Gut und sättigend: 3 Sterne

Das-Fest-des-Windrads1„Schöner wär’s, wenn’s schöner wär“
Greta ist Managerin und auf dem Weg nach Mailand, wo sie sich ihre wohlverdiente Beförderung abholen will. Bloß kommt Greta nie im schicken Mailänder Restaurant an, weil ihr Zug liegen bleibt – und zwar ausgerechnet in Oed. Was es dort gibt? Nix. Das ist ja das Problem. Und Taxifahrer Jurek fragt sich, was ihn hier hält im halbfertigen Haus seiner verstorbenen Eltern, ohne seine Ex-Frau und die mittlerweile erwachsene Tochter. Er macht als einziger Oeder Taxler kleine Fahrten und wünscht sich, endlich mal wieder bei einer Frau zum Schuss zu kommen – was ihm Gretas plötzliches Auftauchen vermasselt. Die erleidet erst einmal einen Schock. Und fängt dann an, sich völlig neu zu orientieren. Bis zum Fest des Windrads ist sie ein neuer Mensch.

Für ihren zweiten Roman hat die österreichische Autorin Isabella Straub das Provinznest Oed am Tiefen Graben als Kulisse gewählt. Dort wird Protagonistin Greta ausgebremst – und zwar im wahrsten Sinn des Wortes. Sie ist ein Highspeed-Leben gewohnt und kommt erst einmal nicht mehr vom Fleck. Diese Zwangspause sorgt dafür, dass sie einen neuen Sinn finden muss. Ihr Gegenspieler ist der Taxifahrer Jurek, in dessen Leben die unerwartete Begegnung ebenfalls eine Veränderung auslöst. Nun ist es so, dass der Klappentext bereits sagt, dass Das Fest des Windrads keine Liebesgeschichte ist. Ich hab mir aber ehrlich gesagt trotzdem eine erwartet. Irgendeine! Wenigstens eine kleine! Aber nö. Stattdessen ist dies eine richtig abstruse Story über Burn-out und Wunschvorstellungen, über Enttäuschungen und eine Versicherung vor dem Unglücklichsein. Alle im Roman auftretenden Figuren haben einen Knall. Deshalb ist das Buch eher auf der witzigen Seite unterwegs, schafft aber den Sprung zu fiesem Sarkasmus nicht. Es bleibt in der Mitte zwischen Klamauk und Gesellschaftskritik, bietet angenehme Unterhaltung – aber nicht mehr.

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Das Fest des Windrads von Isabella Straub ist erschienen im Blumenbar Verlag (ISBN 978-3-351-05017-7, 352 Seiten, 19 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

IMG_8463„Vielleicht kann man sich an jeden gewöhnen und ihn dafür lieben, dass er einen erträgt“
„Dieses Konzept der Ehe darf man doch mal überdenken, oder? Was spricht dagegen, dass die Person, mit der ich nicht verwandt bin, ein wenig Spaß hat? Gehört sie mir, weil wir ein Papier unterschrieben haben? (…) Bedeutet die Ehe nicht zwangsläufig das Ende aller Gefühle?“ Das fragt sich der gescheiterte Theaterregisseur Rasmus, und zwar aus einem konkreten Grund: weil seine Frau Chloe einen anderen fickt. Die beiden sind schon lange ein Paar, zusammengewachsen, aneinandergeklebt, symbiotisch. Der Sex zwischen ihnen war nie gut, weil Chloe zu den Frauen gehört, die nicht sagen können, was sie im Bett wollen – zumal sie es auch gar nicht so genau wissen. Rasmus fühlt sich seiner schönen Frau unterlegen, und aus Angst, ihr nicht zu genügen, kann er genau das eben nicht. Unter Drogeneinfluss erlebt Chloe eine Massage mit Happy End und verwechselt in ihrem ausgehungerten Zustand den chemischen Hormonrausch mit Verliebtheit. Dass es keine ist, kann sie natürlich erst herausfinden, wenn sie oft genug mit dem langhaarigen Masseur gevögelt hat. Das tut sie auch. Zuhause in ihrer Wohnung. Mit dem desperaten Rasmus daneben, der immer mehr verkümmert: „Ich habe angefangen zu onanieren. Das war mir immer ein Trost, es lenkt mich ab, stellt ein Gefühl her, wo Leere ist. Ich onaniere und denke an Chloe, und das leise Wimmern wird immer mehr zu einem Schluchzen. Etwas Erbärmlicheres als ein Mann, der sich bei der Vorstellung der Frau, die ihn nicht will, einen runterholt, fällt mir nicht ein.“

