Gut und sättigend: 3 Sterne

Vom Fremdsein
Lillian hat schon lange darüber nachgedacht, zu fliehen: Seit 15 Jahren lebt sie mit ihrem Mann Joseph in Österreich, doch sie stammt aus den USA und ist nie heimisch geworden in den Tiroler Bergen, in der Kultur, die nicht die ihre ist, in der kantigen Sprache. Zwei Kinder hat sie bekommen mit Joseph, doch sie konnte und durfte ihnen nichts von ihr selbst geben, nicht die Reime und Lieder ihrer eigenen Kindheit, sie fühlt sich ihnen nicht verbunden, man hat sie ihr weggenommen, so scheint es ihr. Es hält sie nichts in Tirol, und sie spart seit 10 Jahren für ihren Aufbruch, aber gegangen wäre sie wohl nie, hätte sie nicht den jungen Sänger Alan aus Amerika kennengelernt, in den sie sich verliebt und zu dem sie schlussendlich ziehen will. Mit großen Erwartungen fliegt sie zurück in ihre Heimat – doch die hat sich ebenso verändert wie Lillian selbst, und das Problem mit Illusionen ist ja bekanntlich, dass sie an der Realität zerschellen wie Muschelschalen.

In fremden Städten ist ein psychologisch ausgefeilter Roman der österreichischen Autorin Anna Mitgutsch, die seit vielen Jahren mit ihrem literarischen Können aufmerken lässt. Mit ihrer Protagonistin Lillian hat sie eine entwurzelte Frau geschaffen, die sich fremd und ungesehen fühlt, die sich nicht integrieren kann und will in die österreichische Kultur, an der sie viel auszusetzen hat. Sie ist überzeugt davon, dass es an den Menschen liegt, am Ort, dass sie nicht glücklich ist – und muss sich letztlich doch der Erkenntnis beugen, dass sie ob ihrer Ruhelosigkeit wohl nirgends glücklich geworden wäre. Sie ist ein introvertierter Mensch und lässt den Leser teilhaben an ihren Gefühlen, an ihrer Hoffnung und ihrer Sehnsucht, eine Schriftstellerin zu sein, und gleichzeitig ist sie überraschend blind für die Gründe ihres Scheiterns. Dieser Roman ist wie ein innerer Monolog, eine Gedankensammlung zum Thema Fremdsein und Sprache.

In fremden Städten ist ein interessanter, kluger Roman über Wurzeln und Heimat, über Integration, Egoismus und Illusionen. Die zahlreichen geradlinigen Formulierungen sind eine Bereicherung: “Er entzog sich, indem er in zwei Sprachen schwieg”, heißt es beispielsweise über Lillians Sohn, oder: “Erst als er fort war, fand sie seine Beteuerungen und Versprechen wie vergessene Gegenstände, die einem nichts mehr bedeuten, über die ganze Stadt verstreut, banale Sätze, bei Vernunft betrachtet, zu peinlich, um sie sich zu wiederholen” über Alan. Lillian ist nicht unbedingt sympathisch, ich empfinde sie vielmehr als naiv. Nicht ganz zufrieden bin ich mit dem Ende, das den Leser ein bisschen in der Luft hängen lässt – ansonsten aber ein außergewöhnlicher und beeindruckender Roman.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Die Geschichte einer homosexuellen Liebe
“Mach, dass der Sommer nie ein Ende hat, mach, dass Oliver nie fortgeht, mach, dass die Musik in dieser Endlosschleife in alle Ewigkeit weiterspielt, es ist sehr wenig, worum ich bitte, und ich schwöre, dass ich mir nicht mehr wünschen werde.” Elio ist 17 und verbringt den Sommer wie jedes Jahr mit seinen Eltern auf ihrem Anwesen in Italien, der diesjährige Sommergast ist der 24-jährige Oliver, der an der Universität arbeitet und über Heraklit schreibt. Dieser junge, arrogant wirkende Mann löst in Elio, der bereits sexuelle Erfahrungen mit Mädchen gemacht hat, überraschende Empfindungen aus: “Was ich mir statt dessen wünschte, von dem Moment an, in dem er aus dem Taxi stieg, bis zu unserem Abschied in Rom, war das, was alle Menschen sich voneinander wünschen.” In ihm brennt plötzlich ein Verlangen, dem er nichts entgegensetzen kann, und so beginnt ein Spiel zwischen Elio und Oliver, sie buhlen um die Aufmerksamkeit des anderen, reden aneinander vorbei, sehnen sich nacheinander und können es sich doch nicht sagen. Erst als der Sommer beinahe zu Ende ist, verlieren sie endlich ihre Hemmungen: “Alles Störende war beseitigt, sekundenlang schien der Altersunterschied aufgehoben, wir waren einfach zwei Männer, die sich küssten, und selbst das wurde immer bedeutungsloser, wir hörten auf, zwei Männer zu sein, waren nur noch zwei Menschen.”

