Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

GardosUnd dann nicht aufgeben, niemals, nie
Als der junge Ungar Miklós 1945 aus dem Konzentrationslager befreit wird, besteht er im wahrsten Sinn des Wortes nur noch aus Haut und Knochen. Er wird nach Schweden gebracht, zusammen mit vielen anderen, und dort medizinisch betreut. Dabei stellt sich heraus: Miklós leidet an einer Lungenkrankheit und hat nur noch sechs Monate zu leben. Doch davon lässt er sich nicht beirren. Er schreibt 117 Briefe an junge ungarische Frauen, die über ganz Schweden verteilt sind, denn er möchte antworten. Allzu viele Antworten bekommt er nicht, doch sehr schnell ist für ihn klar: Lili soll es sein, sie ist die Richtige. Es entspinnt sich ein intensiver, emotionaler Briefwechsel, und Miklós setzt alles daran, seine Lili persönlich zu treffen. Nichts soll ihn davon abhalten, nicht einmal sein nahender Tod …

In Fieber am Morgen erzählt Péter Gárdos, preisgekrönter Film- und Theaterregisseur aus Budapest, die wahre Geschichte seiner Eltern. Miklós und Lili haben also tatsächlich gelebt, und all diese Briefe wurden wirklich geschrieben. Das macht dieses Buch umso schöner und gibt ihm mehr Tiefgang. Dem Autor ist es ausgezeichnet gelungen, aus den realen Anknüpfungspunkten Fiktion zu weben und all das, was er nicht weiß, mit seiner Fantasie auszufüllen. Dabei bezeichnet er Miklós das gesamte Buch über konsequent als „meinen Vater“, seine Mutter aber als Lili. Wer der eigentliche Erzähler ist, ist somit klar, und freilich auch, dass die Geschichte ein gutes Ende haben wird, denn sonst wäre Péter gar nicht erst geboren worden. Das Hauptaugenmerk liegt auf Miklós, aber auch Lili hat eine eigene Perspektive in diesem gefühlvollen Roman. Die beiden kämpfen gegen allerlei Hindernisse, die vor allem aus Bürokratie und neidischen Menschen bestehen – und in der tödlichen Krankheit, an der Miklós leidet. Sie kämpfen darum, nach allem, was sie erlebt und gesehen haben, weiterzuleben, gemeinsam.

Es ist sagenhaft, wie stur Miklós an seinem Plan festhält, sich nicht unterkriegen zu lassen, von nichts und niemandem. Liegt das daran, dass er die schlimmsten Gräueltaten überlebt und nichts mehr zu verlieren hat? Es fasziniert mich, wie er aus einem simplen Briefwechsel eine Liebe kreiert und formt – allein mit der Kraft seines Glaubens daran. Er WILL, dass Lili seine große Liebe wird, und allein deshalb wird sie es auch. Die Worte, die Péter Gárdos für seine Erzählung verwendet, sind schlicht und ehrlich, sie verstellen sich nicht, putzen sich nicht heraus, und sie sagen immer, was sie meinen. Raffiniert ist das nicht, aber wunderbar zu lesen – und es passt perfekt zum Inhalt dieser einzigartigen, sehr klaren und sehr menschlichen Story. Ich habe mir sagen lassen, dass Fieber am Morgen vom Literarischen Quartett als Holocaust-Kitsch verunglimpft wurde und frage mich, ob es so etwas überhaupt geben kann – wenn das Buch noch dazu auf wahren Tatsachen beruht. Ein solches Buch muss nicht literarisch herausragend sein, weil seine Kraft auf der Wahrheit beruht, auf der Geschichte unserer Länder, auf liebevollen Briefen, auf unbeugsamem Überlebenswillen. Und Péter Gárdos driftet nie ins Kitschige ab, denn er betont, dass seine Eltern im späteren Leben nie romantisch waren, dass sie aus ihrem ungewöhnlichen Kennenlernen nie eine große Sache gemacht haben. Sie haben einfach gelebt, und das war genug.

Banner

Fieber am Morgen von Péter Gárdos ist erschienen im Hoffmann und Campe Verlag (ISBN 978-3-455-40557-6, 256 Seiten, 22 Euro). Rezensionen zum Buch findet ihr zum Beispiel auf Zeit.de, Papiergeflüster sowie Leseschatz.

Bücherwurmloch

IMG_9078Einige von euch wissen schon um diesen Spleen von mir, immer nur ein Buch von einem Autor zu lesen. Das hatte sich nach vielen enttäuschenden Leseerlebnissen so eingebürgert, aber seit zwei, drei Jahren versuche ich, diese Gewohnheit wieder aufzubrechen – mit mäßigem Erfolg. Nun habe ich eine klassische Pro-und-Kontra-Liste erstellt, um in dieser Sache endlich auf einen grünen Zweig zu kommen.

