„Für die Liebe musst du auch ins Wasser steigen, obwohl du müde bist“
Über Nene gibt es Folgendes zu wissen: Sie ist Anfang zwanzig, arbeitet als Bademeisterin und versucht zu vergessen. Dass ihr Vater sie durch ihre Kindheit geprügelt hat, dass ihre Mutter gestorben ist, dass sie auf einem Spielplatz vergewaltigt wurde. Als sie im Schwimmbad Boris kennenlernt, der Augen hat wie ein Puma und an den Folgen der Kinderlähmung leidet, an der er als Zweijähriger erkrankt ist, könnte eigentlich alles gut werden. Nene und Boris könnten sich verlieben, sich treffen, ins Kino gehen, Sex haben, ein Paar werden. Aber so einfach ist das nicht, denn beide tragen schwer an ihren Traumata. Wenn sie ins Kino gehen, endet das im Desaster, und ihre Sexversuche bleiben bei Versuchen. Trotzdem ist da diese starke Anziehungkraft, die Nene spürt und wegen der sie sich weiter um Boris bemüht, über alle Hindernisse hinweg.
Nordstadt von Annika Büsing hat mich in ein Wechselbad der Gefühle getaucht: Auf den ersten Seiten mochte ich es sehr, dann hat es mich wahnsinnig genervt, gleich darauf war ich erneut begeistert. Nene ist eine authentische Ich-Erzählerin mit einem recht rauen Ton, aufgewachsen ohne Privilegien, in einem Umfeld voller Gewalt und Missbrauch. Das einzufangen, ist Annika Büsing – selbst als Arbeiterkind im Ruhrgebiet aufgewachsen – sehr gut gelungen. Schwierig war für mich während der Lektüre, eine Einstellung zu finden zu der Beziehung zwischen Nene und Boris, denn auch wenn vieles aufgrund ihrer seelischen Probleme nachvollziehbar sein mag, ist diese Beziehung doch zutiefst toxisch. Wie schlecht Boris Nene behandelt, wie er sie ghostet und seine Launen an ihr auslässt, ist kaum zu ertragen. Sollte ich mir trotzdem wünschen, die beiden würden zusammenkommen? Faszinierend ist, wie es der Autorin auf gerade mal 120 schmalen Seiten gelingt, eine Liebesgeschichte zu entwickeln, die so unaufgeregt ist und dennoch einer Achterbahnfahrt gleicht. Ein Buch, das mich beschäftigt hat.
Nordstadt von Annika Büsing ist erschienen im Steidl Verlag.