André Aciman hat mit Ruf mich bei deinem Namen einen sehr einfühlsamen und kunstvollen Roman über eine homosexuelle Sommerliebe geschrieben. Meisterhaft schildert er dabei die Verwirrung, die diese Liebe in den beiden jungen Männern auslöst, die nicht unbedingt oder nicht nur homosexuell sind, sich aber magisch voneinander angezogen fühlen. Sehr detailreich widmet sich der Autor dem Hin und Her zwischen seinen beiden Protagonisten, dem Geplänkel, dem Geflirte – das ist amüsant, bewegend und ein bisschen zäh zugleich. Es dauert seine Zeit, bis die beiden sich einander nähern können, obwohl man als Leser von Beginn an weiß, dass es geschehen wird. Viel Unsicherheit liegt in der Luft, die permanent erotisch aufgeladen ist. Jeder Blick hat eine Bedeutung, jede Berührung ist elektrisierend. Das zu vermitteln, ist André Aciman perfekt gelungen.

Sex zwischen Männern ist vielleicht nicht mehr ein so starkes Tabuthema wie einst, dennoch ist es schwierig, bei (homo)erotischen Beschreibungen nicht ins Lächerliche zu verfallen, alles zuzulassen, nichts als ekelhaft zu stigmatisieren. André Aciman hat sich herangetraut an dieses Thema – und es bravourös gemeistert. Seine Sätze sind manchmal etwas lang, der Stil ist ausufernd, grundsätzlich aber liegt viel Zuneigung in den Formulierungen. Und da Elios Vater Hochschulprofessor ist und seinen Sohn zu einem Intelligenzbolzen herangezogen hat, der in seinen Sommerferien Haydn transkribiert, kann man durch die pointierten Dialoge in diesem Buch auch noch etwas lernen. Schön ist der Ausklang, denn das Buch endet nicht mit jenem Sommer, der so unvergesslich bleibt für Elio und Oliver. Lesen!

Netter Versuch: 2 Sterne

“Ich glaube, ich bin eine Biene, die durch den Supermarktgarten fliegt”
Ein Mann geht einkaufen im Supermarkt. Und da ereignet sich etwas, das man vielleicht bemerkenswert nennen könnte: Er wählt vier Äpfel aus, die zusammen genau 1000 Gramm wiegen. Deshalb erwacht in ihm die Hoffnung, dieser Tag möge ein besonderer sein. Das täte ihm gut, geschieht doch sonst herzlich wenig in seinem Leben, seit L. ihn verlassen hat. Und wie er so durch den Supermarkt spaziert, sich seine Gedanken macht über die Farbe von Strumpfhosen, über Werbung und bunte Verpackungen und über die Möglichkeit, selbst verwurstet zu werden, wird er ganz philosophisch, verliert sich in Überlegungen: “Und der Tod, so kommt’s mir vor, schiebt seinen Einkaufswagen neben mir. Und legt die Leben, die er nimmt, hinein. Und an der Kasse muß er nicht bezahlen.”

