Für Gourmets: 5 Sterne

“Was, wenn Dämonen, wie Sprache oder Land, vererbbar sind?”
„Malerisch hatte ich mir Ostpolen vorgestellt, unverfälscht und verzaubert. In Wirklichkeit war es nass, dreckig und fremd.“ Nele ist auf der Suche nach den Spuren ihres Großvaters, die er vor so vielen Jahrzehnten in Ostpolen und über die Ukraine hinaus hinterlassen hat, dass sie vielleicht längst nicht mehr sichtbar sind, überlagert von den Spuren jener, die seither seinen enteigneten Hof bewirtschaftet haben. Als junger Mann musste er fortgehen, wurde vertrieben von den Ukrainern, und den Rest seines Lebens verbrachte er in Schlesien, im ehemaligen Haus eines Deutschen, der wiederum selbst davongejagt worden war. Und so lebte hier wie dort jeder in der Furcht, es könnte jemand kommen und Grund und Boden zurückverlangen. Nele hing sehr an ihrem Djadjo und besuchte ihn, so oft es ihr Leben in Berlin zuließ, wo sie in einer Redaktion arbeitet und mit dem gefühlskalten Carsten zusammenwohnt. Als ihr Großvater stirbt, stellt Nele fest, dass er ihr viele Geschichten erzählt hat, die eigentlichen Fragen aber stets offen geblieben sind. Warum ist er nie nach Galizien zurückgekehrt? Was ist wirklich geschehen zwischen ihm und dem opportunistischen Bruder? Nele entbindet sich kurzerhand selbst von ihren Verpflichtungen und wagt ganz allein die Reise an einen Ort, an den keine Verkehrsmittel mehr fahren, an dem niemand auf sie gewartet hat und sich doch alles zusammenfügt.

Sabrina Janesch ist eine talentierte junge Autorin, die für ihren ersten Roman Katzenberge zu Recht von der Kritik bejubelt wurde. Die Geschichte an sich ist nicht neu: Eine junge Frau sucht nach dem Tod ihres Großvaters nach dessen Wurzeln. Und weil sie nicht neu ist, muss sie gut geschrieben sein. Wie in diesem Fall. Schon nach wenigen Seiten nimmt mich der melancholische, erstaunlich ausgereifte, leicht spitzbübische Erzählton gefangen. Ich folge der Ich-Erzählerin Nele auf ihrer außergewöhnlichen Reise in eine, nein, gleich zwei Gegenden, die ich nicht kenne und mit denen mich nichts verbindet: Schlesien und Galizien. Mein Interesse an der Geschichte und an den Menschen dieser mir fremden Regionen ist groß, und anhand von Neles Reise sowie den Berichten ihres Großvaters erfahre ich viel Wissenswertes. Krieg und Vertreibung, die gekappte Verbindung zur eigenen Erde, nach der die Seele sich noch Jahrzehnte später sehnt – das sind die Stoffe, aus denen Katzenberge gewebt ist. Mit ihrer sprunghaften, eigenwilligen, liebenswerten Protagonistin Nele, die ankerlos zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und her getrieben wird, hat Sabrina Janesch eine Figur geschaffen, die eine Auflösung bringen, die Frieden wecken kann. Denn sie ist die Antwort auf alte Feindschaften, sie vereint als Kind einer polnischen Mutter und eines deutschen Vaters die alte Verbitterung mit der längst fälligen Versöhnung. „In mir habe alles zusammengefunden: das galizische Blut meiner Großeltern, die kommen musste, und das deutsche Blut der väterlichen Familie, die gehen musste.“

Durch Neles Augen sehe ich ihren Großvater, einen resoluten, abergläubischen, starken Mann, der in den richtigen Momenten liebevoll sein konnte. Sehr eindrucksvoll hat die Autorin diesen Menschen und seine Beziehung zu anderen – wie der Enkelin – beschrieben. Ebenso plastisch schildert sie mir die Landschaft, die Orte, die Menschen, sodass ich den Duft aus der Küche wahrnehmen kann, in der Speisen gekocht werden, die ich nie gekostet habe, dass ich die Sprache hören kann, die ich nicht verstehe, dass ich die Schicksalsgläubigkeit erkennen kann, die mich befremdet. Bildreich, aber gleichzeitig schlicht ist Sabrina Janeschs Sprache, nicht zu verschnörkelt, dafür aufgeladen mit vielen Zwischentönen, die man erspüren muss. Sie hat ein meines Erachtens ausgelutschtes Thema gewählt, es aber so glanzvoll umgesetzt und in einer so interessanten geschichtlichen wie geografischen Umgebung platziert, dass daraus ein lesenswerter, überzeugender, stilvoller Roman geworden ist. Grandios!