Dafür spricht:

  1. Ich war mal ein Serienjunkie. Mit zwölf, dreizehn Jahren hab ich Stephen King verschlungen und Wolfgang Hohlbein, später in meiner Krimiphase waren es Andrea Camilleri, Elizabeth George, Henning Mankell. Mit 16 dann habe ich José Saramago entdeckt, Peter Hoeg, Javier Marias, und ich habe deren Bücher geliebt. Später habe ich John Irving geliebt, mit jedem einzelnen seiner Romane. Bei ihnen war ich in Sicherheit, auf sie konnte ich mich verlassen. Das war ein wunderbares Gefühl.
  2. Es ist schön, Lieblingsschriftsteller zu haben.
  3. Jeder Autor hat nach einem Fehlschlag eine zweite Chance verdient. Und oft hat man ja aus seinem umfassenden Werk vielleicht genau das eine Buch erwischt, das nicht so gut ist wie die anderen.
  4. Ich beneide Leser, die sich ganz wahnsinnig auf das neue Buch eines Schriftstellers freuen und das Gefühl haben, einen lieben Freund wiederzusehen.
  5. Es ist interessant, einen Autor in der Vielseitigkeit seines Werks kennenzulernen.
  6. Ohne diese Marotte wäre ich freier in meiner Auswahl. Von der heurigen Buchpreisliste wollte ich beispielsweise Lappert, Bronsky, Helle und Mahlke auf keinen Fall lesen, weil ich von diesen vieren bereits einen Roman kannte. Das ist wirklich sehr beschränkt von mir.

Dagegen spricht:

  1. Nach einem sehr guten Buch ist bei einem zweiten vom selben Autor die Erwartungshaltung sehr groß und meistens zu groß.
  2. Ich ziehe während der Lektüre des zweiten Buchs immer Vergleiche zum ersten, ohne es zu wollen. Ich bin in meiner Herangehensweise nicht mehr unbefangen, und das mag ich nicht.
  3. Ich bin extrem neugierig auf verschiedene Schriftsteller. So many writers, so little time!
  4. Manchmal passt es mit einem bestimmten Autor auf einmal nicht mehr. Meiner großen Liebe John Irving bin ich entwachsen, irgendwann hatte er seinen Zauber für mich verloren, und ich habe mich von ihm getrennt. Ich denke gern an ihn zurück. Und wo er einst war, herrscht immer noch Leere.
  5. Für zweite Chancen habe ich keine Zeit. Wer bei mir mal verschissen hat, der hat verschissen.
  6. Ich langweile mich schnell, sehr schnell, und viele (nicht alle!) Schriftsteller bringen letztlich doch immer Ähnliches zu Papier.
  7. Wenn ich ein Buch mochte und vom selben Autor noch eins lese, bin ich sehr oft enttäuscht. Und denke: Wärst du doch bei dem einen guten geblieben! Das ärgert mich, nervt mich und ich habe das Gefühl, als sei ein Versprechen nicht eingehalten worden. All diese Fälle hier aufzuzählen, würde den Rahmen bei Weitem sprengen, aber allein 2015 ist mir das bisher mit folgenden Autoren passiert: Lisa O’Donnell, Katharina Hartwell, Robert Seethaler, Heinrich Steinfest, Adam Johnson, Grégoire Delacourt, Carmine Abate, Hiromi Kawakami, Herman Koch. Bei den Massen an Büchern, die ich lese, sind das vielleicht nicht viele. Trotzdem ist es eine Zeitverschwendung, die ich mir hätte sparen können.

Die Frage ist nun: Hat mich diese Liste weitergebracht? Nicht im Geringsten. Wie haltet ihr es damit? Habt ihr Lieblingsschriftsteller, seid ihr Fans einer Serie, fiebert ihr dem Erscheinungstermin bestimmter Bücher entgegen? Oder könnt ihr dem Vorhaben, möglichst viele verschiedene Autoren zu lesen, mehr abgewinnen? Oder denkt ihr euch: Alter Schwede, Mariki, mach dir doch darüber nicht so einen Kopf und lies einfach, was dich interessiert, egal, ob du den Autor schon kennst oder nicht? Das ist nämlich der Gedanke, zu dem ich immer mehr tendiere. Ich bin gespannt auf eure Meinung!