Vier Äpfel ist ein Roman auf Sparflamme: Nicht nur wegen der gerade mal 158 luftig gesetzten Seiten, sondern vor allem inhaltlich. Ein Mann geht einkaufen und – na ja, und nichts. Viel braucht er nicht, lebt er doch allein, seit L. weg ist, an die er noch voll Wehmut denkt: “Nur L. war perfekt, an ihr hat mich gar nichts gestört, aber das ist eine Lüge der Erinnerung.” Leider erzählt er dem Leser aber viel zu wenig von L., als dass man einen Einblick in diese zu Ende gegangene Beziehung gewinnen könnte. L. bleibt eine Schattenfigur, der keine tragende Rolle mehr zukommt. Worüber also kann man sich während des Einkaufens den Kopf zerbrechen? Über die guten alten Zeiten, in denen Oma noch selbst ihr Obst erntete und einkochte, über Single-Shopping mit Flirtmöglichkeit, über Preisaktionen. In Fußnoten bringt David Wagner durchaus interessantes Allgemeinwissen unter die Leser, beispielsweise über den Erfinder der Fischstäbchen oder des Drehkreuzes. Mir persönlich ist das aber alles zu wenig für ein lesenswertes Buch, Vier Äpfel ist mehr eine Momentaufnahme, das Festhalten eines Einkaufs zur heutigen Zeit. Das ist recht nett, aber nicht mehr, hat keine Tiefe und – so viel nehme ich vorweg – erfüllt die Hoffnung nicht: Die Frage, ob das Gewicht der vier Äpfel etwas Besonderes auslöst, lautet leider Nein.

Für Gourmets: 5 Sterne

Von der Traurigkeit des Schweigens
Sie sind ihm ein Rätsel: die Erwachsenen. Jeder von ihnen hat einen unsichtbaren Zettel auf der Stirn, aber nicht alle sind lesbar. Und so behilft sich der 12-jährige Tommy seines mp3-Players, um den Gesprächen rund um ihn Herr zu werden: Er nimmt auf, was gesagt wird, um es besser deuten zu können. Und als er sich bei einer Hochzeit unter dem Tisch versteckt, hört er etwas, das sein Leben auf den Kopf stellt. “Groß zu werden ist, als stapfe man einen Hügel hoch mit einem riesigen Schild um den Hals, auf dem steht: Vergiss.” Aber Tommy will sich erinnern. Und deshalb muss er 10 Dinge über seine Mutter herausfinden, die gestorben ist. Helfen könnten ihm dabei vielleicht sein Vater, Herzchirurg Juan, und seine Stiefmutter Alma – wären sie nicht selbst mit ihrer wackeligen Ehe beschäftigt und all dem, was unausgesprochen ist …

Drei Menschen kommen in Der Rest ist Schweigen der chilenischen Schriftstellerin Carla Guelfenbein zu Wort: Tommy, Juan und Alma. Während der herzkranke Tommy in kindlich-weisen Aktionen versucht, die Wahrheit über seine Mutter Soledad aus dem Geplapper der Erwachsenen herauszufiltern, entfernen sich Alma und Juan immer weiter voneinander und sind dabei so sehr auf die Distanz zwischen ihnen konzentriert, dass ihnen entgeht, was sich direkt vor ihren Augen abspielt. Trotz des häufigen Wechsels zwischen drei Ich-Erzählern kann man der Geschichte als Leser gut folgen und weiß stets, wer spricht. Und bezüglich Sprache: Sie ist wunderbar geformt in diesem Roman, ohne viele Schnörkel und sehr melancholisch, in berührende Sätze und eindringliche Formulierungen gegossen – ein absoluter Lesegenuss.

Carla Guelfenbein hat mit Der Rest ist Schweigen ein wunderschönes und unsagbar trauriges Buch geschrieben, das – und man verzeihe mir diese Wendung – ins Herz trifft. Sie geht mit ihren drei Protagonisten beinahe zärtlich um, schreckt aber nicht davor zurück, sie ins Unglück zu werfen. Kein Wort ist zu viel in diesem Buch, das dem Schweigen Ausdruck verleiht und ihm so viel Macht gibt, dass nur noch Taten sprechen können. In alle drei Figuren hat sich Carla Guelfenbein hineingefühlt, und sie ermöglicht das auch dem Leser. Wer auf der Suche nach einer eindringlichen, lesenswerten und anrührenden Geschichte ist, wird hier fündig. Ich bin begeistert, chapeau!