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt:
… fürs Auge:
schön alt.
… fürs Hirn: viel zu lernen! Über Galizien, Schlesien, die Kriege, die Deutschen, die Polen …
… fürs Herz: Neles Liebe zu ihrem Großvater.
… fürs Gedächtnis: am meisten das Ende, das mich überrascht hat, das aber so gut passt und so klug ist, dass es mich zufrieden schmunzeln ließ.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

“Ein Flughafen ist ein magischer Ort, immer neu. Unmöglich, sich hier zu langweilen!”
Salvador arbeitet seit Jahrzehnten als Putzmann am Flughafen, er ist dort eine Institution. Er wischt nicht nur die Böden, er erzählt auch Geschichten, wilde, unrealistische, lustige und traurige. Er ist mit dem Flughafenpersonal befreundet und weiß über jedes Reiseziel etwas zu sagen – obwohl er überhaupt noch nie irgendwohin geflogen ist. Salvador unterhält die Wartenden, er bringt sie zum Lachen, zum Nachdenken, er ist ein „Gschaftler“, wie man auf Österreichisch sagt. Unglaublich ist das, was er berichtet, zum Beispiel vom Club der unerhörten Wünsche, der gegen einen monatlichen Pauschalbetrag jeden Wunsch erfüllt, eine Frau liefert, einen besten Freund anheuert oder einen Ferrari vor die Haustür stellt, allerdings gebraucht, versteht sich. Salvador erzählt von der Frau, die am Flughafen ankam und nicht mehr wusste, wer sie war, und von dem Mann, der im Internet seinen eigenen Tod bestellte. Salvador ist ein Geschichtenmann, er ist stets gut aufgelegt, redegewandt, pfiffig und klug: „Wenn du Tausende von Göttern hast, findest du immer einen, der dein Verhalten rechtfertigt, was auch immer du tust, und sei es noch so absurd.“ Und eins ist klar: Wenn es Salvador gäbe, wäre das Leben ein Märchen.

Der spanische Schriftsteller Alberto Torres Blandina hat für seinen Roman Salvador und der Club der unerhörten Wünsche eine ungewöhnliche und originelle Erzählart gewählt: den Monolog. Alles, was ich lese, wird von Flughafenreinigungskraft Salvador ausgesprochen. Das ist ein wenig gewöhnungsbedürftig, aber eine tolle Abwechslung. Die Einwände oder Fragen des Gesprächspartners bindet Salvador geschickt in seine Reden ein, indem er sie wiederholt. Es ist nicht jedes Kapitel eine abgeschlossene Geschichte, vielmehr wird Salvadors Erzählung des Öfteren unterbrochen, um an anderer Stelle weitergeführt zu werden, etwa wenn er den Reisenden bei dessen Rückkehr wiedertrifft. Das hält meine Neugier wach und sorgt dafür, dass das Buch mehr ein Roman als eine Short-Stories-Sammlung ist. Salvadors Geschichten sind Kleinode der Verrücktheit, sie sind abstrus, heiter, böse und unglaublich witzig. Alberto Torres Blandina ist mit einer begnadeten Fantasie gesegnet, er denkt sich doppelte Liebesgeschichten aus, gefährliche Internetspiele und einen Club, der alles kontrolliert – aber auf überraschend positive Weise. Ich muss oft den Kopf schütteln und dann doch wieder schmunzeln über so viel Abgedrehtheit. Genial finde ich auch, wie offen der alte Salvador über Sex und Erotik spricht. Wunderbar für alle, die etwas Außergewöhnliches lesen wollen, denn für diesen Roman heißt es: Erwarte das Unerwartete!

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
naja, das Cover gefällt mir nicht so, zwar wurden die Motive aufgegriffen, aber die Umsetzung scheint mir eher lieblos.
… fürs Hirn: nicht mitdenken, nicht wundern, genießen!
… fürs Herz: die Art, wie Salvador in die Pension geleitet wird.
… fürs Gedächtnis: der plappernde, lebhafte, kauzige Salvador!

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

“Und alles, was lebt, hat eine Aufgabe, an der es sich zerreibt”
Schramm unterrichtet nicht mehr. Nach dem, was vorgefallen ist zwischen ihm und dem Schüler Waidschmidt, kehrt er nicht an die Schule zurück. Dabei hat er das Unterrichten gemocht, er war ein guter Lehrer, wenn auch nicht unbedingt beliebt, die Struktur des Alltags gefiel ihm – obwohl er gar nicht Lehrer hatte werden wollen. Sein Leben lang wohnte Schramm im Mutterhaus, eine Frau ist nicht bei ihm geblieben. Die Mutter ist mittlerweile verstorben, nur Schramm und das leere Haus sind noch da. „Und es war nicht so, dass es immer ein Ereignis geben musste, einen Grund, weshalb die Dinge waren, wie sie waren. Stattdessen dieses Hinüberschleichen, von einem Zustand in einen anderen, so langsam, dass einer es erst wahrnimmt, wenn der kritische Punkt längst erreicht ist.“ An diesem kritischen Punkt beginnen die längsten großen Ferien für Schramm: jene, die gar nicht mehr enden werden. Auf dem Boden seiner Einfahrt kniet Schramm, kämpft geduldig gegen die Kriechgewächse und denkt nach, über den Bruder, über dessen schlechtes Verhältnis zum Vater, über die Eltern, die Schule, Waidschmidt. Der Bruder hat sich zum Besuch angekündigt und Schramm könnte vielleicht Zuflucht suchen in einem Gespräch mit ihm, aber: „Es ließ sich nicht miteinander reden.“ Verbittert ist Schramm, aber viel zu verbissen, um es sich einzugestehen, und zutiefst einsam.

