Netter Versuch: 2 Sterne

Ein Jugendbuch über eine Kämpferin
Als die 16-jährige Jenna im Krankenhaus erwacht, ist ihr Leben auseinandergerissen: Sie hatte zusammen mit ihrer Mutter einen schweren Autounfall auf einer Brücke. Jenna hat überlebt – ihre Mutter nicht. Die sportliche Schülerin kann das Trauma nur schwer verarbeiten. Sie hat Probleme mit dem Laufen, kein Zuhause mehr, und ihr Vater will sie zu sich und seiner neuen Familie holen, wo Jenna jedoch keinen Platz für sich sieht. Also setzt sie durch, dass sie zu ihrer Tante Caroline ziehen darf. In der neuen Schule trifft Jenna auf die drogensüchtige Trina, die ihre Freundin wird – und sie mit sich in den Abgrund zieht. Nur der charismatische Crow könnte Jenna vielleicht aus ihrer Traurigkeit befreien …

Der (ewig lange) Titel dieses Buchs ist Programm: Ein 16-jähriges Mädchen versucht, mit dem Schlimmsten, das ihm passieren konnte, zurecht zu kommen, verliert sich dabei in Drogen und Gewalt, und schafft es schließlich, wieder ein normales Leben zu führen – auch dank zarter Liebesgefühle. Für ein Jugendbuch ist der Stil angenehm poetisch und erwachsen – dennoch verlässt Joyce Carol Oates die Zielgruppe, für die sie schreibt, nicht. Einige Formulierungen und Gedanken wirken wie aus einem Teenager-Tagebuch übernommen, voller Selbstzweifel und Selbstmitleid, ganz ohne das Verständnis für die Macht der Zeit, Wunden zu heilen, wie man es für gewöhnlich im Erwachsenenalter hat.

Ich muss gestehen, dass ich zwar neugierig auf diese Autorin war, die so hochgelobt wird, dass für mich persönlich ein solches Buch aber letztlich leider zu banal ist. Die Spirale aus Selbstverletzung, in die Jenna gerät, und die Anziehung, die die falschen Freunde auf sie ausüben, sind mir zu typisch und klischeehaft, das Ende ist – natürlich – sehr vorhersehbar. Es hat mich außerdem eher negativ überrascht, einen Roman zu lesen, der – zwar subtil, aber dennoch – einen moralisch erhobenen Zeigefinger durchscheinen lässt und auf das so amerikanische Thema “Du kannst alles schaffen, wenn du dich nur bemühst und auf dem rechten Weg bleibst” pocht. Gut geschrieben und glaubhaft gemacht – aber so gar nicht meins.

Bücherwurmloch

Was ist dein Lieblingsbuch 2010?
Das Jahr geht zu Ende! Zeit für ein Fazit: ein literarisch-leserisches. Welches Buch hat euch 2010 beeindruckt, berührt und begeistert? Was ist euer diesjähriger Favorit? Ich bin gespannt und neugierig auf die Bücher, die sich euch ins Herz geschlichen haben!

Gerade habe ich schon herumposaunt, dass ich 105 Bücher gelesen habe (ich kann es noch immer kaum glauben!), aber als leidenschaftliche Sammellistenschreiberin muss ich natürlich auch die besten der Besten auflisten. 15 Gustostückerl habe ich in diesem Jahr mit 5 Punkten bewertet. Das sind meine Lieblingsbücher 2010 (die Reihung dürft ihr auch ein bisschen als Reihung verstehen):

1. Chris Cleave: Little Bee
2. David Benioff: Stadt der Diebe
3. Colum McCann: Zoli
4. Jan Christophersen: Schneetage
5. Carla Guelfenbein: Der Rest ist Schweigen
6. Daniel Alarcón: Lost City Radio
7. Markus Zusak: The book thief
8. Per Petterson: Ich verfluche den Fluss der Zeit
9. Milena Agus: Die Flügel meines Vaters
10. Rose Tremain: Der weite Weg nach hause
11. Edward Carey: Alva & Irva
12. Jón Kalman Stefánsson: Das Licht auf den Bergen
13. Ruth Cerha: Kopf aus den Wolken
14. Amanda Shters: Die Geisterstraße
15. Elisabeth Rank: Im Zweifel für dich selbst

Auf ein gutes neues prall mit Büchern gefülltes Jahr!