Der Rest ist Schweigen ist erschienen im S. Fischer Verlag (ISBN 978-3100278227, 19,95 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

“Das Leben ist ein Furz”
Das Schicksal hat dem 25-jährigen Dachdecker Kai aus München übel mitgespielt: Nach einem Sturz vom Dach kann er nicht mehr arbeiten, und wegen mysteriöser Insolvenzen der Auftraggeber steht er finanziell vor dem Nichts. Er lebt in einer schimmeligen Bude, hat kaum etwas zu essen und muss bei den Brüdern seines türkischen Kumpels Shane Schulden machen. Die fordern ihr Geld aber nach einem halben Jahr zurück bzw. zwingen Kai, Marihuana aus der Schweiz nach München zu schmuggeln und in einem Studentenheim abzuliefern. Dort kommt er der Studentin Marion näher, in die er sich verliebt – die ihn aber letztlich durch ihre eigenen Probleme nur noch mehr in die Scheiße reitet …

Man Down ist ein hartes, authentisches und unsentimentales Buch über Gewalt, Prostitution, Integration und eine Gesellschaft, in der man nicht so schnell wieder nach oben kommt, wenn man sich erst einmal auf dem absteigenden Ast befindet. Dabei gelingt André Pilz in meinen Augen ein ungewöhnliches Wunderwerk: Obwohl der Ton rau und direkt ist und Tabuwörter wie ficken, Arsch und Nutte sich die Satzzeichen in die Hand geben, ist dieser Roman nie niveaulos – wie manch andere in diesem Bereich, die es nie schaffen, mich zu überzeugen. Es hat eine ganz eigene Poesie, wie André Pilz rasante Dialoge im “Slang” entwirft und sie mit fast schon kitschig wirkenden Formulierungen auflockert: “Ich ahnte den Liebesrauch und schmeckte die Tränen.”

Inhaltlich geht es in Man Down um Kai, und Kai ist im Arsch: Wegen seiner Verletzung ohne Aussicht auf Arbeit, bekommt er es mit Drogen, Drohungen, der Polizei und der Verachtung im Allgemeinen zu tun. Er ist einfach ganz unten. Und auch die Liebe, die er findet, passt in dieses Schema “alles oder nichts, bescheißen oder beschissen werden”, denn “Marion ist der Weg in die Freiheit – oder der letzte Sargnagel”. Kai verstrickt sich immer mehr, und als die Ereignisse sich klar darlegen, kommt es zu einem spannenden Showdown. Dieses Buch, dessen tolles Cover ich am Rande erwähnen möchte, ist brutal, eindringlich und realistisch – wie ein Schlag ins Gesicht, von denen Kai so viele bekommt. Großartig!

Man Down ist erschienen im Haymon Verlag (ISBN 978-3852186238, 19,90 Euro).

Für Gourmets: 5 Sterne

Melancholie erster Klasse
Eine Stadt, namenlos, in einem Land, über das sich ein blutiger Bürgerkrieg gewälzt hat: Hier lebt Norma, die seit 10 Jahren – seit der Krieg zu Ende ist – auf ein Lebenszeichen ihres Mannes Rey wartet, der aus dem Dschungel nicht nach Hause gekommen ist. Rey war Ethnobotaniker, und obwohl sein Name auf der Schwarzen Liste steht, glaubt Norma nicht, dass er zu den Untergrundkämpfern der IL gehört hat, die sich gegen die Regierung aufgelehnt haben. Aber was weiß sie wirklich von Rey? Diese quälende Frage muss sich Norma stellen, als der kleine Victor auftaucht: Er kommt aus dem Dschungel und hat eine Liste bei sich mit den Namen jener, die verschwunden sind. Er kommt damit zu Norma, weil sie die Radiosendung Lost City Radio moderiert, weil sie jeden Sonntag nach Vermissten sucht und weil sie “die Mutter eines imaginären Volks verschwundener Menschen” ist. Norma, von der Einsamkeit und der Sehnsucht gezeichnet, nimmt Victor bei sich auf und geht mit ihm auf eine Suche, die ihr endlich Aufschluss geben soll darüber, was geschehen ist. Denn auf Victors Liste steht auch Reys Name.

