Bücherwurmloch

„Irgendwann wird es immer wieder besser“
Tiff arbeitet als Klickworkerin für die Plattform Automa, weil sie einerseits ein kleines Kind und andererseits eine Angststörung hat, die sie daran hindert, die Wohnung zu verlassen. Deshalb kommt es ihr entgegen, dass sie sich nachts, wenn das Kind schläft, für verschiedene Jobs einloggen kann – die jedoch schlecht bezahlt und zermürbend sind. In der Chatfunktion der Plattform unterhält sie sich mit ihren Freunden, die auf der Welt verstreut leben und zu unterschiedlichen Zeiten wach sind. Was sie eint, ist nicht nur die prekäre Lebenssituation, sondern auch eine Art virtueller Zusammenhalt. Als sie auf den Videos einer Sicherheitskamera etwas beobachten, das sie nicht mehr loslässt, versuchen sie herauszufinden, was passiert ist.

„Dieses Buch ist ein Geniestreich“, habe ich geschrieben, als ich Berits Manuskript vorab lesen durfte, „vordergründig geht es um Kapitalismus, Digitalisierung und Angst, aber im Kern enthält es, was dabei oft vergessen wird: unsere Menschlichkeit.“ Jetzt muss ich erst einmal sagen, dass ich Berit Glanz schon lange bewundere, sie hat mich nämlich bereits mit ihrem Roman „Pixeltänzer“ (den ich euch sehr empfehlen kann!) überzeugt – und tut es jeden Sonntag mit ihrem Newsletter, mit dem sie mir erklärt, was ich die ganze Woche im Internet erlebt habe. Sie ist unglaublich schlau, hat ein beeindruckendes Spezialwissen zu Memes, Internetphänomenen und skandinavischen Sprachen und kann noch dazu ausgezeichnet schreiben. Mit ihrem neuen Roman hat sie mich überrascht: Die ganze Zeit habe ich gedacht, das wird böse enden, habe vor mir gesehen, in welche Richtung es gehen wird. Aber Berit hat einen anderen Weg eingeschlagen, und das rechne ich ihr hoch an. Ich finde es mutig von ihr, die Geschichte auf diese Weise zu Ende zu bringen, und ich hoffe, dass ihr alle diesen Roman lesen werdet. Weil er sich mit der Situation alleinerziehender Mütter auseinandersetzt, weil er neue Berufsgruppen durchleuchtet und weil er etwas hat, das uns allen fehlt: einen Hoffnungsschimmer. Großartiges Buch mit einem der schönsten Cover aller Zeiten!

Automaton von Berit Glanz ist erschienen im Berlin Verlag.

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„Und mir wurde klar, was ein Bett tragen muss, Knochen und Fleisch und Blut und alles, was ein Mensch gesehen hat“
Die Krankenschwester Meret hat eine besondere Position: Sie darf dem Arzt bei seinen experimentellen Operationen assistieren. Sie glaubt an ihn und seine neue Methode, den Menschen die Wut auszutreiben, indem er eine bestimmte Gehirnregion „einschläfert“. Und das ist schließlich besser für die Patientinnen – es sind eigentlich nur Frauen –, nicht wahr? Doch dann wird Meret im selben Schwesternheimzimmer wie Sarah untergebracht, und während sie sich anfangs monatelang nie sehen, weil die eine Tagdienst und die andere Nachtschicht hat, ändert sich das an Weihnachten: Plötzlich beginnt etwas zwischen ihnen, das Meret die Welt bedeutet. Das aber, ginge es nach den Ärzten, auch etwas wäre, das „eingeschläfert“ gehört.

„Von hinten siehst du ganz glücklich aus.“

Als ich mitbekommen habe, dass es einen neuen Roman von Yael Inokai geben wird, war ich irre gespannt. Sie hat mich bereits 2018 mit „Mahlstrom“ von ihrer elaborierten Schreibweise überzeugt. Das neue Buch ist ebenso lakonisch und nüchtern, gleichzeitig durchdrungen von Gefühl: von Zweifel und zunehmenden Gewissensbissen, von wachsender Vertrautheit und Liebe. Die Rahmengeschichte mit der operierten Patientin wird verwoben mit einer Lovestory, die sich entspinnt und mich sehr eingenommen hat. Sie ist feinsinnig und empathisch erzählt. Nicht ganz einordnen konnte ich die Handlung zeitlich, sodass mir nicht klar war, ob sich die beiden Liebenden in Gefahr befinden oder dank moderner Zeiten zusammensein könnten. Dies ist ein eindringliches, sinnliches Buch, elegant, schnörkellos und klug. Yael Inokai schreibt mit einer beneidenswerten Sicherheit, die Sätze sind schnurgerade, da sitzt jedes Wort. Absolute Empfehlung!