Bücherwurmloch

Das Jahr der 105 Bücher
Rekorde sind ja da, um gebrochen zu werden. Vor allem die persönlichen. Und in diesem Jahr habe ich mich selbst übertroffen: Auf immerhin 82 Bücher hatte ich es im Jahr 2004  (der Beginn der Auflistung) und im Jahr 2009 gebracht, diesmal sind ganze 105 durch meinen Bücherwurmmagen gewandert. Alle ausgelesen selbstverständlich. Viele haben gemundet, andere sind mir eher sauer aufgestoßen. Alles in allem war es ein wunderbar lesereiches Jahr!

Und da ich Anfang 2010 bei Karla von ihrem Vorsatz gelesen habe, beim Seitenzählwettbewerb mitzumachen und 50.000 Leseseiten zu schaffen, habe ich heuer nicht nur die verspeisten Bücher, sondern auch ihre Seiten gezählt: Zusammen ergeben die 105 Bücher 29.777 Seiten. Das ist viel. Finde ich. Und ich frage mich, ob und wie Karla es geschafft hat, tatsächlich 50.000 zu lesen! Falls es ihr gelungen ist, Respekt. Ich bin aber mit meiner Anzahl durchaus zufrieden. Und fürchte, dass ich das in den nächsten Jahren nicht werde toppen können …

Momentan habe ich ja nicht mal zum Bloggen Zeit. Der Grund dafür ist ein sehr lebhafter, der am 15. November zur Welt gekommen ist und mich Tag und Nacht beschäftigt! Deshalb sind schlimmerweise noch 14 gelesene Bücher zum Rezensieren ausständig. Ich hoffe, ich kann den Stapel nach und nach abarbeiten:

Joyce Carol Oates: Nach dem Unglück schwang ich mich auf, breitete meine Flügel aus und flog davon
Manfred Baumann: Jedermanntod
Hideo Okuda: Die seltsamen Methoden des Dr. Irabu
Claire Kilroy: All names have been changed
Izzet Celasin: Schwarzer Himmel, schwarzes Meer
Jan Christophersen: Schneetage
Aline Sax: Eine Welt dazwischen
Mohammed Hanif: A case of exploding mangoes
Ruth Cerha: Kopf aus den Wolken
Liz Jensen: My little dirty book of stolen time
Alice Greenway: White ghost girls
Martin Suter: Ein perfekter Freund
Steven Toltz: A fraction of the whole
Angelika Overath: Alle Farben des Schnees

Bücherwurmloch

Wer hat einen Lesetipp für mich?
Es ist ein ganz dramatischer Moment für einen Bücherwurm: Wenn man merkt, dass der Lesestoff im SuB zur Neige geht. Was natürlich nur bedeutet, dass immer noch mindestens zehn Bücher zur Auswahl stehen. Da fangen die Hände an zu zittern. Das Atmen fällt schwer. Und Panik ist im Anmarsch. Wie bei einem Raucher, der nur noch drei Nikotinlieferanten in der Packung hat – er wird wahrscheinlich auch beginnen, sich nach einem Automaten oder Trafikanten umzusehen. Deshalb war ich heute in der Buchhandlung. Allein: Gefunden hab ich nichts. Was da in den Regalen stand, kannte ich entweder schon oder hat mein Interesse nicht geweckt. Schließlich bin ich schon lange süchtig und brauche den besonderen Kick, neu muss mein Stoff sein, anders, aufregend, von ausgezeichneter Qualität. Ich hoffe auf euer Dealer-Insiderwissen. Rettet mich mit ein paar Empfehlungen aus der Misere, bitte!