„Der Mensch ist für die Monogamie nicht geschaffen“, sagt meine Freundin immer. Ist ja quasi wider die Natur! Aber was tun, wenn man dann eben mal verheiratet ist und gefangen in den Zwängen von Gesellschaft und Moral? Sybille Berg hat eine Ehe auf den OP-Tisch gewuchtet und seziert sie mit chirurgischer Genauigkeit, ohne Narkose. Ihre beiden Protagonisten legen abwechselnd ihre Sicht der Dinge dar: das berufliche Scheitern von Rasmus, die mangelnde Leidenschaft, die Eifersucht. Schicht um Schicht entblättert und entblößt die deutsche Autorin einen Mann und eine Frau, zeigt ihre Triebe, ihre Ängste, ihre Sehnsüchte, ihre Körperlichkeit. Ich habe nie zuvor etwas von Sybille Berg gelesen, aber mir war freilich bekannt, dass sie sehr spitz, pointiert und klug schreibt – und dass sie polarisiert. Das hat sich für mich mit ihrem jüngsten Roman bestätigt, der obendrein herrlich sarkastisch ist. Jeder, der schon eine längere Beziehung geführt hat, wird sich darin wiederfinden. Garantiert! Selbst wenn er es sich vielleicht nicht eingestehen will. Ein großartiges, schonungsloses, unbedingt zu lesendes Buch!

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Der Tag, an dem meine Frau einen Mann fand von Sibylle Berg ist erschienen bei den Hanser Literaturverlagen (ISBN  978-3-446-24760-4, 256 Seiten, 20,50 Euro).

Noch mehr Futter:
– „Begeistert hat mich dieses Buch durch seine unglaubliche Wucht der Sprache. Klar, präzise, hemmungs-, scham- und schonungslos. Sibylle Berg muss sich nicht erst warmlaufen, sie langt sofort mit der Faust dorthin, wo es weh tut“, schreibt Sonja von lustzulesen.de.
– „Denn die Romane von Sibylle Berg muss man aushalten können! Ihre Figuren fragen sich beständig, warum das Leben so ist, wie es ist, und welchen Sinn das Ganze hat. Man könnte es sich auf dieser Welt schließlich so schön machen – aber man macht es nicht“, erklärt Wolfgang Tischer auf literaturcafe.de.
– Und hier könnt ihr euch den sehr amüsanten Trailer zum Buch anschauen.

Gut und sättigend: 3 Sterne

IMG_8384„Man lernt die Welt immer besser kennen, trotzdem wird das Staunen größer, nicht kleiner“
Julian ist 22 Jahre alt und hat soeben seine erste Trennung hinter sich gebracht. Obwohl er Judith nicht mehr liebt, wirft es ihn aus der Bahn, dass er jetzt ohne sie weitermachen muss. Er ist orientierungslos und verwirrt, findet keinen rechten Antrieb und setzt sich kein Ziel. Also verbringt er den Sommer erst einmal damit, sich um ein Zwergflusspferd zu kümmern. Es ist in Professor Behams Garten untergebracht, und Julian übernimmt den Job vorübergehend von Tibor, einem Freund, den er sehr mag und gleichzeitig beneidet: „In Tibors Leichtigkeit steckte eine Schönheit, die mir wirklich gefiel, aber sie bedrückte mich auch wegen der Hoffnungslosigkeit dahinter, die machte mich fertig.“ Das Flusspferd ist alles andere als leicht, schwer ist es und schwerfällig, behäbig, gleichgültig. Es frisst und schläft und stinkt. Und ihm dabei zuzusehen, hilft Julian, ein bisschen runterzukommen. Allerdings nur zum Teil, denn der Professor hat eine verdammt ansehnliche und interessante Tochter namens Aiko …

Auf der Leipziger Buchmesse habe ich bei einem Interview mit Arno Geiger zugehört und war sehr beeindruckt von dem schmalen Mann mit den pointierten Antworten. Er hat kurz über den Entstehungsprozess seines neuesten Buchs gesprochen, an dem er vier Jahre gearbeitet hat und das sich grundsätzlich von seinen vorigen Romanen unterscheidet – für die der Autor sich jeweils einen völlig neuen Blickwinkel angeeignet hat. Ich kenne davon nur Es geht uns gut, sein Debüt, mit dem er den Deutschen Buchpreis gewonnen hat, und das fand ich damals sehr gut. In Selbstporträt mit Flusspferd schreibt er über einen 22-Jährigen und tut dies so überzeugend, dass ich ihm jedes Wort und jede Regung glaube. Das ist das eigentlich Faszinierende an diesem Buch – dass es Arno Geiger derart gut gelungen ist, sich in einen Menschen am Beginn seines Erwachsenenlebens hineinzuversetzen.