Große Ferien von Nina Bußmann ist deutsche Literatur in reinster Form. Tiefdeutsch ist jeder Satz, bleischwer und tönern und aussagekräftig. Nina Bußmann schreibt mit tragender Stimme und mit Gewicht; Heiterkeit und Leichtfüßigkeit sucht man in diesem Roman vergebens. Sie würden auch nicht zum Inhalt passen, zum inneren Monolog eines Mannes, der kaum Fehler gemacht hat und sich wundert, wie er dennoch scheitern konnte. Mit ihrem eleganten, verschrobenen, bedeutungsschwangeren Stil reiht die junge Nina Bußmann sich ein in die Parade großer deutscher Autoren und wird von der Kritik gefeiert. Dies ist für mich ein Roman, der ausschließlich über die Sprache funktioniert, ein Stilroman, in dem die eigentliche Geschichte hinter dem präzisen, überlauten Erzählton fast verschwindet. Nina Bußmann zerlegt ihren Schramm in seine Einzelteile, sie ätzt alles weg, was ihn ausmacht, bis nur sein Kern bleibt, und trotzdem gelingt es Schramm, allerhand vor mir zu verbergen. Ich lese, was er denkt, und woran er nicht denken mag, das erfahre ich nicht. Er ist pedantisch, er sticht auf das Unkraut ein und will Ordnung erzwingen.

Stets warte ich auf Interaktion mit einem anderen Menschen, auf das Auftauchen des Bruders, an den Schramm sich laut Klappentext wendet, doch ich warte vergebens, das Buch bleibt in Schramms Gedanken- und Erinnerungswelt gefangen. Er springt hin und her zwischen dem Erleben, dem Säubern der Bodenplatten, und dem Erinnern an die Begebenheiten der Vergangenheit. Das ist etwas, das mir viel Aufmerksamkeit abverlangt und das ich dennoch sehr mag, denn ich will beim Lesen durchaus gefordert werden. Und neugierig bin ich natürlich auf die Sache mit Waidschmidt, einem undurchsichtigen, vielleicht sehr klugen, in jedem Fall besonderen Typen: „Aber bei einem wie Waidschmidt wusste man nie, ob er, was er sagte, ganz meinte, ob er es nur sagte, um sich etwas einzigartiger zu machen, wie er es mit seinen gebügelten Hemden, seiner Ledermappe tat“, sagt Schramm über den Schüler, der ihn bedrängt, fasziniert und zu Fall gebracht hat. Wobei das Schramm gar nicht so sehr zu stören scheint, so resigniert und abgeklärt klingt er. Persönlich hätte ich mir letztlich doch ein wenig mehr Klarheit und Aufklärung gewünscht, aber beeindruckt hat mich Nina Bußmann mit ihrem lesenswerten Werk über Schuld und Scheitern, Bedeutungslosigkeit und Einsamkeit allemal. Es hat sich angefühlt wie ein Spaziergang über einen alten, längst aufgegebenen Friedhof, an dem sogar die Erinnerung langsam in einem Grab verschwindet – nicht gruselig, nur hoffnungslos.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
was das Wurzelwerk und der Baum mit dem Buch zu tun haben, ist mir schleierhaft – vielleicht eine Andeutung auf das Unkraut, das Schramm entfernt?
… fürs Hirn: alle Achtung, großartiger Stil!
… fürs Herz: nichts, denn Schramms Herz ist wie eine vertrocknete Schrumpelfrucht.
… fürs Gedächtnis: nichts vom Inhalt, aber einiges von der gewichtigen Sprache.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Die Mama wird’s schon richten
“Wie toll wäre es, wenn Mutterschaft wieder normal wäre? Es nervt, dass alles, was mit ihr zu tun hat, emotional und moralisch so extrem aufgeladen ist. Jeder Hans und Franz weiß es besser als die Mutter, und statt einfach mal die Klappe zu halten, posaunen alle ihre Meinung ungefragt heraus, nie ohne vor Spätfolgen durch mütterliche (Fehl-)Entscheidungen zu warnen.” Sagt eine, die es wissen muss: Rike Drust. Die erfolgreiche Werbetexterin hat die Gesamtausgabe all ihrer Muttergefühle zu Papier gebracht – und zwar auf offene, ehrliche und witzige Weise. Als ihr Sohn Oskar zur Welt kam, war sie überrascht von der Bandbreite der Emotionen, die auf sie einstürmten, denn nicht alle davon waren positiv. Wenn ein Kind geboren wird, soll gemäß den Erwartungen Friede, Freude, Eierkuchen herrschen bei der frischgebackenen Mutter. Oft ist es jedoch nicht so, Schlafmangel und Ratlosigkeit mischen sich mit dem Glück und der Liebe. Oder das Glück und die Liebe sind noch gar nicht da. Rike Drust suchte zur Lichtung des Gefühlschaos ratgebende Bücher, fand aber keine, die das Tabuthema Mutterschaft schonungslos behandelten. Also beschloss sie: So ein Buch muss sie selbst schreiben.