Gut und sättigend: 3 Sterne

Jia„Was nur allzu wirklich ist, erscheint oft als unglaubwürdig“
„Fragen, die nicht gestellt werden dürfen, stellt man nicht, Aussagen, die nicht gemacht werden dürfen, macht man nicht, was man nicht wissen darf, weiß man nicht. Das war ein ungeschriebenes Gesetz in Einheit 701.“ Für diese Einheit arbeitet Rong Jinzhen – allerdings nicht ganz freiwillig. Er versucht dort, die Codes der Kriegsfeinde zu lösen, in erster Linie natürlich die Codes der Amerikaner. Rong entstammt einer alten chinesischen Dynastie, die einst durch Salzhandel reich geworden ist. Als ungewolltes, uneheliches und körperlich missgestaltetes Kind verbringt er seine ersten Jahre in einem Birnengarten. Sein Ziehvater setzt in seinem Testament durch dass Rong eine Chance bekommt – und an die Universität kann, der er ist ein großes Mathematikgenie. Aus diesem Grund wird die Regierung auf ihn aufmerksam und nimmt ihn mit zur Einheit 701. Und wenn Männer dieser Art etwas verlangen, ist es unmöglich, Nein zu sagen.

Mai Jia ist in China ein Star: Er hat sieben Bestseller geschrieben, die 15 Millionen Mal verkauft sowie allesamt verfilmt wurden. Zudem gilt er als Begründer der chinesischen Spionageliteratur, zu der auch dieser Roman gehört. Westliche Maßstäbe lassen sich hier nicht anlegen, denn Geschichtliches, die Familie und die Politik spielen in diesem Genre ebenso eine Rolle wie Spionageverdacht und Rätsel. Das verhängnisvolle Talent des Herrn Rong ist stark in zwei Hälften geteilt: Den Anfang macht Rongs Familiengeschichte, die in typisch asiatischer Manier zugleich ausufernd und seltsam magisch erzählt wird. Doch sobald das junge Genie von der Spionageeinheit quasi entführt wird, flacht das Buch extrem ab, die Magie verschwindet. Und das führt dazu, dass ich gegen Ende immer mehr das Interesse am Roman verliere. Euch das zu erklären, ohne zu spoilern, ist jedoch ausgenommen schwierig. Deshalb möchte ich nur so viel sagen: Rong gerät plötzlich aus dem Fokus und wird zu einer Schattenfigur, was dem Buch in meinen Augen jeglichen Drive nimmt.

Mai Jia hat in mir die Hoffnung geweckt, sein Protagonist werde Großes erreichen, und spannende Szenen aus der Welt der Kriegsspionage würden folgen. Das ist jedoch nicht der Fall, denn der Autor entsorgt sozusagen seinen Helden – und ohne ihn ist sein Buch dann doch ein wenig leer. Da hilft es auch nicht mehr, dass ein Gegenspieler enttarnt war – vor allem nicht, weil seine Identität ohnehin schon lange klar war. Für mich ist Das verhängnisvolle Talent des Herrn Rong ein Roman mit einem fulminanten Beginn und einem enttäuschenden Ende, weshalb ich ihm mit gemischten Gefühlen gegenüberstehe. Wer aber ein Faible für asiatische Literatur und rätselhafte Storys hat, ist damit sicher gut beraten.

Banner

Das verhängnisvolle Talent des Herrn Rong von Mai Jia ist erschienen in der DVA (ISBN 978-3-421-04671-0, 352 Seiten, 19,99 Euro). Eine Rezension dazu findet ihr beispielsweise auf literaturblog.at.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

LauensteinIst nachts die Einsamkeit am größten?
„Es ist, als würden die Leute nachts aus ihren Häusern verschwinden, in ein Land gehen, zu dem ich keinen Zugang habe, und mich hier den bösen Geistern zum Fraß überlassen“, sagt Leni zu jener jungen Frau, die unangemeldet vor ihrer Tür steht an einem Mittwoch um drei Uhr früh. Nacht für Nacht besucht diese Frau die Menschen in ihrer Stadt, wählt sie nach dem Zufallsprinzip aus, sie drückt einfach dort den Klingelknopf, wo noch Licht brennt. Warum sind diese Menschen wach, was hält sie ab vom Schlafen? Bereitwillig erzählen sie davon, berichten von gescheiterten Beziehungen und weiten Reisen, von Zukunftsplänen und großen Ängsten. 25 Mal steht die Ich-Erzählerin vor einer Tür, 25 Mal wird ihr geöffnet. Die unterschiedlichsten Geschichten kommen dabei zum Vorschein, verschiedene Gestalten und Charaktere, gehaltvolle Gedanken zum Leben – und zum Wesen der Nacht. „Der Moment vor dem Einschlafen ist vielleicht sogar mein liebster Moment im ganzen Leben. Weil man sich auf den immer verlassen kann. Den kann einem keiner nehmen, egal, wo man liegt und was grad passiert. Man kann sich in ihm verstecken und man braucht nichts anderes dafür als die Augenlider.“