Bücherwurmloch

Eine kleine, aber feine Auszeichnung …
… hat mir Ada mit dem Blog-Award verliehen. Vielen Dank dafür! Ich freue mich, dass ich in der virtuellen Welt der Bücherblogger freundlich gesinnten Anschluss mit gutem Lesegeschmack gefunden habe. Deshalb reiche ich den Blog-Award gleich weiter an 10 Bücher-Blogs, die ich gern besuche:


Ein Buch muss die Axt sein
Buchkolumne
aus.gelesen
Bibliophilin
Klappentexterin
Blücher
Gedankenspinner
Das Literaturblog
Libromanie
Read that

Für Gourmets: 5 Sterne

Ein Buch wie eine Laterne, ein Streicheln, eine Axt
“Most days I wish I was a British pound coin instead of an African girl.” So beginnt Little Bees Erzählung und für ihren Wunsch hat sie allen Grund: Im Gegensatz zu einem Pfund will niemand ein illegales afrikanisches Mädchen im Inselkönigreich. Und genau das ist die 16-jährige Little Bee nach ihrer Freilassung aus dem “detention center”, in dem sie seit nach ihrer Flucht aus Nigerien und ihrer Ankunft in England zwei Jahre verbracht hat. Sie ist Spezialistin geworden im Aufspüren von Möglichkeiten, sich umzubringen, jederzeit und an jedem Ort, sollte es plötzlich nötig sein. Es gibt nur zwei Menschen, die sie in Großbritannien kennt: Sarah und Andrew. Sie trafen sich einst an einem Strand in Nigerien, und das Schicksal hat sie untrennbar miteinander verbunden. Als Little Bee bei Sarah auftaucht, wird diese von den damaligen Ereignissen eingeholt. Und Andrew ist plötzlich tot.

Es ist ein vielzitierter Satz von Kafka, den ich hier bemühen will: Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. Ein solches Buch ist Little Bee. Es ist eindrucksvoll, zermürbend, erschütternd und traurig – ein Buch, das man nicht so schnell vergisst, nach Möglichkeit nie. Aus diesem Grund habe ich mich nicht an die Bitte im Klappentext gehalten, nichts über den Inhalt zu verraten: Zwar halte ich das für einen originellen Marketingtrick (der zumindest bei mir funktioniert hat, ich wusste nicht, was mich erwartete), aber dieser Roman ist einfach zu schön und zu wertvoll, um über seine Bedeutung zu schweigen. Im Gegenteil, mögen alle wissen, worum es geht, und sich angezogen fühlen, damit sie Little Bee lesen, darüber sprechen, es weiterempfehlen und verschenken. Dies ist ein Roman über Intoleranz und Grausamkeit, über Fremdenhass und die Heimatlosigkeit von Flüchtlingen, über Schuld und Egoismus. Dies ist ein wichtiger Roman, der herausstechen sollte aus der Masse der Publikationen.

“Everything was happiness and singing when I was a little girl. There was plenty of time for it. We had no hurry. We did not have electricity or fresh water or sadness either, because none of these had been connected to our village yet.” Es ist die Gier, die Little Bees Leben zerstört, die Gier nach Öl – das ihr in der Form von Benzin in England wieder begegnet. Dort ist das Leben trist für einen illegalen Flüchtling wie sie: “I was thinking, if the head of the United Nations telephoned one morning and said, Greetings, Little Bee, to you falls the great honor of designing a national flag for all the world’s refugees, then the flag I would make would be gray.” Diese schmerzhafte Geschichte wird aus der Perspektive von Little Bee und jener von Sarah erzählt, die mit dem Selbstmord ihres Mannes einen Albtraum erlebt: “A week ago I had been a successful working mother. Now I was sitting at my husband’s funeral, flanked by a superhero and a Nigerian refugee.” Ihr vierjähriger Sohn Charlie weigert sich, sein Batman-Kostüm auszuziehen: Nichts hätte er dann der grausamen Welt mehr entgegenzusetzen. Und Sarah beginnt einen aussichtslosen Kampf: Sie will Little Bee helfen.