Klar ist, dass Rike Drusts Muttergefühle. Gesamtausgabe dringend nötig war. Klar ist auch, dass es sich bei diesen Gefühlen um die der Autorin handelt, weshalb das Buch sehr subjektiv ist. Ratgeber ist das keiner. Und das ist auch gut so! Denn Rike Drust gibt Einblick in das Leben mit Kind und erzählt einfach frei Schnauze, wie es eben ist, wenn da plötzlich ein hilfloses, abhängiges Menschlein rund um die Uhr versorgt werden muss. Sie berichtet, wie es sich anfühlt, wenn der Sohn etwas so Tolles macht, dass man vor Stolz ohnmächtig werden möchte, und wie schwierig es ist, Mamasein und berufliche Erfüllung zu vereinen – und dabei auch noch eine liebevolle Ehefrau zu bleiben.

Ich habe aus ganz persönlichen Gründen zu diesem Buch gegriffen (und wegen der schwärmerischen Rezension der Bibliophilin): wegen meiner eigenen Muttergefühle. Mein Sohn ist etwa so alt wie Rike Drusts Oskar zum Zeitpunkt des Schreibens. Und ich erkenne natürlich viele Situationen wieder, zum Beispiel: “Früher konnte ich mir nicht vorstellen, dass man mit einer Zahnbürste in der Hand so unglücklich hinfallen kann, dass sie durch die Nase direkt ins Hirn sticht. Heute ist das eine meiner leichtesten Übungen.” Ich muss sogar ein paar Mal laut lachen – und das ist etwas, das mir beim Lesen eigentlich nie passiert. Aber man merkt, dass Rike Drust Texterin ist und ihr Geld mit Worten verdient. “Mit der Geburt bekam ich nämlich nicht nur ein Kind, sondern auch eine Eintrittskarte in eine neue Welt, in der meine Hemmschwelle für Peinlichkeiten niedriger ist als die eines Nacktradlers” bringt mich zum Schmunzeln, genau wie: “Und nach der Geburt fing ich an, mit meinem Sohn zu sprechen, und zwar bereits in einer Phase, in der zwischen seinen Ohren so viel los war wie im Bücherregal von Claudia Effenberg.” Das Buch schenkt mir nicht nur neue Lachfalten, sondern auch eine andere Sicht auf mich selbst: Ich merke, dass ich eine viel geduldigere und entspanntere Mutter bin, als ich bisher dachte. Und jedem, der – wie ich auch stellenweise – sich manchmal denkt, dass die Autorin auf hohem Niveau jammert, nimmt sie geschickt den Wind aus den Segeln, indem sie genau das vorschlägt: mit den Augen zu rollen und sich über sie aufzuregen. Letztlich ist dieses Buch wie das Gespräch mit einer guten Freundin, die ebenfalls Mutter ist und die den wohltuenden Satz sagt: “Ach Gott, ja, das ist bei uns genauso.”

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
nun ja. Immerhin ist das Cover nicht kitschig.
… fürs Hirn: viele lustige Situationen. Und vieles, mit dem man nicht übereinstimmen muss. Fürs Gehirn also einfach nur: Entspann dich mal!
… fürs Herz: die Liebe und das Glück, wenn sie dann doch noch kommen (oder von Sekunde 1 da waren).
… fürs Gedächtnis: das Gefühl, nicht allein zu sein mit all den Emotionen, die das Muttersein mit sich bringt.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Im Krieg überlebt nur die Liebe
Als Stjepan erwacht, sind seine Kameraden tot, gestorben wie so viele in einem unbenannten Krieg. Er ist verletzt, seine Erinnerung ist lückenhaft, aber er weiß, dass er fort muss. Beim Anblick eines Babys, das an der Brust der toten Mutter liegt, ist er so erfüllt von Mitgefühl, dass er es mitnimmt. Für ihn allein ist der Fußweg durch die unsichere Gegend gefährlich, für den Säugling ist das Fehlen von Nahrung lebensbedrohlich. Stjepan kümmert sich mit seiner ganzen Kraft um das Kind, das er Skoda nennt, nach der Marke des Autos, in dem er es fand. Nichts verbindet ihn mit diesem Baby, zu nichts ist er ihm gegenüber verpflichtet, außer vielleicht zu Menschlichkeit, und so lässt Stjepan Schlimmes über sich ergehen, um Skoda zu retten. Das Land ist leer und verödet, die Gefahr steht an jeder Ecke bereit. Der junge Soldat kämpft gegen jede Wahrscheinlichkeit um eine Zukunft, um das Leben, um die Liebe.

