Bücherwurmloch

Willi Achten: Die wir liebten

„Ein Abend im Mai hatte ihr Leben und unseres in den Sturm gestellt“
Denn an diesem Abend im Mai hat der Vater von Edgar und Roman mit der Tierärztin getanzt, vor den Augen der Mutter, vor den Augen aller – und sich in sie verliebt. Es ist eine Verkettung wirklich unglücklicher Umstände, die an diesem Abend ihren Ausgang nimmt – und letztlich dazu führt, dass die beiden Brüder, noch nicht ganz volljährig, plötzlich ins Heim verfrachtet werden. Das Jugendamt hat die beiden nach ein paar pubertären Streichen beobachtet, und weil der Vater sich entzieht und die Mutter in ihrer Verzweiflung anfängt zu trinken, werden Edgar und Roman gegen ihren Willen von zuhause fortgebracht – alte politische Streitigkeiten im Hintergrund tun ihr Übriges. Denn wir schreiben das Jahr 1972, und die Zeit der Nationalsozialisten ist noch nicht allzu lange her. Die Menschen wissen noch, wer damals auf welcher Seite stand – und wer was getan hat. Das finden die Brüder auch im Heim schnell heraus: dass die Vergangenheit dort noch lange nicht ruht.

„Der Flur in dem dreistöckigen Bau mit den hohen Fenstern stank. Nicht nach Schmutz, nicht nach Erbrochenem oder Krankheit, er stank nach Angst. Wir konnten sie riechen.“

Jeden Tag erleben sie Grausamkeiten aller Art, mit den Buben wird nicht zimperlich umgegangen. Die Heimleiter sind Sadisten, und sie haben eine Menge zu verbergen. Als Edgar und Roman herausfinden, was das ist, verschärft das die Gefahr, in der sie sich befinden, noch mehr.

„Es ist wichtig, dass dein Gegner dich nicht in vollem Maße kennt, das sollte ich später begreifen. Du musst ein Rätsel bleiben.“

Willi Achten hat ein Buch geschrieben, das sich anfühlt wie zwei eiserne Hände am Hals, die von Seite zu Seite mehr und mehr zudrücken. Es fängt so heiter an, wir lernen eine glückliche Familie kennen, doch das drohende Unheil schwingt bereits in jeder Zeile mit. Und als es dann kommt, ist es, obwohl man es erwartet hat, dennoch furchtbar: Ich glaube manchmal, gewisse Kinderheime sind, wo auch immer auf dieser Welt, die schrecklichsten Orte, an denen man landen kann. Die völlige Entmenschlichung der Kinder, die unfassbare Brutalität der Erwachsenen beschreibt Willi Achten so eindrücklich, dass ich immer nur stückweise davon lesen konnte und den Roman dann zur Seite legen musste – um wieder zu Atem zu kommen. Der deutsche Autor, der mich bereits mit Nichts bleibt begeistert hat, hat erneut bewiesen, dass er vor ernsten, heftigen Themen keine Angst hat – ganz im Gegenteil: Er widmet sich ihnen mit Aufmerksamkeit, Herz und Verstand. Denn das Schlimme an diesem Buch ist, dass man – so fiktiv es sein mag – genau weiß: Diese Dinge sind so geschehen.

„Der erste Eindruck, der erste Blick in sein und in unsere Gesichter würde entscheidend sein. In der ersten Sekunde kann man sich kaum verstellen, sitzt die Wahrheit, hockt das eigentliche Befinden in den Zügen und in den Augen. Erst wenn man spricht, kann man sich hinter den Worten verstecken und eine Tarnung einnehmen, die zunächst noch brüchig, dann fixiert ist, wie eine Maske, wenn man geschickt in solchen Dingen ist. Ich war es nie, Roman schon.“

Die wir liebten von Willi Achten ist erschienen bei Piper.

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