Es würde mich interessieren, ob Mercedes Lauenstein – SZ-Redakteurin und freie Autorin – ihr erstes Buch nachts geschrieben hat. Das würde perfekt passen, und ich stelle es mir der Stimmigkeit halber einfach so vor. Denn nachts, da ist alles anders, denkt einmal an die Nächte, in denen ihr wach wart, auf einer Party oder an einem See, draußen auf der Straße um fünf Uhr morgens – die Welt ist nicht dieselbe wie am Tag. Und diese Stimmung, die dann herrscht, dieses Gedämpfte, Aus-der-Zeit-Gefallene, Ruhelose und zugleich irgendwie Magische – das findet ihr in diesem Buch. Die junge Schriftstellerin hat die Nacht eingefangen wie einen Falter und zeigt viele ihrer unzähligen Facetten, versammelt in kurzen Geschichten, jede davon eine Skizze, eine Begegnung, eine Möglichkeit.

Nachts ist kein spannendes oder mitreißendes Buch, es ist vielmehr melancholisch und schlicht – und sehr besonders. Denn die 25 Kapitel werfen jeweils einen Blick in eine Wohnung, ein Leben, ein Menschenherz, ergeben aber in ihrer Gesamtheit keinen Roman im eigentlichen Sinn. Über die Ich-Erzählerin, die an all diesen Türen klingelt, erfahre ich so gut wie nichts, was eigentlich das Einzige ist, das mich an diesem Buch stört. Gierig sauge ich jede fragmentarische Information über die schlaflose Nachtwandlerin auf, und doch bleibt sie am Ende eine Unbekannte für mich. Trotzdem freue ich mich, dass sie mich mitgenommen hat auf ihren Streifzügen durch jene andersartige, befremdliche, undurchschaubare Zeit – die Nacht.

Banner

Nachts von Mercedes Lauenstein ist erschienen im Aufbau Verlag (ISBN 978-3-351-03614-0, 191 Seiten, 18,95 Euro). Rezensionen zum Buch findet ihr beispielsweise bei Die Liebe zu den Büchern sowie in der Zeit.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Jungmair„Ich frage mich, ob es gesund ist, zu leben, wo andere sterben“
„Schweigen ist ein Talent in dieser Familie, von Generation zu Generation weitergegeben, es wird hier beherrscht wie nirgendwo sonst. Um dieses Schweigen zu verstehen, brachte ich mir eine Kartografie bei, machte mir Landkarten und Pläne, für Großmutter, Mutter und Vater, um Blicke, Handbewegungen und Körperhaltungen zu deuten.“ Auf diese Kartografie muss die junge Friederike zurückgreifen, als sie aus Berlin ins heimatliche österreichische Dorf zurückkehrt, weil die Großmutter gestorben ist. Obwohl Friederike keine gute Beziehung hatte zu der Frau, die sie als schweigsam und wenig liebevoll in Erinnerung hat, ist sie traurig. Sie findet es schrecklich zuhause: „Nichts ist so trostlos wie ein Winter in diesem Dorf, die schwarzschattigen Umrisse der Bäume geben mir Recht.“ Zu den Eltern und zur Schwester hat sie keinen Bezug, und deren Schweigsamkeit bestätigt sie darin, dass es richtig war fortzugehen. Einzig Tobias ist ihr ein Anker, Tobias, den sie schon geliebt hat, als sie noch zu jung dafür waren und den sie dann ohne ein Wort des Abschieds verlassen hat. Noch trauriger wird Friederike, als sie Briefe findet, versteckt von der Großmutter, die offenbar einen Liebhaber hatte – heimlich. Wer war er? Und warum durfte das niemand wissen?