Was würdest du tun, um das Leben eines Fremden zu retten? Das ist die Frage, die Chris Cleave dem Leser stellt. Wo hört das Wegschauen auf, wo fängt die Verantwortung eines jeden von uns an? Little Bee ist ein Buch über Menschlichkeit, ein leuchtendes Buch, von dem ich wünschte, alle könnten es lesen, besonders die Ausländerbespucker und Flüchtlingshasser, damit sie für einen Moment spürten, wie es sich anfühlen muss, heimatlos zu sein, allein, voller Angst und verloren. Mit dieser aufschreckenden und anrührenden Geschichte sticht der Autor jedem, der ein Herz hat, mitten hinein. Er erzählt auf direkte Weise von Terror und Trauer, findet dabei wunderschöne Worte und legt jenen tragischen Humor über seinen Bericht, der von menschlicher Größe zeugt. Ich bin begeistert, beeindruckt, berührt, ich verneige mich. Mein Buch des Jahres 2010.

Lieblingszitat: If your face is swollen from the severe beatings of life, smile and pretend to be a fat man. (Nigerian proverb)

Prost Mahlzeit: 1 Stern

Weiß und Schwarz und alles dazwischen
Marion lebt in Südafrika und führt erfolgreich ein Reisebüro – und das, obwohl sie selbst das Reisen hasst und es noch nicht einmal schafft, einen Wochenendausflug zu machen. Dazu würde sie ihr Freund Geoff ganz gern überreden, doch Marion weiß nicht einmal, wie ernst ihr die Beziehung zu ihm ist. Sie ist einigermaßen behütet aufgewachsen, ihre Mutter Helen ist an Krebs verstorben, ihr Vater John hat sich in die Einsamkeit zurückgezogen, aus der ihn nur Marions Besuche reißen. Durch ein mysteriöses Foto in der Zeitung wird sie auf die Geschichte ihrer Familie aufmerksam und beginnt gemeinsam mit ihrer Mitarbeiterin Brenda zu recherchieren: Waren ihre Eltern wirklich so “weiß” wie gedacht?

Playing in the light wäre im besten Fall ein guter Roman über die Apartheid in Südafrika, über die Rassengesetze und ihre Auswirkungen bis in die heutige Zeit. Ansatzweise ist es auch gelungen, dieses interessante Thema zu bedienen – gesamt gesehen bleibt das Buch allerdings oberflächlich und bedeutungslos. Marion ist eine eigenartige Protagonistin, zu der ich nicht den geringsten Zugang finde. Ihre Handlungen sind sprunghaft, ihr Seelenleben verwirrend. Zoe Wicomb fährt keine gerade Linie, die Ereignisse sind daher für mich manchmal nicht nachzuvollziehen. Da Marion sich an zu wenig aus ihrer Vergangenheit erinnern kann und bei ihrer Suche nicht allzu viele Antworten findet, bleibt das meiste auch am Ende Spekulation. Und selbst wenn ich nicht ganz unwissend bin, was die Apartheid betrifft, fehlt mir doch an der einen oder anderen Stelle eine umfassende Erklärung über die geschichtlichen Hintergründe. Die Geschichte fesselt nicht, der Stil ist zäh und langweilig. Schade ist, dass die Thematik über Menschen, die hellhäutig genug sind, um sich als Weiße auszugeben und die dann ihr Leben in Angst verbringen, viel verspricht, das Buch dieses Versprechen jedoch nicht halten kann. Enttäuschend!

