Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Mercedes Lauenstein: Nachts

LauensteinIst nachts die Einsamkeit am größten?
„Es ist, als würden die Leute nachts aus ihren Häusern verschwinden, in ein Land gehen, zu dem ich keinen Zugang habe, und mich hier den bösen Geistern zum Fraß überlassen“, sagt Leni zu jener jungen Frau, die unangemeldet vor ihrer Tür steht an einem Mittwoch um drei Uhr früh. Nacht für Nacht besucht diese Frau die Menschen in ihrer Stadt, wählt sie nach dem Zufallsprinzip aus, sie drückt einfach dort den Klingelknopf, wo noch Licht brennt. Warum sind diese Menschen wach, was hält sie ab vom Schlafen? Bereitwillig erzählen sie davon, berichten von gescheiterten Beziehungen und weiten Reisen, von Zukunftsplänen und großen Ängsten. 25 Mal steht die Ich-Erzählerin vor einer Tür, 25 Mal wird ihr geöffnet. Die unterschiedlichsten Geschichten kommen dabei zum Vorschein, verschiedene Gestalten und Charaktere, gehaltvolle Gedanken zum Leben – und zum Wesen der Nacht. „Der Moment vor dem Einschlafen ist vielleicht sogar mein liebster Moment im ganzen Leben. Weil man sich auf den immer verlassen kann. Den kann einem keiner nehmen, egal, wo man liegt und was grad passiert. Man kann sich in ihm verstecken und man braucht nichts anderes dafür als die Augenlider.“

Es würde mich interessieren, ob Mercedes Lauenstein – SZ-Redakteurin und freie Autorin – ihr erstes Buch nachts geschrieben hat. Das würde perfekt passen, und ich stelle es mir der Stimmigkeit halber einfach so vor. Denn nachts, da ist alles anders, denkt einmal an die Nächte, in denen ihr wach wart, auf einer Party oder an einem See, draußen auf der Straße um fünf Uhr morgens – die Welt ist nicht dieselbe wie am Tag. Und diese Stimmung, die dann herrscht, dieses Gedämpfte, Aus-der-Zeit-Gefallene, Ruhelose und zugleich irgendwie Magische – das findet ihr in diesem Buch. Die junge Schriftstellerin hat die Nacht eingefangen wie einen Falter und zeigt viele ihrer unzähligen Facetten, versammelt in kurzen Geschichten, jede davon eine Skizze, eine Begegnung, eine Möglichkeit.

Nachts ist kein spannendes oder mitreißendes Buch, es ist vielmehr melancholisch und schlicht – und sehr besonders. Denn die 25 Kapitel werfen jeweils einen Blick in eine Wohnung, ein Leben, ein Menschenherz, ergeben aber in ihrer Gesamtheit keinen Roman im eigentlichen Sinn. Über die Ich-Erzählerin, die an all diesen Türen klingelt, erfahre ich so gut wie nichts, was eigentlich das Einzige ist, das mich an diesem Buch stört. Gierig sauge ich jede fragmentarische Information über die schlaflose Nachtwandlerin auf, und doch bleibt sie am Ende eine Unbekannte für mich. Trotzdem freue ich mich, dass sie mich mitgenommen hat auf ihren Streifzügen durch jene andersartige, befremdliche, undurchschaubare Zeit – die Nacht.

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Nachts von Mercedes Lauenstein ist erschienen im Aufbau Verlag (ISBN 978-3-351-03614-0, 191 Seiten, 18,95 Euro). Rezensionen zum Buch findet ihr beispielsweise bei Die Liebe zu den Büchern sowie in der Zeit.

0 Comments to “Mercedes Lauenstein: Nachts”

  1. … ist flüssig und gut lesbar geschrieben, hinterläßt aber bei mir auch dieses Gefühl der Unsicherheit bezüglich des Textes so wie bei den Figuren oft hinsichtlich der Frage, wie es morgen weiter gehen soll. Ein interessanter Text aber und ein gelungenes Debüt ist nachts in jedem Fall. so lautete mein facit seinerzeit. es war ein buch, das mich ein wenig ratlos zurück ließ…

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  2. Mariki Author

    Das versteh ich gut! Ich hatte am Ende auch das Gefühl, dass vieles gesagt und sehr schön gesagt wurde, dass ich aber die EIGENTLICHE Geschichte nicht greifen konnte. Womöglich gibt es diese eigentliche Geschichte aber einfach gar nicht. Wunderbar zu lesen ist das Buch allemal!

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