Die junge österreichische Autorin Marianne Jungmaier, 1985 geboren, hat in ihrem Erstling – dessen Cover ich sehr schön finde – die Melancholie zwischen zwei Buchdeckeln eingefangen. Ihr Roman ist eine Ode an die Traurigkeit, an die Vergänglichkeit, an das ungelebte Leben. Sie hat eine Familie kreiert, die einfach nur existiert – ohne Zusammenhalt. Man liebt sich mit Süßspeisen, Torten und Cremen, nicht mit Worten und Gesten. Protagonistin Friederike kehrt – ein klassisches Romansetting – für ein Begräbnis nachhaus zurück, wo sich nichts verändert hat, und entdeckt das geheime Doppelleben der Großmutter. Das Rätsel ist bald gelöst, die Liebesgeschichte ist simpel und passend und süß. Alles ist schön formuliert und fein austariert, wenn auch vielleicht ein bisschen zu gewollt. Die allzu betonten Wiederholungen waren mir ein wenig zu viel, das Schweigen, die Mehlspeisen, das Trostlose. Vermisst habe ich an diesem Buch irgendeine Art von Entwicklung: Friederike verhält sich exakt wie ihre Familie – und merkt es nicht. Sie lebt ihre Liebe zu Tobias nicht, sie schweigt ihn an, sie schweigt die Eltern an – und hält sich für was Besseres, weil sie flieht. Ein Erkenntnismoment, ein inneres Vorankommen hätte ihr gutgetan, und dem Roman auch, aber einen Konflikthöhepunkt gibt es nicht, auch kein Auflösen der Situation. So bleibt er ein Abbilden, eine Momentaufnahme, ein Stillleben. Aber immerhin ein gut lesbares.

Banner

Das Tortenprotokoll von Marianne Jungmaier ist erschienen im Verlag Kremayr & Scheriau (ISBN 978-3-218-00996-6, 208 Seiten, 19,90 Euro).

Netter Versuch: 2 Sterne

SchweblinDas Bedrohliche an der Merkwürdigkeit
Eine Frau lebt mit ihrer Tochter in einem kleinen Ort, vier Stunden von der Hauptstadt entfernt, wo der Mann arbeitet. Die Tochter heißt Nina. Die Frau bleibt namenlos. Eine Nachbarin Carla erzählt ihr eine eigenartige Geschichte: Ihr kleiner Sohn David litt an einer schweren Vergiftung, an der das gesamte Vieh gestorben war. Um ihn zu retten, teilte die Heilerin Davids Vergiftung mit einem anderen Körper – wodurch er eine andere Persönlichkeit bekam. Carla fürchtet sich vor diesem unbekannten Sohn. Auch die Frau ist inzwischen krank und wird in Kürze sterben. Nur David ist bei ihr, spricht mit ihr, rekonstruiert mit ihr, was geschehen ist. Er redet von Würmern, von einem Moment der Ansteckung. Woran leidet die Frau? Warum berichtet sie David wieder und wieder dasselbe, ohne sich erinnern zu können? Wo ist Nina? Was ist geschehen mit den Kindern des Ortes? „Es sind merkwürdige Kinder. Es sind, keine Ahnung, meine Augen brennen so. Sie haben keine Wimpern und auch keine Augenbrauen, ihre Haut ist rot, sehr rot, und schuppig.“ Müssen sie etwa alle sterben?

Es gibt Bücher, die derart rätselhaft sind, dass man nicht das Geringste versteht. Dazu gehört für mich Das Gift von Samanta Schweblin, angeblich „die beste Erzählerin ihrer Generation“. Ihre drei Erzählbände wurden mit Preisen bedacht, ihr erster Roman erschien nun in 20 Ländern. Worum es darin geht? Um eine nicht greifbare Bedrohung, um ein Gift – womöglich in Zusammenhang mit einem Chemiekonzern der Gegend? – und um seltsame Heilmethoden sowie den Tod. Eine Mutter lässt ihr Kind von einer Heilerin behandeln und hat danach Angst vor ihm. Dieses Kind stellt der Protagonistin Fragen, redet immer wieder von Würmern und will die Ursache für eine mysteriöse tödliche Krankheit aufdecken. Aber wozu, wenn sie ohnehin nicht heilbar ist? Was soll das bringen? Und wenn er all das ohnehin schon mehrfach erzählt bekommen hat, wieso fragt er erneut?

Das Gift ist ein derart rätselhaftes Buch, dass man das Rätselhafte daran nicht einmal erklären kann. Genau das soll wohl die Bedrohung auslösen – was durchaus gelingt. All die kleinen Informationsfetzen, die keinen Sinn und kein großes Ganzes ergeben, sorgen für eine verrückt beklemmende Atmosphäre. Es ist zum Fürchten. Und überaus unheimlich. Ich bin angeekelt und fasziniert zugleich und kann am Ende nicht einmal sagen, ob ich den schmalen Roman mit gerade mal 126 Seiten gut oder schlecht fand, weil die üblichen Beurteilungsparameter überhaupt nicht anwendbar sind. Ich bin schlicht und ergreifend völlig verstört. Und beunruhigt. Ein wenig verängstigt. Und ratlos. Wer sich einmal so fühlen möchte, der greife zu diesem Buch.