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„Da ist ein Puls in mir, der mich zurückbrachte an diesen Ort“
Jakob Kilv kommt zurück in das Alpendorf, in dem er aufgewachsen ist. Im Gepäck hat er nicht nur zahlreiche Erinnerungen, sondern genauso viele Fragen. Sie waren junge Männer, damals, als sie verhindern wollten, dass der Bolltner das Skigebiet vergrößert und der Natur in den Bergen weiter schadet. Auch Jakobs Vater, ein Vogelkundler, war mit von der Partie. An der Bürokratie und der Dorfpolitik sind sie gescheitert, doch aufgeben wollten sie nicht – und haben etwas Krasses geplant, das Aufmerksamkeit erregen sollte. Das ist auch gelungen, allerdings auf falsche Art und Weise. Was ist damals wirklich geschehen? Welche Rolle spielte Bruno? Und kann es für Jakob und seine Jugendliebe Liv einen Neuanfang geben?

„Man nimmt die, die man hatte, wenn niemand anderes bleibt.“

Ich habe mich sehr gefreut, dass es ein neues Buch von Willi Achten gibt, weil ich seine solide, beständig ruhige Art, zu schreiben, sehr mag. Nachdem sein letzter Roman emotional ein ziemlicher Schocker war, war ich froh, dass es in Rückkehr nicht so grausam zugeht, spannend ist das Buch aber allemal. Die klassische Ausgangssituation – einer kehrt heim in das Dorf, das er verlassen hat – wandelt Willi Achten in eine kluge Gesellschaftskritik und zeigt, wie im Sinne des Tourismus und des Kapitalismus unser Lebensraum nachhaltig zerstört wird. Das kenne ich als Österreicherin, die in einem Skigebiet aufgewachsen ist, nur allzu gut: Auf jedem Lift ein Hügel, und was dem Pistenvergnügen im Weg steht, wird radikal plattgemacht. Ohne Rücksicht auf Verluste handeln jedoch auch die Umweltschützer, denn die Geschehnisse werden für manchen zum Schauplatz des eigenen Egos, typisch toxische Männlichkeit. Ein rundum gelungenes, kluges Buch, das ich erneut sehr gern gelesen habe.

„Auch das, was wir nicht wissen, bestimmt unser Leben.“

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„Kein Mensch will wissen, wie es dir geht, vergiss das nicht“

„Die Heimvolkshochschule ist eine Naturkraft, eine Geliebte, mit der man nicht ernsthaft konkurrieren kann.“ Das merkt die Ich-Erzählerin, als sie mit ihrem kleinen Kind und ihrem Mann, der als Lehrer arbeitet, nach Velling ins Westjütland zieht. Er wird vom Verbund der Schule verschluckt, während sie nach Anschluss sucht zwischen Fahrstunden, Liedgut und schlaflosen Nächten. Als ihr angeboten wird, für die Zeitung den Job als Kummerkasten zu übernehmen, schreibt sie lange und kuriose Antwortbriefe auf Anfragen jeder Art.

„Die gesammelte Menge an Dunkelheit zwischen zwei Menschen darf nicht größer werden als die Liebe.“

Sie lernt, sich zurechtzufinden im dörflichen Smalltalk, bei dem man nicht zu viel und nicht zu wenig verraten darf, versucht sich am Spagat zwischen der Notwendigkeit, sich anzupassen, und dem Bedürfnis, für sich einzustehen – und entdeckt am Ende doch noch ihre Zuneigung zu dem kleinen Ort und seinen Leuten.