Lost City Radio ist ein unvergleichlich schönes Buch über Schmerz und Gewalt, über das Sehnen nach einem geliebten Menschen und über die Geheimnisse, die jeder in sich verbirgt. Daniel Alarcón, gerade einmal 33 Jahre alt, verlegt die Geschichte an einen namenlosen Ort und gibt ihr dadurch den Stellenwert einer Parabel, denn was sich in diesem Buch ereignet, kann so oder ähnlich überall geschehen auf dieser Welt, wo Krieg herrscht, Menschen einander belügen und verlieren, wo sie Angst haben vor der Obrigkeit und vor den Nachbarn. “Früher hatte jede Stadt einen Namen gehabt, einen plumpen, tausend Jahre alten Namen, geerbt von Gott weiß welchem ausgestorbenen Volk, Namen mit harten Konsonanten, die klangen, als riebe Stein gegen Stein.” Norma ist eine ganz besondere Hauptfigur: Sie gibt den vermissten Menschen eine Stimme, sie wird vom Volk verehrt – und ist doch selbst ganz verloren in einem Strudel aus Hoffnung und Alleinsein, sie erstickt fast an der Ungewissheit. “Reys Abwesenheit klebte an ihr wie eine ansteckende Krankheit.” Und dann bricht plötzlich alles auf, die Vergangenheit wird sichtbar – und wie schlau Daniel Alarcón diesen Roman konstruiert hat, ist tatsächlich bewundernswert.

Jeweils aus ihrer Sicht erzählen Norma, Victor, Rey und der Lehrer Manau, der in Victors Mutter Adela verliebt war, von unsicheren Zeiten, von Folter, Verrat und Tod, von Liebe und der Macht der Erinnerung. Ihre Perspektiven sind ineinander verwoben und zeitenübergreifend, es gibt Zeitsprünge mitten in den Absätzen, die aber gut zusammengesetzt und daher nicht verwirrend sind, sondern vielmehr wirken wie spannende Filmschnitte. Dies ist ein bewegendes, ein trauriges, ein weises Buch, inhaltlich ebenso ausgezeichnet wie sprachlich. Es kommt selten vor, dass ich mir wünsche, es möge mehr Romane geben wie diesen. Volle Punktezahl, bedingungslose Empfehlung!

Lost City Radio ist erschienen im Verlag Klaus Wagenbach (ISBN 978-3-803132185, 22,90 Euro).

Prost Mahlzeit: 1 Stern

Über den Krieg, Nutten und Satzzeichen
Pierre ist so etwas wie ein Ersatzkind. Auf der Flucht vor dem Krieg finden ihn 1940 der Zuhälter Saint-Jean und seine Huren Roseline, Josette und Fortuna in einem Koffer und tauschen ihn aus gegen das absichtlich gezeugte Baby von Fortuna, mit dem sie Geld erpressen wollten, das aber unglücklicherweise gestorben ist. Fortuna ist blind und hasst die Welt, sie alle haben es nicht einfach, und Pierre gerät in diesen zusammengewürfelten Haufen aus Menschen, der ihm so etwas wird wie eine Familie. “Saint-Jean denkt dass es ganz einfach und scheußlich ist dass es kein Glück ist als Mensch geboren zu werden besser doch gleich als Stein.” Sie erreichen ein winziges Dorf, in dem Saint-Jean das tut, was er kann: ein Puff eröffnen. Wie man ein Kind erzieht, weiß weder er noch eine der Huren, doch Pierre saugt auf, was er wissen muss, lässt sich von seinem gaunerischen Ziehvater inspirieren und lernt außerdem noch viele schräge Gestalten kennen wie den verrückten Pickpock. Und er lernt zu überleben.