Banner

Das Gift von Samanta Schweblin ist erschienen im Suhrkamp Verlag (ISBN 978-3-518-42503-9, 127 Seiten, 16,95 Euro), hier könnt ihr euch den gruseligen Buchtrailer ansehen.

High Five

DSC_0178Wenn ich eine Figur aus einem Roman wäre, dann wäre dieser Roman stellenweise schrecklich öd und an anderen Stellen so chaotisch, dass keiner mehr mitkommen würde. Schreiben heißt daher für mich an manchen Stellen untertreiben und an anderen übertreiben – und ich brauche immer viele Post-its, um meine chaotischen Gedanken und Einfälle zu ordnen.

Ich ordne meine Bücher nach Platz! Recherchematerial auf Augenhöhe, schwere Chroniken ganz unten, gelesene Romane hoch oben und aktuelle Bücher im Bett. In meiner Wohnung ist nicht sehr viel Platz, weshalb ich seit 20 Jahren Besitzerin einer Bibliothekskarte bin. Gute Freunde lassen dich nicht im Stich, auch wenn sie nicht alle bei dir wohnen. Manche Bücher sind mehrere Male für ein paar Wochen zu Gast, manche nur einmal, die meisten Gäste dürfen aber im Bett übernachten.

Das Cover meines aktuellen Buchs hat keine Männchen, sondern Kreise am Cover. Und ich habe diesmal keine Schockzigarette gebraucht! Wenn du mit einem nostalgischem Fotocover rechnest und stattdessen Strichmännchen auf den Roman bekommst, schnellt erst einmal dein Puls in die Höhe. Aber das war im Frühjahr 2013. Mittlerweile liebe ich die bunten Figuren heiß und als man bei „Die Schmetterlingsfängerin“ überlegt hat, ein Schwarzweißfoto einzubauen, habe ich sogar heftigst protestiert. Das aktuelle Cover war dann Liebe auf den ersten Blick.

Viel zu selten verwendet wird das Wort verschellen. Denn wenn jemand verschollen sein kann, dann befindet er sich doch irgendwann im Prozess des Verschellens, oder? Peter Heissenberger, einer meiner GRAUKO-Kollegen, hat dazu einen wunderbar witzigen Text geschrieben. Wenn man mich seitdem nach einem seltenen Wort fragt, fällt mir automatisch eines ein, das es nie geben können wird: Denn in dem Moment, wo jemand um das Verschellen einer Person weiß, kann sie schon nicht mehr verschollen sein.

Das Buch meines Lebens ist seit ein paar Jahren immer das, an dem ich gerade arbeite. Da kann es schon mal passieren, dass ich beim Spazierengehen mit meinen Protagonisten plaudere oder sogar in ihre Heimat reise, um ihr Haus zu entdecken und ihre Nachbarn kennen zu lernen. Ich schlüpfe in die Leben, die ich mir ausdenke und manchmal steck ich dort ein bisschen zu sehr fest – das ist dann die Zeit, in der mich meine Freunde als „geistesabwesend“ bezeichnen. Es gab jedoch ein Buch, das habe ich so oft gelesen wie keines, und das bestimmt in nur zwei Jahren. Es hieß „Pony, das kleine Pferd“, das las ich bestimmt mindestens zehnmal. Allerdings hasste ich die Kapitel in der Stadt. Ich mochte das Pony, ich mochte den Bauer Michel, aber die Stadt ließ ich ab dem zweiten Mal Lesen immer aus. Und jetzt, da ich davon schreibe, wird mir erst bewusst, dass ich schon als Kind nicht in einer Stadt leben wollte. Mittlerweile habe ich Wien den Rücken gekehrt und wohne in Graz, auch eine Großstadt laut Wikipedia, aber nicht ganz so hektisch, wenn auch nicht ganz so ruhig wie beim Bauer Michel. (Und wenn man bedenkt, dass Wien für Joe eine Mittelstadt ist, dann ist Graz sowieso ein Dorf.)

mkMargarita Kinstner, 1976 in Wien geboren, ist Mitglied des Grazer Autorinnen- und Autorenkollektivs GRAUKO und hat ein Kindermagazin gegründet. 2013 erschien ihr Debütroman Mittelstadtrauschen, 2015 ihr zweites Buch Die Schmetterlingsfängerin im Deuticke-Verlag. Foto von Isolde Kerstin Bermann.