„Die Welt ist voller freundlicher Menschen, die bereit sind, uns bei den Herausforderungen des Daseins zur Seite stehen.“

Es gibt Bücher, die haben etwas ungemein Zauberhaftes. Sie kreieren eine heiter-leichte Atmosphäre, kommen zart angehopst und haben es in Wahrheit faustdick hinter den Ohren. Ein solcher Roman ist „Meter pro Sekunde“ von Stine Pilgaard, die damit in Dänemark sehr erfolgreich war. Zu Recht, möchte ich sagen, mehr als einmal hat sie mich zum Schmunzeln gebracht mit ihrer spleenigen Ich-Erzählerin, die stets das Unerwartete tut und das Unsagbare ausspricht. Das ist schräg, kauzig, verschroben und liebenswert, verpackt in den kühlen Charme des Nordens. Scandinavian weirdness und merkenswerte Zitate wie „Ständig von glückstrunkenen Menschen umgeben zu sein, fügt einem bleibende Schäden zu“ oder „Es ist fast bewundernswert, wie unermüdlich du deine Fehler wiederholst“ sind das Geheimnis hinter diesem herzerwärmenden Buch über eine, die dazugehören will – aber nicht um jeden Preis. Schöner Feel-good-Roman!

Meter pro Sekunde von Stine Pilgaard ist erschienen im kanon Verlag.

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„Da ist eine Leere. Die ist schon seit einer ganzen Weile da, auch als sein Vater noch lebte“

„Den Deutschen hier ist scheißegal, wie viele Sprachen wir sprechen oder zu wem wir beten. Sie sehen uns als Scheißtürken, also sind wir Scheißtürken. Fertig.“

Das bekommt Sevda zu hören, als sie von ihrem Vater endlich nach Deutschland nachgeholt wird – zuerst hatten ihre Eltern die Dreizehnjährige allein bei Verwandten zurückgelassen. Zu ihrer Mutter Emine kann sie keine Beziehung aufbauen, und da sie nicht zur Schule darf, versauert sie in der Küche, sieht das gelobte Deutschland nur durch die Fensterscheibe. Nicht viel später wird Sevda verheiratet an einen Mann, der sie und die gemeinsamen Kinder ins Unglück stürzt. Glücklich sind auch Sevdas Geschwister nicht: Ümit ist verliebt in einen anderen Jungen und wurde bloßgestellt, Hakan hat immer nur Mist gebaut, und Peri rebelliert gegen die Familie, gegen das System, das Patriarchat. Alle versammeln sie sich nach Jahren des Getrenntseins in Istanbul, denn Hüseyin ist gestorben. Nachdem er jahrzehntelang in Deutschland gebuckelt und gehackelt hat, konnte er sich endlich die lang ersehnte Wohnung in der Türkei leisten – doch kaum war er dort angekommen, starb er an einem Herzinfarkt.

„Aber es war doch Liebe, so wie es an irgendeinem Punkt immer Liebe sein wird, wenn zwei Menschen nur lange genug Zeit miteinander verbringen, sich einander von ihrer besten und ihrer hässlichsten Seite zeigen, sich streiten und versöhnen, einander verletzen und verzeihen.“

Sevdas Name bedeutet Liebe, und das ist vielleicht die größte Ironie: Fatma Aydemir, die mich vor Jahren bereits mit Ellbogen beeindruckt hat, erzählt von einer Familie, durch die ein gewaltiger Riss geht. Einer Migrantenfamilie, einer Arbeiterfamilie, in der jegliche Liebe erstickt wird vom Zwang, Geld verdienen zu müssen, von der Ausländerfeindlichkeit der Deutschen, von der Angst, dem Gefühl des Fremdseins, von dem Druck, den die Eltern auf die Kinder ausüben und vom Schweigen, das über allem liegt. Jede:r kommt einmal zu Wort, den Rahmen bilden Hüseyin und Emine, die es gut gemeint haben irgendwann, die es richtig machen wollten. In einer flüssigen Sprache, die sehr genau hinschaut, schreibt Fatma Aydemir vom endlosen Schmerz der Heimatlosigkeit, von Verrat und der Unmöglichkeit, miteinander zu reden. Auch wenn mir das Ende viel zu dramatisch war, habe ich Dschinns mit Begeisterung und großem Gewinn gelesen.