Auf gerade einmal 80 Seiten entsprinnt der französische Autor Olivier Sillig eine tragende Parabel von exzellenter Wucht. Den Krieg, von dem er erzählt, begründet er nicht, weil er, wie jeder Krieg, sinnlos ist, und das Land, in dem gemordet wird, hat keinen Namen, weil es jedes Land sein könnte. Die Worte, die Olivier Sillig verwendet, sind nicht groß und protzig, nicht wild und vorlaut, sondern klein, zart, leise – und deshalb umso gewichtiger. In dieser kurzen Erzählung harmonieren Inhalt und Stil perfekt miteinander. Als ich das Buch schließe, habe ich das Gefühl, dass Ollivier Sillig darin alles gesagt hat, was es über die Menschen zu sagen gibt: dass sie unendlich brutal und gewissenlos sind – aber gleichzeitig fähig zu bedingungsloser Liebe. Sie bekriegen einander, aber sie helfen einander auch. Skoda ist ein Roman voller Resignation und voller Hoffnung. Mit dem Ende bin ich nicht zu 100 Prozent einverstanden, weil es mir im Detail nicht ganz realistisch erscheint und weil es den letzten Satz definitiv nicht gebraucht hätte, aber im Großen und Ganzen ist es ein stimmiger, logischer, sinnvoller Schluss. Ergreifend ist Skoda, schonungslos und klug. Mit diesem Buch ist es wie mit allen Büchern, die wirklich gut sind: Es zu lesen, schmerzt. Weil jeder Satz darin eine Wahrheit offenbart, vor der ich nur allzugern die Augen schließen würde. Weil das Leben grausam ist. Weil es immer, immer so weitergehen wird. Und weil am Ende nur die Hoffnung bleibt, dass die Liebe stets ein bisschen, ein kleines bisschen stärker sein wird.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein sehr schönes Cover!
… fürs Hirn: Menschheitshass.
… fürs Herz: Stjepan und das, was er tut: Er rettet ein Kind.
… fürs Gedächtnis: nicht nur das Buch, sondern auch der vilgerverlag aus der Schweiz, den ich bisher nicht kannte und von dem ich mir gleich das nächste Buch gekauft habe, nämlich Sieben Jahre Schlaf von Karin Richner. Bemerkung am Rande: eine wirklich originelle Idee hat der bilgerverlag für die Buchrücken!

Skoda ist erschienen im bilgerverlag (ISBN 978-3-03762-023-6, 84 Seiten, 17 Euro).

Prost Mahlzeit: 1 Stern

Klein in jeder Hinsicht
Arzee ist nicht gerade groß, aber seine Träume sind es: Er will erfolgreich sein, es weit bringen, Geld verdienen, eine Frau finden, die ihn liebt. Er lebt mit seiner Mutter und seinem Bruder in beengten Verhältnissen, und er wünscht sich mehr Respekt. Jeder sieht auf ihn herab, weil er klein ist, aber Arzee glaubt, dass sie ihn bald beneiden werden: Wenn sein Vorgesetzter im Filmtheater Noor in Pension geht, wird er selbst befördert werden, mehr Gehalt bekommen und endlich glücklich sein. Großmaulig verkündet Arzee schon, was für ein Wandel zum Guten ihm bevorsteht, doch das Schicksal macht ihm einen Strich durch die Rechnung: Das Kino soll geschlossen werden. Arzees Träume zerschlagen sich, und weil er noch dazu hohe Wettschulden hat, ist ihm ein Geldeintreiber auf den Fersen, den er nicht bezahlen kann. Arzee hat nicht vor, sich unterkriegen zu lassen – aber gegen die Steine, die das Leben ihm in den Weg wirft, kann er nicht viel ausrichten …

Chandrahas Choudhury ist in Bombay aufgewachsen, der wilden, ausufernden, stinkenden indischen Metropole. Er weiß, wie es ist, dort zu leben, und er erweckt in seinem ersten Roman Der kleine König von Bombay die hitzige Atmosphäre der Stadt. Was mir allerdings nicht so behagt, ist sein äußerst schwülstiger, aufgesetzter Erzählton. Protagonist Arzee wirkt auf mich wie ein Tolkien-Hobbit, der durch Bombay wandelt und sich halbphilosophisch mit sich selbst unterhält. Das klingt beispielsweise so: „Lauf, mein Freund! Die Scherereien des heutigen Tages liegen hinter dir – jetzt auf zum Ziel!“ Das ist mir viel zu krampfig und pathetisch. Das ganze Buch über geht es jedoch in diesem Stil weiter: „Um mich selbst mache ich mir keine Sorgen. Ich komme schon zurecht, bin mein Leben lang zurechtgekommen, sonst hätte ich es nicht so weit gebracht. Aber wer sagt das gerade? Das sage ich, während ich nach Hause gehe und zu diesem Mond hinaufschaue.“ Nun ja, ich gestehe, dass mich diese Monolog-Tiraden doch recht gelangweilt haben. Schön fand ich die liebevolle Beschreibung des alten Filmtheaters namens Noor, was „Licht“ bedeutet, und die lebhafte Schilderung von Bombay. Was den Hergang der Geschichte betrifft, so habe ich mir mehr Inhalt, mehr Action, mehr Höhepunkte erwartet – letztlich erzählt der Klappentext bereits alles, was im Buch geschieht, bis auf eine kleine Überraschung vielleicht. Sehr schade!

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge: das Cover gefällt mir an dem Roman am besten.
… fürs Hirn: da fällt mir nichts ein.
… fürs Herz: da auch nicht.
… fürs Gedächtnis: dito.