Netter Versuch: 2 Sterne

Hjorth„Es gibt viele, die nicht den Menschen bekommen, den sie lieben. Und dagegen lässt sich nur schwer etwas tun“
Alma lebt allein in einem kleinen Haus auf dem Land irgendwo in Norwegen. Sie ist geschieden, ihre Kinder sind erwachsen und leben ihr eigenes Leben. Sie arbeitet als Künstlerin, ist bekannt für ihre prachtvollen Wandteppiche und Fahnen. Doch damit das Geld zum Leben reicht, muss sie die Einliegerwohnung, die zu ihrem Häuschen gehört, vermieten. Da diese nicht den modernen Standards entspricht, gibt Alma die Wohnung billig her und ohne Kaution. Mit dem polnischen Paar, das dort einzieht, will sie nichts zu tun haben. Und als der Mann wegen häuslicher Gewalt ins Gefängnis muss, hat Alma angeblich nie etwas gehört oder gesehen. Fortan lebt die polnische Frau mit ihrer kleinen Tochter in Almas Haus, und sie gehen sich alle aus dem Weg – der Kontakt beschränkt sich auf das Mindeste, es geht um die Post, ums Schneeschaufeln, um die Miete. Mit den Jahren wird der Umgang der beiden immer frostiger – bis es schließlich soweit ist, die Mietvereinbarung aufzulösen.

Vigdis Hjorth ist in Norwegen bekannt für ihre Kinderbücher, Romane, Essays und Diskussionsbeiträge. In Ein norwegisches Haus erzählt sie eine Geschichte, die ich nicht recht deuten kann. Denn ich hatte mir eine Auseinandersetzung mit Ausländerfeindlichkeit und Rassismus erwartet, hatte gedacht, Protagonistin Alma gerade mit ihren Mietern aneinander, weil diese Polen seien. Das spielt durchaus eine Rolle. Alma bemängelt das schlechte Norwegisch in den Briefen ihrer Mieterin, sie stört sich daran, wenn deren Verwandtschaft zu Besuch kommt und fremde Sitten mitbringt, und sie mag die Polen ganz einfach nicht. Allerdings mag Alma überhaupt niemanden. Sie ist eine miesepetrige, egozentrische, alleinstehende Frau. Und im Buch geht es vielmehr um Mietrecht, Umgangsprobleme und das allgemeine Gestalten eines friedlichen Zusammenlebens. Da gibt es kein Flüchtlingsschicksal, keine polnische Geschichte, kein Aufbrechen der Fronten, kein Annähern über die Nationalitäten hinweg. Über die Polen erfahre ich schlicht und ergreifend nichts. Und ihr Polnischsein hat derart wenig Einfluss auf den Roman, sie könnten auch Norweger sein.

All dies führt dazu, dass Ein norwegisches Haus mich unglaublich langweilt. Denn tatsächlich ist meist das einzig Interessante Almas Arbeit – wie sie Geschichten stickt und eigenbrötlerisch vor sich hin werkt. Auch am Ende kommt kein aufrüttelnder Knall, das Buch schließt ebenso ruhig und fast schon öde, wie es begonnen hat. Da wäre viel mehr Zündstoff und Potenzial für echte Konflikte und größere Gefühle als Ärger über die Miethöhe enthalten gewesen. Dieses gesamte Potenzial hat Vigdis Hjorth verschenkt – und das im Klappentext anklingende Thema hat sie in meinen Augen komplett verfehlt.

Banner

Ein norwegisches Haus von Vigdis Hjorth ist erschienen im Osburg Verlag (ISBN 9783955100919, 235 Seiten, 20 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

SoboczynskiDie saubere Ästhetik von Tieren am Strand
„Man musste manche Männer herausfordern, vor allem die zurückhaltenden, die zur Melancholie neigenden, die wenigen, die interessant waren. Und man musste sich bei darauffolgenden Treffen beinahe gegenteilig verhalten, nämlich so, als sei man aufgeregt und überfordert. Zur Kunst der Verführung gehörte es, bei dem Verführten nach der ersten Überrumpelung den Eindruck zu erwecken, er selbst sei der Regisseur einer sich anbahnenden Beziehung und nicht der Spielball fremden Begehrens.“ Genau so macht es Julia bei Hans. Sie lernen sich auf einer Vernissage kennen – sie ist Journalistin, er ist Künstler, er malt ausschließlich Tiere am Strand. Hans ist für Julia der letzte Grund, den sie noch braucht, um ihrem Freund, dem Architekten Sebastian, den Laufpass zu geben. Nach wenigen stinkigen Mails bricht der Kontakt zwischen den beiden ab, Sebastian macht sich erst einmal auf den Weg nach Paris. Und Hans, der feste Beziehungen scheut, weil sie nach der ersten Euphorie zum Scheitern verurteilt sind, erlebt in einer self-fulfilling prophecy genau das.