Nun ist es allerdings so, dass die meisten Zwanzigjährigen – zumindest die, die ich kenne – so unfertige Persönlichkeiten sind, unkonzentriert, wabernd, haltlos, und damit nur bedingt interessant. Weil es da einfach noch nicht viel zu sehen gibt. Coming of Age, ja, natürlich, aber com doch bitte mal in die Gänge! Es ist einerseits grandios beschrieben, wie Julian vor sich hin sumpert, leidet, das Flusspferd beobachtet und um Aiko herumschwenzelt. Aber ein wenig eintönig ist es auf Dauer auch, und das finde ich schade, weil ich mir für das Buch mehr Drive, mehr Handlung, mehr Ergebnisorientiertheit gewünscht hätte. Was absurd ist, weil ein Zwanzigjähriger genau das alles eben nicht hat. Genausowenig wie ein Flusspferd. Auf jeden Fall gilt in Bezug auf Arno Geiger: lesen. Zur Not halt eines seiner anderen Bücher.

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Selbstporträt mit Flusspferd von Arno Geiger ist erschienen bei den Hanser Literaturverlagen (ISBN 978-3-446-24761-1, 288 Seiten, 20,50 Euro).

Noch mehr Futter:
– „Der Witz ist: Auf gewisse Weise hat Julian ein Flusspferd-Gemüt. Er ist ein Langweiler im Niedrigenergie-Modus, vor sich hin grübelnd über banale Lebensweisheiten, sinn- und ziellos wie eine Tschechow-Figur. Ein vom Aussterben bedrohtes Wesen in einer jungdynamischen, durchdesignten Gesellschaft“, heißt es auf spiegel.de.
– „Scheinbar passiert hier nicht viel: Ein 22-Jähriger hängt beim Erwachsenwerden fest, zwischen Frauen und Unsicherheiten. Arno Geigers Roman Selbstporträt mit Flusspferd erzählt von dieser Wartesaalstimmung – und trifft unser Gegenwartsempfinden“, schreibt zeit.de.

Bücherwurmloch

bücherei 1Wie haltet ihr es mit dem Behalten?
Machen wir uns nichts vor: Wir alle lesen viele Bücher. Verdammt viele. Bei mir sind es im Schnitt 100 Romane im Jahr. Die meisten von euch haben deswegen auch richtig viele Bücher zuhause. Ich nicht. Ich besitze nur ein einziges Regal, und ich habe letztens die Bücher darauf gezählt: Es sind ungefähr 300 (ich hab mich natürlich irgendwann gegen Ende ver-zählt). Ich hätte ja gern richtig viel Platz, riesige Bücherregale, staubige, vollgeräumte Zimmer, in denen es nach Papier riecht, und behagliche Sessel dazu. Stattdessen habe ich Kinder. Und die nehmen mir nicht nur mein Essen und meine Freizeit weg, sondern eben auch den Platz. Bis die endlich ausziehen, was nur noch circa 15 Jahre dauern dürfte, brauche ich einen Ort, an den ich meine Bücher geben kann, ohne dass es mir das Herz bricht.

Weil: So Bücher will ja keiner. Dabei sind die wunderschön! Neu! Sauber! Aber nein, ihr wisst es alle, ob ebay, rebuy, Momox oder wie sie alle heißen, man bekommt nur noch ein paar läppische Cent für die schönen Stücke. In meinem Freundeskreis erbarmt sich keiner, familienintern auch nicht, die Chancen, dass hier auf dem Land ein freigelassenes Buch mitgenommen wird, bevor es vom Regen weggeschwemmt wird, sind gering. Aber: Ich hab endlich ein neues Zuhause für meine Bücher gefunden. Eins, wo sie gern genommen, gut behandelt und vor allem noch sehr oft gelesen werden. Es ist die Bücherei in meinem neuen Heimatort.

Die Büchereidame kennt sich sehr gut aus, und die Regale sind für eine so kleine Landbücherei außerordentlich qualitätvoll bestückt. Das Schönste ist, dass meine kleinen Lieblinge sorgsam laminiert und mit einem NEU-Sticker versehen werden, sodass sie lächeln und leuchten und sich darauf freuen, von ganz vielen Leuten ausgeliehen zu werden. Einmal im Monat gehe ich meine Bücher besuchen, und meine Kinder nehme ich dann auch mit. Die geben dann ihre Stapel zurück und stöbern durch die Bilderbücher, während ich, wenn keiner hinsieht, ein bisschen über meine ehemaligen Schätze streichle. Es ist nämlich so: Man muss nicht alles besitzen. Ich habe den Reichtum all der Bücher, die ich gelesen habe, in mir. Und in meinem Blog. Aber ich will sie trotzdem in guten Händen wissen.

bücherei 2

Wie ist das bei euch? Was tut ihr mit all den gelesenen Büchern, verschenken, behalten, verkaufen? Könntet ihr euch vorstellen, euch davon zu trennen?

