wir dafür halten, ein schmerzhaftes Aufdecken all der Verbrechen, die wir an Tieren begehen. We are all completely beside ourselves ist ein aufwühlender, intensiver Roman, eine Anklage, versteckt in einer guten Story, die vor allem von ihrem perfekten Aufbau lebt – weil er die Geheimnisse lange wahrt.

Erzählt wird diese Story von der jungen Rosemary, die sich zu erinnern versucht an ihre Schwester und deren Verschwinden, an ihre eigene Schuld und die schrecklichen Folgen. Aber ist es wirklich so geschehen, wie sie glaubt? „An oft-told story is like a photograph in a family album, eventually it replaces the moment it was meant to capture.“ Doch dann setzt sich das Puzzle langsam zusammen, und auf der letzten Seite, ja, da hab ich tatsächlich angefangen zu weinen. Und ein Buch, das das schafft, ist etwas Besonderes, eines, das ich so schnell nicht vergessen werde. Dieser Roman ist wie ein Schlag ins Gesicht, zutiefst beschämend. We are all completely beside ourselves zeigt, wie anmaßend, dumm und skrupellos wir Menschen sind. Könnte jeder ihn lesen, würde die Welt vielleicht ein bisschen besser werden.

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Auf Deutsch erscheint das Buch im Mai im Manhattan Verlag unter dem Titel Die fabelhaften Schwestern der Familie Cooke. Bekannt wurde die Autorin vor allem durch ihr Buch Der Jane Austen Club.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

„Nur in der Unordnung der Liebe ist jedes Akrobatenstück möglich“IMG_8170
„Die Komik ist Linkshänder, so wie ich“, schreibt Charlie Chaplin in einem fiktiven Brief an seinen jüngsten Sohn Christopher. Er erzählt ihm von seinem Leben in diesem Brief, von der Wahrheit und all dem, was er nie jemandem gesagt hat. Es ist seine letzte Chance, zu berichten, denn der Tod sitzt quasi schon bei ihm im Zimmer. Seit Jahren hat Charlie einen Deal mit ihm: Bringt er den Tod, der ihn holen will, zum Lachen, darf er noch weiterleben. Doch heute, das spürt er, ist es an der Zeit, mitzugehen. Also taucht er noch einmal ein in seine Vergangenheit, in die Welt des Zirkus, in die Anfänge der Filmgeschichte und in den Beginn seiner eigenen, unvergleichlichen Karriere. Er erzählt von Charlie, dem jungen Mann, der von Europa nach Amerika und dort quer durchs ganze Land reist, der jeden Job macht, den man sich nur vorstellen kann, vom Buchsetzer bis zum Boxtrainer, und der schließlich durch Zufall zum Regisseur seines ersten umjubelten Films wird. Dies ist die Geschichte eines weltberühmten Mannes namens Charlie Chaplin, die so vermutlich nicht stimmt, dies ist die Geschichte der Zirkusartistin Eszter und des Schwarzen Árlequin, der aus Liebe zu ihr den Film erfunden hat, eine Geschichte von Freiheit und Verlust, von unmöglichen Zufällen und unsterblichen Gefühlen.

Dem italienischen Autor Fabio Stassi ist mit seinem vierten Roman Ein Pakt fürs Leben ein Meisterwerk gelungen. In einer perfekten Mischung aus Realität und Fiktion porträtiert er einen Mann, dessen Gesicht alle Welt kennt: Charlie Chaplin. Er tut dies so sanft, gewitzt und schlau, dass ich ihm jedes Wort glaube. Vielleicht hat Charlie auf seinem Weg zum internationalen Erfolg wirklich all das erlebt, was Fabio Stassi schildert? Er erzählt von einer Welt, die es lang schon nicht mehr gibt: als es Wochen dauerte, mit dem Zug zu reisen, als man noch Briefe schrieb und Filme stumm waren. Liebte man sich damals intensiver, weil es so leicht war, sich für immer aus den Augen zu verlieren? Amüsierte man sich im Zirkus und im Kino mehr, weil die Auswahl an Zerstreuungen so klein war? Ich weiß es nicht, aber während der Lektüre dieses Buchs kommt es mir so vor. Es staubt in der Manege, es wuselt in Charlies Filmen, es stinkt, die Mägen knurren, die Frauen sind an dem dürren, kleinen Kerl nicht interessiert. Vom Glamour späterer Zeiten ist er noch weit entfernt.