„Weil man nur dort zuhause war, wo man jemanden hatte, der einen verstand.“

Dschinns von Fatma Aydemir ist erschienen bei Hanser.

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„Sie entfernen mich immer weiter von etwas, das ich mir einmal unter Professionalität vorgestellt habe“
Valerie Vogler ist verblüfft und aufgeregt: Sie wurde eingeladen, nach Spitzbergen zu reisen, in die Werkstatt des Künstlerkollektivs AURORA. Niemand weiß, wer hinter diesem Namen steht, wer die Künstler sind, die die höchsten Preise auf dem Kunstmarkt erzielen für ihre Werke. Eine Woche soll Valerie bleiben, und alles soll sie per Hand dokumentieren. Dies ist also ihr Journal, in dem sie erzählt, was geschieht: dass sich hinter AURORA vier Männer verbergen, dass sie eine leere Leinwand füllen wollen, dass Valerie Teil davon sein soll. Nun ist es generell bereits gefährlich, sich als Frau allein mit vier Männern in einem abgeschiedenen Ort zu befinden, in dem es permanent dunkel ist, aber dann kommen auch noch die Eisbären – und Valerie klettert durch die Falltür in einen Keller …

Constantin Schwab hat einen schmalen Roman verfasst, bei dem ich anfangs dachte: Uh, wenn ein Mann aus der Sicht einer Frau als Ich-Erzählerin schreibt, ist das erfahrungsgemäß oft schwierig. Schnell mochte ich aber den Ton, den er angeschlagen hat, und auch, dass Valerie sich nicht immer so verhält, wie man es erwartet. Das ist genau die richtige Mischung aus Rätselraten und Weirdness, die das Buch lesenswert macht – allerdings hat er sich für ein arg vorhersehbares Ende entschieden, das das Ganze für mich ausgehebelt hat. Einen solchen Schluss haben Bücher dieser Art wirklich IMMER, da fand ich es ein wenig schade, dass ihm nichts Originelleres eingefallen ist. Nichtsdestotrotz eine spannende, mysteriöse Geschichte mit guten Thriller-Elementen, die man schnell weggezischt hat für den kurzen Gruselfaktor zwischendurch.

Das Journal der Valerie Vogler von Constantin Schwab ist erschienen bei Droschl.

Bücherwurmloch

„Ideal für den Heiratsmarkt sind Frauen mit geringer Vitalität. Solche, die eher tot als lebendig sind“
Rika ist Journalistin in Tokio und stößt auf den Fall von Manako Kaji, die für Aufsehen gesorgt hat, weil drei an ihr interessierte Männer auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen sind. Obwohl man ihr keinerlei Tötungsabsicht nachweisen konnte, sitzt Kaji im Gefängnis. In erster Linie ist die Öffentlichkeit jedoch schockiert, weil sie so gerne kocht und isst und nicht – japanischem Standard zufolge – dünn ist. Die kleinen, sehr zarten Frauen sollen, auch Rika, sich zusammenreißen und Diät halten. Wir sprechen hier davon, dass Rika nicht mehr als 55 Kilo wiegen darf, dann gilt sie bereits als dick. Es gelingt ihr, Kontakt zu Kaji herzustellen, die sehr von sich eingenommen und sprunghaft ist. Sie zwingt Rika erst einmal dazu, Butter zu kaufen und zu essen.

„Eine Frau musste schon sehr resolut sein, um sich zu entscheiden, keine Diät zu machen und einfach dick zu sein.“

Rika entdeckt dadurch neue kulinarische Genüsse, bekommt Probleme mit ihrem Partner und ihrer besten Freundin, weil sie mehr wiegt, setzt sich mit der Lage der Frau in Japan auseinander und macht sich schließlich auf, alles über Kajis Vergangenheit herauszufinden.