Für Gourmets: 5 Sterne

IMG_8339„Sie konnte hier nicht weg. Sie war ein Moos, das nur an diesen Mauern hielt“
„Sie schien ihr Haus nicht zu besitzen, es war wohl eher andersrum. Vera gehörte diesem Haus.“ Dabei ist die alte Frau hier gar nicht geboren, sondern durch ungewöhnliche Umstände zu dem Haus im Alten Land an der Elbe gekommen: Zusammen mit ihrer Mutter Hildegard stand sie 1945 im Alter von fünf Jahren als Flüchtling aus Ostpreußen vor der Tür – und war nicht im Geringsten willkommen. Hildegard heiratete kurzerhand Karl, den einzig übrig gebliebenen Sohn, schwer traumatisiert vom Krieg, doch sie hatte weder für ihn noch für das Leben auf dem Land Geduld. Sie lässt ihre Tochter bei ihm zurück, als sie weiterzieht, und so geht Vera eine Verbindung ein, kümmert sich um Karl, hält Wache in dem alten Haus, das voller Stimmen ist und sie nie schlafen lässt. Sie ist eigensinnig und störrisch, unbeliebt und zutiefst einsam. Da stehen viele Jahre später erneut zwei vor der Tür, die Zuflucht suchen: Veras Nichte Anne mit ihrem Sohn Leon. Sie kommen aus einem Hamburger Wohlstandsviertel, wo Anne soeben grandios an dem Versuch gescheitert ist, mit Christoph Vater, Mutter, Kind zu spielen. Sie steht ratlos vor den Scherben ihres Lebens, das nicht so verlaufen ist wie gedacht: Aus dem einstigen Musiktalent wurde eine Tischlerin. Nun zieht sie zu Vera aufs Land, wo viele Aussteiger sich in Manufactum-Jacken und mit selbstgekochter Marmelade von den Strapazen des Lebens in der Upper Class erholen, und macht sich daran, Veras Haus zu renovieren. Doch jede Veränderung an dem alten Gemäuer bewirkt auch eine Veränderung an den Menschen, die darin leben.

Da ich nicht weiß, ob ihr diese Rezension bis zum Ende lesen werdet, rufe ich jetzt sofort: LEST DIESES BUCH! Unbedingt! Es ist grandios, herrlich böse, schlau, witzig und verdammt gut – für mich sogar das bisher beste Buch in diesem Frühjahr. Für alle, die jetzt noch weiterlesen, kann ich meine Begeisterung noch ein wenig vertiefen und versprühen: Die Journalistin Dörte Hansen, selbst mit Plattdeutsch aufgewachsen, erzählt in ihrem ersten Roman auf erstaunlich schlichte Weise eine überaus vielschichtige Story: Wehmut und Sehnsucht schimmern darin, sie gehen einher mit dem Älterwerden und Zurückblicken, ihnen gegenüber stehen Durchbeißen und Hoffen, Weitermachen, Anpassen. Gewürzt wird diese höchst menschliche Zusammenstellung mit einer ordentlichen Portion Sarkasmus – und so schmeckt es mir am besten. Dörte Hansen kann alle Töne: die leisen, fast lautlosen, die wütenden, die perfiden. Virtuos entspinnt sie ihre Fäden, wickelt mich darin ein, sodass ich schneller und schneller umblättere und ihre Sätze inhaliere.

Vera ist ein Kaliber von Frau, außen hart und unnahbar, innen schwer verwundet. Schicht für Schicht wird sie entblättert, der vergebliche Wunsch nach der Aufmerksamkeit der Mutter taucht auf, die einstige Liebe zu Heinrich, der seit Jahrzehnten ihr Nachbar ist, die Angst vor ihrem Haus, das sie dennoch nicht verlassen kann. Anne ist viel weicher, nachgiebig, orientierungslos und sehr, sehr wütend – aber nur nach innen. Sie verabscheut die Hamburger Supermamis – und wirkt in dem Dorf im Alten Land selbst wie eine dieser 08/15-Großstadtmütter. Voller Ironie zeichnet Dörte Hansen die Figuren, die sich dort an der Elbe tummeln: die ehemaligen Werber und Banker, die auf dem Land plötzlich das „echte Leben“ zu entdecken meinen, allen voran Burkhard Weißwerth, die Bauern, die mit Gift düngen und die alten Fachwerkhäuser kaputtrenovieren – und beide Gruppen machen sich mit Vorliebe über die jeweils andere lustig. Wie die Autorin mit ihrem Burkhard verfährt, ist schlichtweg genial. Genau wie dieses ganze Buch, das ich dermaßen gut fand, dass es mir vorkommt, als sei es nur für mich allein geschrieben worden. Stimmt natürlich nicht. Ihr dürft es auch lesen. Tut es!