Der kleine König von Bombay von Chandrahas Choudhury ist erschienen bei dtv (ISBN 978-3-423-24917-1, 260 Seiten, 14,90 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Ein hochpubertärer Sommer
Max ist 15. Und das an sich wäre ja eigentlich schon schlimm genug. Aber in jenem Sommer, in dem sein Vater anfängt, die Bilder von Max’ verschwundener Mutter schwarz zu übermalen, bringt die Hitze auch das Blut von Max’ bestem – und einzigem – Freund Jacob in Wallung, er verliebt sich in die Klassenschönheit. Und Max bleibt außen vor, weil die Pubertät ihn bisher übergangen hat, weil er kein Interesse an Partys hat und weil er einsam ist. Sein Vater verhält sich geheimnisvoll, der Großvater lebt im Altersheim und redet nur übers Wetter, und so bleibt Max niemand, mit dem er über seine Sorgen und Ängste sprechen könnte. Am liebsten vergräbt er sich in einem Buch über Insekten: “Wunderbare Insekten übte eine magische Macht auf mich aus. Wenn ich darin las, zum Beispiel das herrliche Kapitel über die Evolution der Insekten (>Grüße aus dem Paläozoikum<), vergaß ich alles, die Tristesse des Sommers, meinen Vater und den Psychofritzen, die Unterzucker-Aktion von Vanessa Weinhold, den Mappenwahn, einfach alles. Auch mich selbst." Aber noch bevor er zu Ende geht, hält der Sommer eine Überraschung für Max bereit: Er lernt ein Mädchen aus Wien kennen, das hübsch ist und klug und das sich für sein angesammeltes Wissen interessiert. Und dann ist sie plötzlich voll da, die Pubertät …

Elias Wagner erzählt in Vom Liebesleben der Mondvögel die Geschichte eines Teenagers, der mit seinen widersprüchlichen Gefühlen kämpft: Einerseits will er dazugehören, andererseits etwas Besonderes sein, seine Mutter fehlt ihm, aber darüber reden kann er nicht. Max selbst berichtet in der Ich-Form, und Elias Wagner, hat sich viel Mühe gegeben, die authentische Perspektive eines Fünfzehnjährigen zu schaffen. Ich denke, dass ihm das durchaus gelungen ist – denn ich habe den ganzen Roman über das Gefühl, ein Jugendbuch zu lesen. Das stört mich anfangs gar nicht, weil ich im Gegensatz zu vielen Blogger-Kollegen nie Jugendromane zur Hand nehme und durchaus offen für Abwechslung bin, doch nach einer Weile fällt mir auf, warum ich dieses Genre – dem Vom Liebesleben der Mondvögel offiziell gar nicht angehört – meide: Ich bin der Welt, die dieser Roman beschreibt, entwachsen. Ich kann mich erinnern, ich weiß, wie es war, so unerfahren und hilflos zu sein, den eigenen Gefühlen ohne Kontrolle ausgeliefert. Aber jetzt, da ich bald – oh Schreck – doppelt so viele Jahre zählen werde wie Max, scheinen mir all seine Probleme gegenstandslos, mit Ausnahme des Verlusts seiner Mutter. Elias Wagner hat sich dennoch meine Gunst erschrieben – mit einer ausgezeichneten, klangvollen, ernsten Sprache. Sehr erwachsen ist sein Ton, was das Buch für mich persönlich gerettet hat – mich aber gleichzeitig vor die nächste Schwierigkeit stellt: Für einen 15-Jährigen drückt Max sich übermäßig gewählt aus. Man spürt und hört und sieht den erwachsenen Autor hinter jedem Satz, weshalb Max zwar klingt wie ein Jugendlicher, aber wie ein sehr altkluger. Das lässt sich vielleicht durch sein Interesse für Naturwissenschaften erklären, aber nur bedingt, denn der große Nerd, als der er dargestellt werden soll, ist er in meinen Augen gar nicht; und er schreibt auch keine guten Noten, eine Intelligenzbestie verbirgt sich also nicht in ihm. Deshalb irritiert es mich, wenn er nie jemanden ansieht, sondern immer “auf die Foeva centralis” einstellt, “den Ort des schärfsten Sehens”, oder wenn seine “renitalen Zapfen” ihre “Probleme” bekommen, während er sich “ins Halbdunkel eines Waldes tastet”. Das alles wirkt auf mich ein wenig aufgesetzt und krampfig. Schön sind aber die schlauen Vergleiche der Menschen mit Insekten und die abgebildeten Käferlein im Layout.

In einem Textseminar habe ich einst gelernt, dass man sich von Sätzen, in die man sehr verliebt ist, meistens trennen sollte. In Vom Liebesleben der Mondvögel meine ich einige Sätze entdeckt zu haben, von denen ich glaube, dass Elias Wagner vielleicht ein bisschen zu sehr verliebt in sie ist. Einzig im Kapitel, in dem jeder Satz mit “Es war” beginnt, kann ich diese Verliebtheit nachvollziehen: Da erwischt sie mich auch. Was bleibt, ist eine sehr wohl lesenswerte, düster-traurige, anmutige Geschichte über einen jungen Menschen, der viel sucht und zumindest ein bisschen was findet, eine Geschichte, die mich zurückwirft in eine Zeit, in der alles dramatisch und mein Herz ein Pingbongball war.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein schöner Hingucker und themaptisch passend.
… fürs Hirn: der Gedanke: Gott sei Dank werde ich nie wieder 15 sein!
… fürs Herz: Max und seine Tapferkeit, wie er mit dem Verlust der Mutter und dem Schmerz des Vaters umgeht. Sehr anrührend!
… fürs Gedächtnis: das “Es war”-Kapitel.