Wunder und Legenden aus meinem Land im Krieg birgt eine Überraschung für mich: Dieses Buch zeigt mir, wie wichtig (mir) Satzzeichen sind. Und dass sie durchaus ihre Berechtigung haben. Experimentell mag es sein, was Richard Morgiève da macht, kreativ und originell, und während ich auf den ersten Seiten noch gewillt bin, mich darauf einzulassen, merke ich schnell, dass es wahnsinnig schwierig ist. “Du machst eine Tür auf und hörst dein Herz klopfen den Fußboden knacken du gehst ans Fenster die Welt ist traurig die Welt ist komisch die Welt ist keine Kugel die Welt ist platt oder die Welt ist hoch oder es ist Nacht oder es regnet.” So sind die Sätze in diesem Roman: ebenso philosophisch und schön wie wirr und lang. Sie legen sich wie Stricke um meinen Hals, meine Augen verlieren sich in dieser unendlichen See aus Wörtern, die frei über das Papier schweben dürfen.

Inhaltlich gleicht Wunder und Legenden aus meinem Land im Krieg dem Stil des Autors, ausufernd ist die Handlung manchmal, sehr unklar und mysteriös sind die Metaphern und die Spitznamen für die verschiedenen Charaktere. Ich halte beim Lesen fest an dieser Idee, den kleinen Pierre erzählen zu lassen aus seinem ungewöhnlichen Leben, aber es ist ungemein ermüdend. Ab und zu herrscht hier völliges Chaos zwischen zwei Buchdeckeln, und es ist der Klappentext, der mich rettet, indem er mir preisgibt, was eigentlich passiert. Stellenweise habe ich das Gefühl, als sei Pierre längst erwachsen und ein Gauner geworden, doch am Ende stellt sich heraus, dass er nicht älter sein kann als vier. Dieses Buch ist ein Wahnwitz, eine Herausforderung, ein Wagnis der besonderen Art – wer sich darauf einlässt, kann mit einigen wunderbaren Satzperlen belohnt werden, braucht aber viel Ausdauer.

Wunder und Legenden aus meinem Land im Krieg ist erschienen bei Claassen (ISBN 978-3-546-00433-6, 22,90 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Ein Nobelpreisträger, der Klimawandel und das Innerste der Menschen
Beruflich ruht sich Michael Beard seit Jahren auf den Lorbeeren aus, die er sich als junger Physiker verdient hat, als er mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Privat quält ihn das Ende seiner fünften Ehe mit der schönen jungen Patrice, das er durch seine zahlreichen Affären selbst heraufbeschworen hat, nun aber nicht verkraften kann. Patrice schlägt Beard mit seinen eigenen Waffen, er kämpft mit seinem verletzten Ego und den neuen Entwicklungen in der Physik, mit denen er nicht mehr Schritt halten kann. Er ist fettleibig, unsympathisch, versoffen, eingebildet und wehleidig. Doch dann tut sich plötzlich eine Möglichkeit auf für ihn, wieder nach oben zu gelangen, etwas wird ihm in die Finger gespielt, und in seiner Überheblichkeit kann er nicht widerstehen. Die Jahre vergehen, aber das Schicksal hat Geduld, wenn es Rache üben will …

Ian McEwan ist definitiv ein Star am Literaturhimmel und dürfte auch weniger belesenen Menschen ein Begriff sein, seit sein Roman Abbitte verfilmt wurde. Vor etwa 10 Jahren habe ich Enduring Love von ihm gelesen, das wesentlich melancholischer, dramatischer und verquerer war als Solar, vielleicht hat sich der Stil des Autors verändert und entwickelt, vielleicht hat er ihn bewusst je nach Roman modifiziert, oder es liegt am Sprachunterschied durch die Übersetzung. In Solar erinnert mich die Tonalität stark an Leon de Winter, dessen Bücher immer angenehm dahinplätschern und durchwegs gut erzählt sind. Worum also geht es wirklich in diesem neuesten Buch von Ian McEwan? Ein Mann steht im Mittelpunkt, der mit all den Schwächen der Menschheit gesegnet ist – Eitelkeit, Sturheit und Gier. In Kombination mit den hochaktuellen Themen Klimawandel, Umweltschutz und Sonnenenergie schafft der Autor eine anfangs scheinbar oberflächliche Geschichte, die sich als raffinierte Kritik an Wirtschaft, Gesellschaft und Umweltorganisationen entpuppt und flott liest.