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Altes Land von Dörte Hansen ist erschienen im Knaus Verlag (ISBN 978-3-8135-0647-1, 288 Seiten, 19,99 Euro).

Noch mehr Futter:
– „Dieser Roman ist wohltuend anders. Keine Romantik. Klischeefrei. Starke, knorrige Charaktere. Eine Geschichte, die lange nachklingt, wie das Ächzen und Knarren in dem großen dunklen Bauernhaus“, zeigt sich ndr.de begeistert.
– „Alle Figuren in meinem Buch haben irgendwie mit dem Thema Heimat zu tun“, sagt Dörte Hansen im Autorentrailer.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

IMG_8340„Die Manege verändert die Menschen. Sie macht sie größer, heller und bedeutsamer, als sie sind“
Willkommen im Zirkus! Tretet ein, tretet ein! Was wir zu bieten haben? Ein Land aus ferner Zeit, das es nicht mehr gibt, die DDR, und Gift, jede Menge tödliches Gift! Zwillingsschwestern, denen nicht zu trauen ist, ein Feuer, seht nur, wie es lodert, zwei tote Kinder, Eifersucht und Angst. Das reicht euch nicht, nein? Dann betrachtet den jungen Mann, der verloren ist und im Zirkus eine Heimat findet, eine Frau namens Albina, die schön ist und schwierig, einen toten Direktor und einen alten Kapellmeister. Einer von ihnen hat falsch gespielt. Einer von ihnen war ein Spitzel. Und alle anderen lösen das Rätsel. Kommt her, setzt euch, wir reisen in die Vergangenheit, seid wachsam, seid bereit, alles beginnt im Jahr 1979, als ein kleiner Junge seine Geschwister verliert …

Pakete an Frau Blech ist ein richtig gutes Buch: mitreißend, klug und amüsant. Der deutsche Autor hat sich für seinen zweiten Roman eine wilde, spannende Story ausgedacht, in der so einiges aufgeklärt werden muss: Es geht um mehrere Morde, um die Stasi und um viel Geld. Den Rahmen bildet die untergehende Welt der Zirkusunterhaltung, die noch einmal auflebt, in der Gegenwart aber längst unwichtig geworden ist. Maik, Albina und Pjotr, deren Freundschaft einst in der gemeinsamen Zeit in diesem Zirkus begründet wurde, haben ein persönliches Interesse daran, die Wahrheit aufzudecken. Alberto Bellmonti, der Direktor, ist gestorben, und sein Begräbnis führt sie wieder zusammen. Doch in die schönen Erinnerungen mischt sich auch Mysteriöses, und schon bald wird klar, dass nichts so gewesen ist, wie es einst den Anschein hatte.

Mich faszinieren Bücher aus dem Dunstkreis der DDR ungemein, weil ich als (einigermaßen junge) Österreicherin so gar keine eigenen Erfahrungen damit habe. Ich habe stets den Eindruck, als sei dort – wie in diesem Roman – quasi alles möglich gewesen, Unterschlagung, Enteignung, Mord, Identitätswechsel. Aus einem solchen Stoff kann man freilich gute Bücher schreiben. Mein einziger Kritikpunkt an Pakete an Frau Blech ist, dass die Geschichte stellenweise doch ein wenig hanebüchen daherkommt und ich die Erklärungen am Ende nicht zur Gänze glaubwürdig finde. Das tut dem Vergnügen aber nicht allzu viel Abbruch, denn Rolf Bauerdick bietet gute Unterhaltung auf hohem Niveau. Ich habe das Buch regelrecht verschlungen – und wünsche euch viel Spaß damit!

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Pakete an Frau Blech von Rolf Bauerdick ist erschienen in der DVA (ISBN  978-3-421-04645-1, 416 Seiten, 21,99 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

IMG_8344Die Geschichte einer Entjungferung
„Auch wir wollten wir benebelt sein von Sex, wollten schamlos sein, dreist, ungeniert. Wir wollten anbeten und angebetet werden.“ So geht es all den Schülern an der Auburn Academy, einem Internat an der Ostküste Amerikas. Sie sind 16 Jahre alt und neugierig auf Sex, sie wollen alles ausprobieren, erfahren, erkunden, spüren. Aviva und Seung sind ein Paar, süß und keusch einerseits, wild und ungestüm andererseits. Sie küssen sich stundenlang, jeden Tag, überall, mmer wieder, wie man es nur tun kann, wenn man sehr jung ist, sie streicheln und entkleiden sich. Sie sind dabei nicht unbedingt vorsichtig, und die Restriktionen lassen nicht lang auf sich warten. Die anderen Schüler sind neidisch und hungrig, allen voran Bruce Bennett-Jones, der selbst was von Aviva will, sich ihr aber immer nur gewaltsam nähert. Und dann geht Aviva aufs Ganze, sie will mit Seung schlafen. Damit setzt sie Ereignisse in Gang, die tragisch enden.