Vom Liebesleben der Mondvögel von Elias Wagner ist erschienen bei Hoffmann & Campe (ISBN 978-3-455-40356-5, 240 Seiten, 19,99 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Summer of Drowning
Im hohen Norden ist das Licht entweder immer da oder nie. Hier lebt die 18-jährige Liv mit ihrer Mutter auf der kleinen norwegischen Insel Kvaløya, die Mutter ist eine talentierte und bekannte Malerin aus Oslo, die in den Medien als Einsiedlerin gilt. Einen Vater gibt es in Livs neben nicht – obwohl er plötzlich auftaucht wie eine Randnotiz, die ihre Aufmerksamkeit fordert –, aber eine Vaterfigur: den alten Kyrre Opedahl. Er ist der einzige Nachbar und ein begabter Geschichtenerzähler. In dem Sommer nach Livs Schulabschluss gibt es auch allerhand, worüber er etwas erzählen kann: Innerhalb von 10 Tagen ertrinken Mats und Harald Sigfridsson im Malangenfjord in einem ruhigen, stillen Meer, „viel zu gleichgültig, um sich für sie zu interessieren“. Kyrre zufolge hat die Huldra sie geholt, ein Fabelwesen aus einer anderen Zeit, das vielleicht ein Mensch sein könnte, und das Liv in ihrer Schulkollegin Maia zu erkennen meint, „ein wildes Mädchen mit in die Haut geätzten Traummustern und fahlen, düsteren Tieren, ein Geschöpf, das die Furcht und damit auch jede Hoffnung auf Erlösung hinter sich gelassen hatte“. Liv spürt eine unerklärliche Angst vor Maia, die vor deren Tod mit den Brüdern Sigfridsson unterwegs war, sie sieht eine dunkle Seite in Maia, fühlt sich angezogen und abgestoßen und macht sich Sorgen, als Maia an der Seite von Martin Crosbie auftaucht, dem Sommergast von Kyrre. „In früherer Zeit gab es Menschen, die zum Horizont gehörten – Kyrre hatte mir davon erzählt –, und da sie besser als alle Menschen sehen konnten, machte man sie zu Beobachtern; ruhige, gedankenverlorene Wachposten, die wussten, was kommen würde, dessen Bedeutung aber nie ganz begriffen; Himmelsbeobachter, die über Sternbilder berichteten, sie aber nie zu deuten wussten. Martin Crosbie war einer von diesen Menschen.“ Da er nirgends hingehört, befindet er sich in Gefahr. Und während die Midnattsol das Land in ihr weißes Licht taucht, nehmen Ereignisse ihren Lauf, die ebenso mystisch sind wie das Himmelsphänomen.

Der schottische Autor John Burnside ist mehrfach ausgezeichnet für sein Werk – und mit In hellen Sommernächten zum ersten Mal im Bücherwurmlochmagen verschwunden. Der Vorschautext hat mir eine magische, rätselhafte, spannende Geschichte versprochen, in der die Grenzen zur Realität verschwimmen, und genau das habe ich bekommen. Allerdings liegt der Fokus viel stärker auf der Hauptfigur Liv, als der Klappentext ahnen lässt, die Ertrunkenen selbst werden dabei komplett außer Acht gelassen. Diese 18-jährige Protagonistin ist viel mehr Einzelgängerin als ihre Mutter, von der man es behauptet, sie hat keine Freunde und hält sich fern von der Liebe. Ihre Beziehung zur Mutter ist notgedrungen eng, einen Vater gab es nie, sie sind symbiotisch zusammengewachsen. Die Mutter ist eine ruhige, abwesende, stets im Atelier in die Malerei versunkene Person, fehlerfrei und engelsgleich in Livs Augen, über jeden unfreundlichen Gedanken erhaben, dabei doch eigentlich so lieblos. Der Vater ist der Erzeuger, dem Liv sich nicht stellen möchte, aber muss. Einzig für den alten Kyrre empfindet Liv noch etwas, sonst geht sie auf Distanz zu den Menschen. „Verschlungen mag ich nicht. Ich mag’s unberührt. Es gibt zu viel Berührung auf der Welt. Zu viel Verschlungenheit.“ Liv steckt fest, wie 18-Jährige eben feststecken in jener Zwischenzeit, in der sie nicht zurück in die Schule wollen, aber nicht wissen, wohin es vorwärts gehen soll. Und in diesem Sommer, in dem das Licht nie ausgeht, verschwinden – sozusagen in heller Nacht – Menschen, werden vom Meer verschluckt oder lassen sich, man weiß es nicht, freiwillig verschlucken, und Liv kann ihrer eigenen Wahrnehmung nicht mehr trauen.