Adam Soboczynski, der das Feuilleton der ZEIT leitet, hat nach einigen Sachbüchern mit Fabelhafte Eigenschaften seinen ersten Roman geschrieben. Ganz in der Tradition der leichtfüßigen, ruhigen und völlig unaufgeregten Erzählkunst berichtet er darin von einer Menage à trois, wie sie täglich vorkommt im Leben: Eine Frau verlässt einen Mann für einen anderen, der Mann kann sie noch nicht loslassen, und der andere macht sie eigentlich auch nicht glücklich. Ein jeder verfällt doch immer dem, der ihn nicht will. Davon erzählt Adam Soboczynski mit Humor und einer leicht ironischen, fast schon herablassend kühlen Distanz.

Er zeigt beim Schreiben große Zurückhaltung, als hätte er gar nicht vorgehabt, mich mit dieser Geschichte zu unterhalten, als sei sie ihm einfach so untergekommen, zufällig, ohne Anstrengung. Dieses Understatement und der gesetzte, altbackene Schreibstil stehen dem Buch sehr gut. Gleichzeitig muss man aber sagen, dass die Story an sich nicht viel hergibt, dazu hat sie zu wenig Ecken und Kanten, denn so klassisch, wie sie beginnt, endet sie auch. Dazwischen wartet ein kurzweiliges, gut lesbares, harmloses Lektürevergnügen.

Banner

Fabelhafte Eigenschaften von Adam Soboczynski ist erschienen im Klett-Cotta Verlag (ISBN 978-3-608-98030-1, 206 Seiten, 18,95 Euro).

Für Gourmets: 5 Sterne

Grueso„Wörter waren der einzige Schlüssel, der die Türen zum Paradies öffnete“
Stell dir vor, es gäbe eine wunderschöne Frau, die einen Liebhaber nur dann empfängt, wenn er sie mit Worten berührt. Deshalb erzählst du ihr eine Geschichte. Es muss eine gute sein, ergreifend, spannend, poetisch, und so erfindest du einen Mann, der den Menschen Bücher verschreibt wie Medizin und der ein Mädchen kennt, das nach einer Nacht mit ihm ermordet wird, du erzählst von einem Jungen, der in einer Welt, in der jedes Wort Geld kostet, eben jene Wörter schmuggelt, um seiner Angebeteten seine Liebe gestehen zu können, und du schreibst von einem Moderator, der alles aufs Spiel setzt, um seinem Großvater einen großen Wunsch zu erfüllen. Wild sind deine Geschichten und ebenso fantastisch wie fantasievoll, ineinander verschachtelt sind sie, berührend, witzig, originell – sie bilden Rahmen und Inhalt zugleich, sind auf schlaue Weise miteinander verknüpft. Es geht um Abenteuer in deinen Geschichten, um die Liebe, um die Einsamkeit und um den Mut. Und nachdem du all dies erzählt hast, mit erstaunlicher Leichtigkeit und direkt aus deinem Herzen, nun sag mir: Wird sie dich einlassen, für eine Nacht?

Was muss ich noch sagen, damit du dieses Buch liest? Es handelt von der Kraft der Worte, die ich nutzen möchte, um dich zu verführen, um dich zu locken, damit du Natalio Grueso eine Chance gibst, ihm ein bisschen Zeit abzwackst. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du es bereust! Weil dies eines jener Bücher ist, denen es so leicht fällt, gut zu sein, die sich nicht anstrengen müssen, um eine – nein, viele! – wunderbare Geschichten zu erzählen, auf den ersten Blick heiter, aber dennoch erstaunlich tiefgründig. Brauchst du noch mehr? Ja? Dann erzähl ich dir noch was: Ich mochte dieses Buch so gern, weil es nichts fordert, keine Anstrengung, kein Sinnieren und In-Realation-Setzen, weil es wie ein guter Freund ist, der ein bisschen mit dir plaudert und dich verblüffend gut unterhält. Setz dich doch ein bisserl her zu uns und hör ihm zu. Ich rücke zur Seite und mache dir Platz, denn diese Story von Bruno Labastide, die solltest du wirklich nicht verpassen …

Banner

Der Wörterschmuggler von Natalio Grueso ist erschienen im Atlantik Verlag (ISBN
978-3-455-60019-3, 256 Seiten, 18 Euro).