In Die Unberührten von Pamela Erens geht es um Sex. Und zwar um Sex, der nicht stattfindet. Noch nicht. Um Sex, der herbeigesehnt und erträumt wird. Die Protagonisten des zweiten Romans der amerikanischen Autorin sind unerfahrene Teenager, The Virgins, wie der Originaltitel heißt. Sie umgarnen sich, sind nicht wirklich verliebt, glauben das aber natürlich, weil die Hormone durch ihr Blut rauschen, weil sie völlig verwirrt sind von den vielen neuen Sinneseindrücken. All dies lässt Pamela Erens von einem Außenstehenden erzählen, von einem eifersüchtigen Dritten, dessen Bericht gefiltert ist von Neid und Missgunst.

Die Unberührten ist ein gutes Buch. Aber es ist auch ein wahnsinnig pathetisches Buch. Das passt, weil man mit 16 Jahren alles viel zu ernst nimmt, alles nur in Schwarz und Weiß sieht, überdreht ist und ahnungslos, weinerlich, viel zu emotional. Nun bin ich aber bereits fast doppelt so alt, und auch wenn ich mich an die Gefühle von damals erinnern kann, sind sie mir heute fremd. Mehr als einmal schüttle ich verständnislos und genervt den Kopf über Aviva und Seung. Über das Ende kann ich nur sagen: Ich hab es kommen sehen, aber ganz glauben will ich es trotzdem nicht. Pamela Erens hat sich ein sehr spezifisches Thema ausgesucht und es glänzend umgesetzt. Allerdings gibt es im Buch kaum Platz für etwas anderes als für endlose Küsse, und das hat mich letztlich ein bisschen enttäuscht.

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Die Unberührten von Pamela Erens ist erschienen bei C. H. Beck (ISBN 978-3-406-67543-0, 297 Seiten, 19,95 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

IMG_8336„Mögen die Scharniere unserer Freundschaft niemals rosten“
Als Eva 12 Jahre alt ist, lässt ihre Mutter sie im Haus des Vaters mit einem Koffer und ohne ein Abschiedswort zurück. Dort lernt sie ihre vier Jahre ältere Halbschwester Iris kennen, die alles tut, um in Hollywood Erfolg zu haben. Dorthin ziehen die Schwestern tatsächlich, doch der Stern von Iris wird jäh abgeschossen, bevor er richtig steigen kann. Der Zweite Weltkrieg ist entbrannt, und nun müssen Eva und Iris zu Überlebenskünstlern werden, was ihnen dank einer reichen Familie gelingt. Als bunt zusammengewürfelte Gemeinschaft mit dem Vater, einer schwarzen Sängerin, einem Waisenkind und einem schwulen Visagisten schlagen sie sich durch – bis ein schrecklicher Unfall sie auseinanderreißt …

Wir Glücklichen von Amy Bloom lag schon als Original Lucky Us auf meinem Wunschzettel. Umso mehr hab ich mich gefreut, dass der Atlantik Verlag es auf Deutsch herausgebracht hat. Ich kannte bisher nichts von Amy Bloom, die bereits zahlreiche Romane veröffentlicht hat. Für ihre Geschichte über zwei Schwestern im Amerika der 1940er-Jahre hat sie die kleine, unscheinbare Eva als Erzählerin gewählt, den uninteressantesten Charakter von allen: „Mein Vater war ein Becher der Etikette und der großen Ideen gewesen, Iris war eine Vase des Glamours, und ich war der kleine braune Krug der Sorge.“ Es ist ein Phänomen solcher Geschichten, dass sie immer von der farblosesten Figur erzählt werden, Vielleicht, um die anderen Charaktere – in diesem Fall die schönere, talentiertere Schwester – mehr strahlen zu lassen. Ganz so langweilig ist Eva eh nicht, immerhin legt sie Tarotkarten, um Geld zu verdienen, und hält die ganzen Scherben zusammen, als alles zerbricht.

Im Klappentext heißt es: „Bis Iris eines Tages zu weit geht und alles aufs Spiel setzt.“ Das stimmt so nicht. An den Ereignissen trägt Iris nur indirekt Schuld bzw. sie leidet darunter am meisten. Auch ist es nicht unbedingt wahr, dass zwischen den ungleichen Schwestern eine enge Freundschaft entsteht. Vielmehr handelt es sich um eine Art Zweckgemeinschaft, bei der man sich zufällig auch einigermaßen gut leiden kann. Alles in allem bietet Wir Glücklichen feine Unterhaltung, ausgezeichnet geschrieben, leicht kitschig, mit überraschenden Wendungen und einem perfekt passenden Ende. Besonders amüsiert haben mich die höchst ironischen Briefe von Gus, einem Mann, den Eva kennt und der unter gefährlichen Umständen während des Krieges nach Deutschland gebracht wurde. Empfehlenswert!