Gut und sättigend: 3 Sterne

Eine Frau im Schatten eines toten Mannes
“Natürlich führte sie, Alexandra, nicht das Leben, das sie hatte führen wollen, sie führte ihr Leben gar nicht.” Im Jahr 2001 lebt Alexandra mit ihren Kindern Wanda und Rafi in einer Berliner Wohnung und sieht den Tagen beim Vergehen zu. Sie war einst eine mäßig erfolgreiche Sängerin, liiert mit dem Popstar aus gutem Hause Falk Margraf, der sich mit der Band “Eckstein” einen Namen gemacht hatte. “Eckstein war eine relativ erfolgreiche deutsche Popgruppe gewesen, deren Lieder wie Träume geklungen hatten.” Ein Mann von Welt, dieser Falk, der sein Umfeld für sich einnimnmt: “Falk dagegen nahm alles ohne zu fragen, niemand machte ihm etwas streitig, und wenn er auf einem engen Bürgersteig ging, wichen andere ihm aus.” Sehr zum Missfallen seiner Schwester Isolde kümmert Falk sich finanziell um Alex, doch noch bevor Wanda geboren wird, stirbt Falk im Jahr 1993. Und Alexandra kämpft – gegen die Trauer und um Falks Erbe.

Mit Die Stille nach dem Gesang hat Katharina Döbler einen Roman geschrieben, der seinem Titel gerecht wird: Ruhig ist er und er berichtet von der Zeit nach den eigentlichen Ereignissen, als alles bereits vorbei ist. Niemand singt mehr. Die Handlung springt zwischen 1993 und 2001 hin und her, und obwohl Alexandra mehr zu Wort kommt, steht Falk im Mittelpunkt, auch nach seinem Tod. Dies ist ein Buch über Verlust, über den Lauf der Zeit und jene, die zurückbleiben. Ob die Beziehung zwischen Alexandra und Falk eine große Liebe war, sei dahingestellt, aber zumindest hat er ihr viel bedeutet: “Sie hatte sich doch nur treiben lassen, bis sie bei Falk gelandet war. Da war Land gewesen, bei ihm, zum ersten Mal in ihrem Leben.”

In einem sehr unaufgeregten Stil erzählt Katharina Döbler von einer Frau, die auf der Stelle tritt, die sich nicht lösen kann und will von der Vergangenheit. Sprachlich ist Die Stille nach dem Gesang ausgezeichnet, inhaltlich ist es ein wenig lau, weil ein Höhepunkt fehlt, weil die Erzählung sich nicht mit dem Hauptthema direkt – Falks Tod – auseinandersetzt, sondern mit den Stunden davor und den Jahren danach. Ich mag jedoch die beschreibungsverliebte Sprache, die melancholische Stimmung und das Herumschleichen in diesem Roman, der Berlin und Madrid zum Leben erweckt und nebenbei eine alteingesessene Familie skizziert, von deren Glanz nichts mehr übrig ist, die sich aber immer noch viel darauf einbildet. Alles in allem ein ernstes, nachdenkliches, stimmiges Buch.

Die Stille nach dem Gesang ist erschienen im Galiani Verlag (ISBN 978-3869710211, 18,95 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Ach, wie schön die Vorstadt ist!
Sarah und Todd leben ein amerikanisches Klischee: Beide sind verheiratet – allerdings nicht miteinander – und haben ein dreijähriges Kind, beide sind mehr oder weniger unglücklich, fühlen sich gefangen und sehnen sich nach ein wenig Abwechslung in ihrem spießig-eintönigen Dasein. Todd steht kurz davor, zum dritten Mal zur Anwaltsprüfung anzutreten und erneut zu scheitern, Sarah war als Studentin Feministin und kämpft nun mit den Herausforderungen eines Tages auf dem Spielplatz. Kein Wunder also, dass sie eine Affäre miteinander beginnen, als sich ihnen die Gelegenheit dazu bietet. Es ist ein heißer Sommer, und unter den Moralaposteln der Vorstadt brodelt es: Ein verurteilter Kinderschänder ist in die Gegend gezogen, und die Nachbarschaftswache schreckt vor nichts zurück, um ihn zu vertreiben …