„Von Japanerinnen wird verlangt, geduldig, fleißig und leidensfähig zu sein und sich zugleich weiblich, nachsichtig und fürsorglich gegenüber Männern zu verhalten.“

Butter von Asako Yuzuki hat mich arg genervt. Ich finde die Ausgangsidee genial und auch viele Gedanken, die das Buch transportiert, wichtig: Dass da zwei Frauen miteinander reden, dass die eine die andere dazu inspiriert, zu essen, zu genießen, sich aufzulehnen, Raum einzunehmen. Doch so einfach ist es nicht, denn der Roman ist langatmig und kommt nicht zum Punkt – er hat mich sehr an Brüste und Eier von Mieko Kawakami erinnert, die ihre zentrale Botschaft auch mit viel Belanglosem zugedeckt hat. Die Butter als Metapher für das „Dicksein“ ist so überstrapaziert, irgendwann dachte ich: Wenn noch einmal das Wort Butter vorkommt, schreie ich. Asako Yuzuki winkt nicht mit dem Zaunpfahl, sie schlägt einem permanent damit ins Gesicht, und Plot holes hat die Geschichte auch noch. Aber: Es geht um Körperwahrnehmung und Frauen, die sich wehren, es geht um weibliche Wut und die wahnsinnigen Anforderungen an Japanerinnen. Darüber zu schreiben, ist wichtig, darüber zu sprechen, ist essenziell. Für einen Roman wäre mir eine knappere, spannendere Form allerdings lieber gewesen.

Buttervon Asako Yuzuki ist erschienen bei Aufbau.

 

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Ich lese selten bis nie Comics, aber einen über weibliche Wut? Den musste ich natürlich haben. Und was soll ich sagen: Wow. Wie Anna Geselle zeichnet und schreibt, aufbereitet und informiert, ist sensationell. Es geht um Historisches und Philosophisches, um Traditionelles und Heutiges. Wann hat das angefangen, dass die Wut der Frauen kleingehalten wurde – und warum? Wer profitiert davon und wieso? Was haben Seneca und Freud damit zu tun? Wer war Guillaume Benjamin Duchenne de Bologne und was ist eine Ovarienpresse? Kurz und knackig wird erklärt, worauf die Verbannung der weiblichen Wut fußt, und ich muss sagen, das in Comic-Form zu lesen, ist richtig gut. Erzählt wird zum Beispiel, wie grausam die Behandlung war, mit denen man Frauen ihre „Hysterie“ aberziehen wollte, wie sich Fruchtfliegen, Hyänen und Mäuse verhalten und was es mit She-Hulk auf sich hat, erschienen im Jahr 1980.

Auf den Spuren von Popkultur und Geschichte wird die Dämonisierung der Frauen – man denke an die Hexenverbrennung – aufgerollt, und Anna Geselle stellt die Frage, wieso wir sie uns gefallen lassen durch die Jahrtausende bis hin zur Moderne. Auch heute ist für weibliche Wut kein Platz in unserer Gesellschaft, schon kleinen Mädchen wird sie abgesprochen. Das ist natürlich praktisch für das System, denn wer nicht zornig sein darf, kann auch nicht aufbegehren. „Furiositäten“ ist ein feministisches Sachbuch in Comic-Form, das einen sehr guten Überblick vermittelt. Das Erste, was ich damit tun werde, ist: es meiner Tochter geben.

(Rezensionsexemplar, das Buch ist ausschließlich erhältlich über eine Mitgliedschaft der Büchergilde, wobei man keinen Beitrag bezahlt, sondern einfach ein Buch im Quartal kauft)

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„Für die Liebe musst du auch ins Wasser steigen, obwohl du müde bist“
Über Nene gibt es Folgendes zu wissen: Sie ist Anfang zwanzig, arbeitet als Bademeisterin und versucht zu vergessen. Dass ihr Vater sie durch ihre Kindheit geprügelt hat, dass ihre Mutter gestorben ist, dass sie auf einem Spielplatz vergewaltigt wurde. Als sie im Schwimmbad Boris kennenlernt, der Augen hat wie ein Puma und an den Folgen der Kinderlähmung leidet, an der er als Zweijähriger erkrankt ist, könnte eigentlich alles gut werden. Nene und Boris könnten sich verlieben, sich treffen, ins Kino gehen, Sex haben, ein Paar werden. Aber so einfach ist das nicht, denn beide tragen schwer an ihren Traumata. Wenn sie ins Kino gehen, endet das im Desaster, und ihre Sexversuche bleiben bei Versuchen. Trotzdem ist da diese starke Anziehungkraft, die Nene spürt und wegen der sie sich weiter um Boris bemüht, über alle Hindernisse hinweg.