Ich kenne Charlie Chaplin, wie jeder ihn kennt, mit großen Schuhen, weiter Hose und Melone, seiner legendären Verkleidung als „Vagabund“, aber ich weiß rein gar nichts über ihn. Umso mehr hat mich Ein Pakt fürs Leben fasziniert. Schade finde ich allerdings, dass der Autor den Anfängen von Charlies Karriere so viel Platz widmet und dann den Rest seines Lebens so eilig abhandelt. Nach all der Vorbereitung, dem Reisen, dem Hunger und dem Suchen hätte ich gern erfahren, wo Chaplin schließlich ankam und wie es ihm erging. Es ist die Rede von mehreren Ehefrauen, viel Geld und diversen Kindern – aber nur am Rande. Das hat mir das Ende ein wenig verleidet, aber immerhin dazu geführt, dass ich im Internet ein bisschen über Chaplin gelesen habe, um mehr über ihn zu erfahren. Ein Pakt fürs Leben ist ein wehmütiges, sentimentales Buch, das ich euch unbedingt empfehlen will. Je mehr ich vom Kein & Aber Verlag lese, umso begeisterter bin ich. Schöner Verlag, grandioses Buch!

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Ein Pakt fürs Leben von Fabio Stassi ist erschienen im Kein & Aber Verlag (ISBN 978-3-0369-5677-0, 336 Seiten, 20,50 Euro).

Noch mehr Futter:
– „Hauptfigur ist Charlie Chaplin. Man weiß viel über ihn, und doch gibt Lücken, angefangen bei seiner Kindheit in London, beim Zirkus. Fabio Stassi hat sie gefüllt. Er hat sie mit Poesie gefüllt“, schreibt kurier.at.
– „Mit dieser hochpoetischen Lesart von Filmgeschichte, die sämtliche Tatsachen zugunsten von betörender Verträumtheit ignoriert, kommt Stassi dem Herz wie Sinn des Kinos überwältigend nahe“, heißt es auf literaturkritik.de.
– „Indem Stassi eine ganz individuelle Interpretation des großen Komikers gibt, weist er uns über seine raffinierte Konstruktion auf etwas hin, das wir längst wissen: Genau wie Charlie Chaplin sind auch wir nichts als umherstolpernde Clowns, die versuchen sich, so gut es geht, im Kreis der Manege zu behaupten – mit todsicherem Ausgang“, kommentiert kulturfinder-bw.de.

Bücherwurmloch

Gewinn1Es ist soweit: Die Gewinner stehen fest!
Vielen Dank, dass ihr mitgemacht und euch so nette kleine Geschichten ausgedacht habt! Ich musste tatsächlich bei einigen schmunzeln und es waren viele fantasievolle Kreationen dabei. Sieben Preise gab es zu gewinnen, und um sie auszulosen, habe ich die Namen aller Teilnehmer auf Zettel geschrieben und meinen Sohn ziehen lassen. Der ist als Glücksfee garantiert unparteiisch, der kann nämlich noch gar nicht lesen. Und hier kommen die Gewinner:

Je 1 Büchertagebuch und 1 Tragetasche gehen an:
Cloudy, Langsatz und Caroline
Drei auf Reisen bekommt Gabriele Ritter
Wurfschatten ist für Katrin
Die Gierigen gewonnen hat Buchcoaching
Und Der letzte Ort geht an Sand Ra.

Bitte meldet euch innerhalb von 14 Tagen bis zum 22. Februar auf meiner Facebook-Fanseite oder unter office_at_mareikefallwickl.at.

Herzlichen Glückwunsch und viel Vergnügen mit den Büchern!

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