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Wir Glücklichen von Amy Bloom ist erschienen im Atlantik Verlag (ISBN 978-3-455-60029-2, 300 Seiten, 22 Euro).

Noch mehr Futter:
– „Amy Bloom, selbst praktizierende Psychotherapeutin, hat mit “Wir Glücklichen” eine Geschichte geschrieben, die vor keiner Emotion Halt macht. Weder bei den Protagonisten, noch beim Leser. Figuren, die sich aus den Seiten heraus direkt ins Herz des Lesers schleichen. Figuren, denen man plötzlich alles verzeiht, egal welche Dummheit sie auch begangen haben. Der Krieg, der seinen Schrecken wie einen Schatten über den Seiten schweben lässt, und den man einfach nicht mehr los wird“, schwärmt frauhauptsachebunt.
– Hier findet ihr eine Leseprobe des Romans.

Gut und sättigend: 3 Sterne

IMG_8335Rebellentum ohne Tiefgang
„Es war Mitte der fünften Woche. Adam war noch immer auf freiem Fuß, und die Polizei drehte durch.“ Adam, der sich Colter nennt – nach einem Trapper, der einst reihenweise Indianer getötet hat –, versteckt sich im Wald. Er ist bewaffnet. Und er ist gegen das System. Ganz anders als sein Vater, ein Ex-Marine, der jedoch auch nicht vor Gewalt zurückschreckt, wie sich im Urlaub zeigt, wo er einen Angreifer kurzerhand umbringt. Eine Seelenverwandte findet Adam in der viel älteren Sara, die sich standhaft weigert, den Staat, mit dem sie „keinen Vertrag“ hat, und seine Regeln anzuerkennen. „(…) Sara zuzuhören, die ununterbrochen versuchte, ihn gegen die Regierung zu radikalisieren, wo er doch ohnehin tausendmal radikaler war als sie. Ihn regierte niemand. Sie waren sowieso alle Verbrecher, diese Politiker, jeder war von irgendeiner Interessensgruppe gekauft, und die Bullen waren nichts weiter als ihre Privatarmee.“ Statt sich im Auto anzuschnallen, geht Sara lieber ins Gefängnis. Und obwohl sie schnell merkt, dass Adam einen an der Waffel hat, macht sie aus Einsamkeit bereitwillig die Beine für ihn breit. Doch die Ereignisse geraten sehr schnell außer Kontrolle …

T. C. Boyle und ich hatten einen denkbar schlechten Start. Eine Bekannte, deren Lieblingsautor er ist, hat mir Der Samurai von Savannah geschenkt, um mich für ihn zu begeistern – und das ging komplett nach hinten los. Ich fand das Buch sauschlecht und wollte nichts mehr mit Boyle zu tun haben, Hype hin oder her. Doch dann wurde mir auf dem Bloggertag bei Hanser Literaturverlage so sehr von ihm vorgeschwärmt, und weil sein neuer Roman dann schon mal bei mir im Regal stand, hab ich ihn auch gelesen. Ich fand ihn um Welten besser als den Samurai, aber es ist trotzdem klar: Mit T. C. Boyle und mir, das wird nichts mehr. Es ist sofort auf den ersten Blick klar, warum Hart auf hart ein Aufreger ist: Weil seine Protagonisten Systemgegner sind, weil sie sich gegen Amerikas Regierung stellen, gar gegen die Idee des Regiertwerdens an sich. Wie sie sich jedoch eine Welt ohne System vorstellen, eine Gesellschaft ohne Gesetze und Moral und Staatsorgane, die für Sicherheit sorgen, bleibt unklar – für solche Überlegungen fehlt ihnen der geistige Horizont. Sara und Adam sind ungebildet, natürlich, denn das ist ein Zustand, der einhergeht mit blindem Aufbegehren und fanatischem Wahn. Denn was will ein Einzelner, der sich im Wald versteckt und wahllos Leute erschießt, ausrichten gegen das System? Er ist eine Eintagsfliege, unwichtig, machtlos.