Auf schlaue Art und Weise führt Ian McEwan dem Leser anhand von Michael Beard und einem vermeintlich harmlosen Betrug vor Augen, welch riesige Maschinerie aus Geld und Macht hinter dem Handel mit erneuerbaren Energien steckt, über dem der Deckmantel der vermeintlichen Rettung der Erde liegt. Mit seinem Protagonisten geht er dabei nicht sehr zimperlich um, was angenehme Schadenfreude weckt. Das ist unterhaltsam und regt zugleich zum Nachdenken an. Zwar geizt McEwan nicht mit Physik, bereitet sie aber verständlich auf. Das hochaktuelle Thema macht Solar zu einem lesens- und empfehlenswerten Buch, auch wenn ich der Meinung bin, dass es nicht McEwans bestes ist.

Solar ist erschienen im diogenes Verlag (ISBN 978-3257067651, 21,90 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

“Ich war zum Holen auf der Welt”
“Meine Schwester und ich, wir waren eher Nutztiere als Kinder.” In Gasthauskind berichtet Ingried Wohllaib in drastischen Bildern und klaren Worten von einer Kindheit im Wirtshaus, vom Aufwachsen zwischen betrunkenen Stammgästen, mit einer niemals endenden Liste von Aufgaben und viel zu wenig Zuneigung. Zu tun ist immer etwas, auch für Kinder, die gerade einmal mit dem Gesicht bis zur Theke reichen. Das Gasthaus steht in Süddeutschland, es sind die Fünfzigerjahre, der Ton ist generell rau, Rücksicht auf Kinder kennt hier niemand. In der Wirtsstube wird geraucht, die Stammgäste nehmen sich Unfassbares heraus: “Sie waren immer überall. Zehntausend Quadratmeter Grund gehörten zu unserem Gasthof, und jeder Stammgast nutzte ihn zu allem, was ihm in den Sinn kam. Ich lernte: Man darf ihnen nichts abschlagen, nie. Wer konsumierte und zahlte, war wichtiger als ich.”

Ingried Wohllaib ist Grafikerin, und in ihrer Sprache bildet sie eine längst vergangene Wirklichkeit ab: Sie zeichnet detailreiche Bilder und erzählt ganz einfach, wie es war, wie es sich angefühlt hat, wie sie sich erinnert. Ich mag die kurzen Sätze, die direkten Formulierungen, die so ohne Umschweife auf den Punkt kommen. Die Autorin gibt Einblicke in eine Welt, die kaum jemand kennt und die viele sich nicht vorzustellen vermögen: das Leben als Wirtshauskind, als Arbeitstier, als Kellnerin, Putzfrau, Eisverkäuferin und Küchensklavin. Ich bin kein Gasthauskind, aber ein Gasthausnachbarkind – und deshalb liegt mir diese Welt nicht fern, sie ist mir bekannt, und in vielem, das Ingried Wohllaib beschreibt, entdecke ich eigene Erlebnisse wieder. Die Wirtshauskinder von damals waren und sind meine besten Freunde, und durch die Nähe zum Café wurde auch ich oft eingefangen, in den Keller geschickt, um etwas zu holen, zum Almdudlerausschenken verdonnert oder zum Geschirrspülerausräumen. Es war selbstverständlich, dass man helfen musste, ein “Da hab isch kein Bock drauff” – wie man es heute ständig von Jugendlichen in den Reality-Family-TV-Formaten des deutschen Fernsehens hört – gab es ganz einfach nicht. Und wenn doch, dann knallte es. Ins Gesicht.

Es mag sein, dass mir durch diese meine persönliche Geschichte Gasthauskind besonders gut gefällt. Während andere Leser vielleicht ungläubig den Kopf schütteln und der Autorin zu viel Fantasie unterstellen, finde ich ihren Bericht authentisch. Ich leide mit und muss dennoch manchmal schmunzeln, denn wie immer ist Komik auch hier Tragik in Spiegelschrift. Ingried Wohllaib hat es geschafft, den Alltag auf dem Land, das Saufen und wahllose Schmusen, das Tratschen und Arbeiten im Wirtshaus, das auch am Ruhetag kein Ende nimmt, einzufangen und auf Papier zu bannen. In kurzen Geschichten lässt sie ihre Kindheit aufleben, die etwas Besonderes war – leider in negativer Hinsicht. Ein eindrucksvolles und gelungenes Buch!