Little Children ist ein sehr filmisches Buch: Einerseits erinnert es inhaltlich stark an typische amerikanische Serien wie “Desperate Housewives”, die in amerikanischen Vorstädten mit identischen Häusern und sauberen Straßen spielen, andererseits ist es sehr bildlich geschrieben und wie ein Film strukturiert, den man beim Lesen automatisch vor Augen hat. Vielleicht entsteht dieser Eindruck bei mir aber auch, weil ich weiß, dass der Roman 2006 mit Kate Winslet verfilmt wurde, ohne dass ich diesen Film jedoch gesehen hätte. In jedem Fall stellt Tom Perrotta auf der zynische und überspitzte Weise das amerikanische Vorstadtleben dar, das nach außen hin glänzt und innen fault. Hinter verschlossenen Türen spielen sich die eigentlichen Dramen ab, und mit der vorgespielten Moral ist es dann nicht weit her. Ehebruch und Lieblosigkeit, Selbstjustiz und Intoleranz: In Little Children tut sich ein wahres Wespennest auf. Die Perspektive wechselt zwischen Sarah und Todd, auch Sarahs Mann und der Ex-Polizist Larry, der dem Pädophilen das Leben zur Hölle macht, kommen zu Wort. Für mich als Europäerin ist vieles, das in diesem Roman eine Rolle spielt, befremdlich, vor allem die rigide Einstellung der zugeknöpften Hausfrauen. Umso interessanter ist dieses Buch, das mit einigen schönen Spitzen aufwartet und generell das Prädikat “okay” verdient.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Ein Haus, neun Bewohner und ein Mord
Ein junges Pärchen zieht zusammen in ein Haus, das sich vor allem durch die ungünstige Lage direkt an einer Hauptstraße und über einer U-Bahn auszeichnet, durch den kleinen Garten – und durch seine Bewohner. Da gibt es den zurückhaltenden Cellisten Jeff, die Kinderärztin Conny mit der schrillen Stimme, die dauernd Schneckenhäuser malt, drei Studenten, die niemand je zu Gesicht bekommt, und Gerd und Agnes. “Alle, alle mochten Agnes”, und der Ich-Erzählerin geht es nicht anders, sie besucht Agnes in ihrer mit Grün zugewucherten Wohnung, staunt über ihre Güte und Ruhe, trinkt Kaffee, versucht sie aus der Reserve zu locken, schafft es aber nie. Und dann, neun Monate später, ist Silvester – und Agnes ist tot.

Ohren haben keine Lider ist ein einfacher Unterhaltungsroman, der dem Leser ein paar vergnügliche Stunden schenkt. Zwar ist dieses Buch nicht unbedingt heiter, aber es erzählt auf nicht hochtreibende Weise von einem Haus, einer absoluten Bruchbude, von seinen verschiedenen Bewohnern, von einer jungen Beziehung und von einem rätselhaften Todesfall, der allerdings erst ganz zum Schluss in den Mittelpunkt rückt. Dann wechselt nämlich die Perspektive, die Ich-Erzählerin wird von außen abgebildet und man erfährt, wie es ihr in den 15 Jahren nach Agnes’ Tod so ergeht im Leben. Das ist einerseits spannend und originell, andererseits ein wenig abgehackt. Was den Mord betrifft, so darf man sich über seine Auflösung nicht zu viel erwarten, denn ein Krimi ist dieses Buch nicht.

Vielmehr besticht es durch seinen angenehmen Lesefluss, der weder verstört noch aufschreckt, die Ereignisse sind wie an einer Schnur ausgebreitet, die Personen als erkennbare Charaktere gezeichnet. Ein wenig irritierend ist, dass die Ich-Erzählerin und ihr Freund so dermaßen planlos in den Tag hineinleben, dass einem beim Zuschauen schon langweilig wird – sie tun nichts, haben gerade die Matura hinter sich gebracht, leben mit Toastbrot und Wasser von ihren Ersparnissen und warten den ganzen Tag zuhause darauf, dass ihr Leben beginnt. Kein Wunder, dass sie sich dabei so sehr für ihre Mitbewohner zu interessieren beginnen. Wer mit wem und warum? In diesem Buch geht es um kleine Spielchen und große Langeweile, es hinterlässt keinen bleibenden Eindruck und ist ein netter Freizeitroman für zwischendurch.