Ich finde es schade, dass Hart auf hart in diesem Punkt nicht in die Tiefe geht. Die Hauptpersonen sind dumm, ihr Verhalten wirkt auf mich zu wenig zielgerichtet und daher sinnlos. Adams Vater, der eine eigene Perspektive bekommt, hätte sich ruhig mehr mit dessen Kindheit und Krankheit auseinandersetzen können – statt alles mit einem „er hatte immer schon Probleme“ abzutun. T. C. Boyles neuestes Buch ist gut geschrieben, beklemmend, spannend, mit interessanten Einblicken und einer halbwegs glaubwürdigen Geschichte, die jedoch irgendwie versandet. Ich hab es gern gelesen, aber es wird definitiv mein letztes Buch von diesem Autor bleiben.

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Hart auf hart von T. C. Boyle ist erschienen bei Hanser Literaturverlage (ISBN 978-3-446-24737-6, 400 Seiten, 23,60 Euro).

Noch mehr Futter:
– „T. C. Boyle ist ein Meister darin, ernste Themen locker zu erzählen. Die spannende Geschichte fließt leicht dahin und gleitet elegant in die Abgründe der amerikanischen Seele“, schreibt derstandard.at.
– „Eine tiefe Reflexion seiner Figuren darf man von diesem Roman nicht erwarten. Man muss den Plot einfach hinnehmen, und hat ohnehin kaum Zeit zur Besinnung, denn er treibt voran wie eine halsbrecherische Fahrt auf dem Lost Highway, und der Autor weiß nur zu gut, wie man so etwas bewerkstelligt. Beim leichtesten Anflug von Stagnation garniert er seine Story mit schmutzigem Sex“, heißt es auf faz.net.
– „Erzähltechnische Finessen sind Boyles Sache nicht; Hart auf hart ist in einer sturen Und-dann-und-dann-Chronologie abgehandelt. Das wiederum ist auch eine logische Konsequenz der Perspektive, denn am Ende, es kann gar nicht anders sein, muss die öffentliche Ordnung wiederhergestellt sein“, erklärt die Süddeutsche.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

IMG_8333„Familie, sagte er, man kann ihr einfach nicht entkommen“
In einer Schneenacht in Berlin trifft Filbert auf Mae, und sie verlieben sich, einfach so. Zwei Wochen später jedoch reist Filbert überstürzt nach Kanada, um dort nach seinem Großvater Stanis zu suchen, den er eigentlich für tot hielt – verraten von seinem Nachbarn Erich Mühlenthal, abtransportiert, hingerichtet. Doch das ist nur eine jahrzehntelang aufrechterhaltene Lüge. Die Wahrheit aufzudecken, ist aber gar nicht so einfach, denn erst einmal findet Filbert nur den Jungen Aureliusz, der in einer stillgelegten Fabrik eine Kutsche bauen will, um Stanis’ größten Fehler auszubessern – in der Vergangenheit. Und während Mae seine Träume träumt, verliert sich Filbert zunehmend in den verrückten Geschichten, die längst vergangen oder vielleicht nur erfunden sind.

Es gibt Bücher, die machen überhaupt keinen Sinn, und gut sind sie trotzdem. Dazu gehört Legenden, der Debütroman der jungen deutschen Autorin Gesa Olkusz. Ich habe mich mit diesem Buch abends ins Bett gelegt, um noch ein bisschen reinzuschmökern – und hatte es 90 Minuten später in einem Rutsch von vorn bis hinten ausgelesen. Und das, obwohl es sehr kompliziert und höchst merkwürdig ist! Und das, obwohl mich sehr komplizierte und höchst merkwürdige Bücher für gewöhnlich schon aus Prinzip wahnsinnig anstrengen! Aber Gesa Olkusz hat mich gepackt, niedergerungen und gefesselt mit ihrer vielschichten Story und mit ihrer exaltierten, kapriziösen Sprache. Ein Beispiel: „Durch den Aureliusz eilt, über den Dorfplatz, seine Orientierung funktioniert einwandfrei, sein Instinkt ist getränkt von goldener Lava.“ Da denkt man doch eigentlich: Wtf?! Aber schön klingt es trotzdem.

Ein Großteil der Faszination von Legenden liegt darin, dass die üblichen Grenzen von Raum und Zeit nicht gelten. Besonders der geheimnisvolle Aureliusz ist wie ein Zeitenwanderer, der Dinge sieht und weiß, aber warum er das kann, bleibt unklar. Wie überhaupt so vieles in diesem total verrückten und abstrusen Roman, der mich schwer begeistert hat, weil er atmosphärisch und melancholisch ist, dabei aber nicht bitter, sondern fast heiter. Ich kann mir absolut keinen Reim auf dieses Buch machen, und will es euch allein schon deshalb empfehlen, damit einer von euch es mir erklären kann. Der Titel passt perfekt, denn Legenden sind selten wahr oder logisch, aber immer eine Erzählung wert.

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Legenden von Gesa Olkusz ist erschienen im Residenz Verlag (ISBN 9783701716357, 192 Seiten, 19,90 Euro).