Lieblingszitat: “Kühe sind die Buddhisten unter den Tieren. Woher nehmen sie diese Gelassenheit? Sie scheißen einfach an sich selbst hinunter und sehen einen unter langen Wimpern fragend an.”

Gasthauskind ist erschienen bei Piper (ISBN 978-3492052900, 16,95 Euro).

Prost Mahlzeit: 1 Stern

“Wär ich ein Feuer, verbrennte ich die Welt”
Sie sind scheinbar verschieden: der junge Gregorj, immer auf der Jagd nach einer schönen Frau, dynamisch und erfolgreich, und der ältere Nerbal, dem Alkohol verfallen, desillusioniert und müde. Doch eigentlich sind sie eine Person: Dante Maria Franzetti nämlich. Der preisgekrönte Schweizer Autor hat eine ungewöhnliche Autobiografie geschrieben: In einem fiktiven Zwiegespräch unterhalten sich Greorj und Nerbal über ihrer beider Leben, das dem von Franzetti sehr nahe kommt. Frauen sind ein zentrales Thema, ebenso wie Alkohol und die Schriftstellerei. Die Kindheit in der Schweiz wird in ein heimeliges, aber auch beängstigendes Licht getaucht, das Totenglöcklein läutet gar so oft. Übrig bleibt am Ende nur die Hoffnung, nie so zu werden, wie man längst geworden ist.

Mit den Frauen ist ein nachdenkliches, ein irritierendes und ein höchst aufreibendes Buch. Anfangs wundert man sich, wer die beiden Männerfiguren eigentlich sind, die da so über räumliche Hindernisse hinweg miteinander in Dialog treten, denn die Erkenntnis, dass es sich vermutlich um erfundene innere Stimmen des Autors handelt, kommt erst nach etwa einem Drittel des Buchs. Es wird dem Leser viel Aufmerksamkeit abverlangt, denn “ich” kann in diesem Roman jeder sein, Nerbal meistens, der Autor oft. Plötzlich distanziert er sich von seinem Werk, hebt sich heraus, berichtet, dass er gerade im Café sitzt und diese Zeilen formuliert: “Ich aber, der ich an euch arbeite und über euch schreibe, Nerbal und Gregorj, sitze im Restaurant Alle tre Poste in Rom …” Ich muss gestehen, dass diese Einschübe mich immer wieder aus der Lesebahn geworfen haben, vielleicht bin ich dafür zu unflexibel, vielleicht haben in meinen Augen Gregorj und Nerbal dadurch ihre Daseinsberechtigung verloren.

Es gab immer viele Frauen in Gregorjs/Nerbals/Dantes Leben, sie haben ihn verführt, ihn getröstet, ihn unterstützt und sich von ihm benutzen lassen. Mit den Frauen ist daher in indirekter Weise ein Buch über die Begleiterinnen eines Mannes, der augenscheinlich ein – trotz aller Hinweise auf Ausschweifungen – beschauliches Dasein führt. Die Kost ist schwer, der Stil recht abgehoben und philosophisch, die Sätze sehr lang. Die Dreiteilung in der Figurenzeichnung hat etwas Schizophrenes, mit dem ich nicht gut zurechtkomme. Ich wünschte mir klarere Verhältnisse, eine nachzuvollziehende Handlung, eine Prämisse. Zudem gerate ich in Versuchung, anmaßend zu fragen, ob Dante Maria Franzettis Person und Erlebnisse interessant genug sind für ein Buch. Beantworten lässt sich das vielleicht mit seiner eigenen Formulierung: “Jedes Buch geht zu Ende, und dann legt man es weg und vergisst es.”

Mit den Frauen ist erschienen im Haymon Verlag (ISBN 978-3-85218-565-1, 19,90 Euro).