Nordstadt von Annika Büsing hat mich in ein Wechselbad der Gefühle getaucht: Auf den ersten Seiten mochte ich es sehr, dann hat es mich wahnsinnig genervt, gleich darauf war ich erneut begeistert. Nene ist eine authentische Ich-Erzählerin mit einem recht rauen Ton, aufgewachsen ohne Privilegien, in einem Umfeld voller Gewalt und Missbrauch. Das einzufangen, ist Annika Büsing – selbst als Arbeiterkind im Ruhrgebiet aufgewachsen – sehr gut gelungen. Schwierig war für mich während der Lektüre, eine Einstellung zu finden zu der Beziehung zwischen Nene und Boris, denn auch wenn vieles aufgrund ihrer seelischen Probleme nachvollziehbar sein mag, ist diese Beziehung doch zutiefst toxisch. Wie schlecht Boris Nene behandelt, wie er sie ghostet und seine Launen an ihr auslässt, ist kaum zu ertragen. Sollte ich mir trotzdem wünschen, die beiden würden zusammenkommen? Faszinierend ist, wie es der Autorin auf gerade mal 120 schmalen Seiten gelingt, eine Liebesgeschichte zu entwickeln, die so unaufgeregt ist und dennoch einer Achterbahnfahrt gleicht. Ein Buch, das mich beschäftigt hat.

Nordstadt von Annika Büsing ist erschienen im Steidl Verlag.

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„Sie verfügte über eine neue Macht, wo doch ihr ganzes Wesen – als Frau, als Arme – sie von jeher zur Unterdrückung verurteilt hatte“

Um dieser Unterdrückung zu entgehen, beschließt Sarah, reich zu heiraten. Sie lebt im Armenviertel von Casablanca, doch das darf niemand wissen. Zu Fuß geht sie zwei Stunden zum Gymnasium und zurück, wenn ihr das Geld für ein Taxi fehlt. Dieses Geld kann sie nur von Jungs bekommen, die sie dafür küssen muss oder ein bisschen mehr. Dafür erhält sie Zuwendung und Essen, so funktioniert nun einmal der Austausch. Sarah ist Anfang zwanzig und hübsch, Driss dagegen ist in den Augen aller hässlich – aber reich. Deshalb hat Sarah ihn zum zukünftigen Ehemann auserkoren und setzt alles daran, seine Freundin zu werden.

„Jungs, die lieben, möchten von solchen Dingen nichts wissen, Sarah kannte das schon; sie wollen beschwingt lieben, so wie man eine Blume liebt; und so können sie monatelang lieben, solange sie nichts von den Wurzeln wissen, von der Rückseite der Haut und dem Staub.“

Wie Sarah sich verbiegt, wie Sarah rechnet und aufwiegt, wie sie diesen Handel betreibt von sexuellen Handlungen gegen ein Mittagessen, verfolgt Abigail Assor, selbst in Casablanca geboren, sehr aufmerksam. Ihre Protagonistin ist ein Opfer des Systems, in doppeltem Sinne: Als unverheiratete Frau hat sie im muslimischen Casablanca keinen Stellenwert, darf nicht einmal ein Restaurant betreten, und weil sie arm ist, fehlen ihr die Perspektiven. Sie will nicht enden wie ihre Mutter, die von Männern ausgenutzt und brutal verprügelt wird, und doch tut sich eine Wand vor ihr auf, die unüberwindbar scheint. Denn die Gesellschaft kann nicht zulassen, dass Mädchen wie sie es „nach oben“ schaffen, gehören sie doch der allgemeinen Meinung nach in den Dreck. Das alles ist recht blumig und pathetisch beschrieben, mir persönlich ist der Teil, in dem Sarah täglich auf Kosten von Driss isst, um einiges zu lang, im Endeffekt hat das Buch aber zwei Stärken: zum einen die ungewöhnliche, hitzige Kulisse von Casablanca, die Abigail Assor aufleben lässt, zum anderen die klare Darstellung einer ungeschönten Wahrheit. Dass Frauen im Patriarchat die Verliererinnen sind, in jeder Hinsicht.

So reich wie der König von Abigail Assor ist erschienen bei Insel (Suhrkamp).