John Burnside entführt mich an einen Ort, an dem sommers die Sonne nicht untergeht, an dem Trolle leben und eine ebenso verführerische wie gefährliche Huldra, die eine Idee sein mag, ein vergilbter Mythos oder ein schönes Mädchen, das Männer auf die offene See lockt. An diesem befremdlichen Ort geschehen merkwürdige Dinge, die, da sie nicht erklärbar sind, hingenommen werden, von den Beteiligten ebenso wie von mir, sie gehören zu jenen unwirklichen Ereignissen, die man nicht verstehen kann und muss. In hellen Sommernächten ist kein Thriller, kein Krimi, kein Gruselschocker – und trotzdem so unheimlich wie leise Schritte vor der Schlafzimmertür, wenn man allein im Bett liegt und niemand im Haus ist. Sehr stilvoll ist die Gänsehaut gekleidet, die diesen Roman überzieht, von bemerkenswerter Eloquenz. Trotz der Verweise auf die alten Sagen Norwegens ist das Buch sehr modern, und obwohl es so modern ist, lässt der Autor Merkwürdigkeiten auftreten, die nicht rational sind, nicht messbar mit Maschinen, nicht einzufangen in eine SMS. Wunderbar gemacht und wunderbar zu lesen!

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
die Schrift auf den Burnside-Covern gleicht sich, die Buchfarbe unter dem Umschlag ist meine Lieblingsfarbe.
… fürs Hirn: man muss sich auf die Stimmung, die Atmosphäre einlassen. Fur meinen Geschmack gibt es allerdings doch ein bisschen wenig Lösungen.
… fürs Herz: Liebesgeschichte exklusive.
… fürs Gedächtnis: mein Lieblingszitat: “Glück ist ein Geheimnis, es ist still, persönlich und jenseits aller Worte. Man kann es nicht beschreiben, und entgegen anders lautender Behauptungen kann es auch nicht geteilt werden. Sieht man zwei Menschen, die zusammen glücklich sind, weiß man, dass jeder für sich das Glück mitgebracht hat.”

In hellen Sommernächten von John Burnside ist erschienen im Knaus Verlag (ISBN 978-3-8135-0460-6, 384 Seiten, 19,99 Euro).

Für Gourmets: 5 Sterne

Das Versprechen für ein wunderbares Buch
„An dem Tag, als Sara auszog, konnte man es spüren. Es war einer dieser Tage, an denen für alle die Luft vibriert, einer dieser Tage, an denen ein ansteckendes Fieber grassiert. Es fühlt sich an, wie wenn man einen Stromschlag abkriegt, irgendjemand kriegt als Erster einen gewischt, der greift nach irgendjemandem neben sich, und schon nimmt alles seinen Lauf.“ Was für Pietro ihren Lauf nimmt, ist die Geschichte eines Sommers, jenes Sommers, in dem Sara ihn verlässt und Mario stirbt. Lange haben Sara und Pietro versucht, aus eins und eins drei zu machen, aber weil kein Kind gekommen ist, ist erst das Eheglück aus der Wohnung ausgezogen und dann Sara. Pietro ist Lehrer und sieht vor sich einen leeren Sommer ohne seine Schüler und ohne seine Frau. Die Nachricht von Marios Tod weckt Erinnerungen in ihm, die verblasst sind und über die er nie gesprochen hat: Mario war sein Großvater, der Mann seiner Mutter, ein abgemagerter Knochenmann mit dem Wahnsinn in den Augen, der nie schlafen konnte, denn „was ihn wach halte, seien die Toten, sei der Krieg, der zwar draußen längst vorbei, aber in seinem Inneren wurde noch immer geschossen“. In Russland war Mario, und er kam lebend nachhause, aber besser wäre es vielleicht gewesen, er wäre dort gestorben. Durch Zufall lernt Pietro jemanden kennen, der eigene Erinnerungen an den Krieg in Russland hat und sie mit Pietro – und dessen Mutter, die viel aufzuarbeiten hat in dieser Hinsicht – teilt: „Olmo fing an, Erinnerungen beiseitezulegen, so wie man Sachen für einen Sohn beiseitelegt, der nur ab und zu mal vorbeikommt.“ So verwebt sich Pietros Geschichte mit der von Olmo, der von seiner Mutter und der von Mario – und auch die Geschichte mit Sara ist noch nicht zu Ende.

Andrea Bajani ist ein höchst erfolgreicher italienischer Autor, der sich seinen Erfolg mit zarten, bildreichen, klugen Worten erschrieben und verdient hat. Schon mit Lorenzos Reise hat er mir sein großes Talent bewiesen, und Liebe und andere Versprechen ist noch viel besser. Bajani hat einen fast klaren, fast schon ironischen, schnörkellosen Stil, den er in seinem dritten Roman perfektioniert hat. Dieser Stil lässt sich so beschreiben: Andrea Bajani braucht nicht viele Worte, um zu sagen, was er sagen muss, und dennoch lassen mich diese Worte verblüfft zurück, weil sie alle ins Schwarze treffen wie surrende Pfeile. Ich möchte die Worte neben mich auf die Couch setzen wie Stofftiere, möchte sie behalten und jederzeit betrachten können, angreifen, streicheln, weil sie so ehrlich sind und traurig, möchte immer von ihnen umgeben sein. Die Vergleiche, die dieser Autor zieht, sind lebendig, sie sind eigene Geschichten, die das Erzählte vor meinen Augen sichtbar machen: „Wenn Sara ein Schmerz unerträglich groß wurde, ging sie immer schlafen. Ich sah sie auf wackeligen Beinen durch den Flur gehen, dicht an der Wand entlang, manchmal hielt sie sich fest, setzte sich bei der erstbesten Gelegenheit. Sie schleppte sich durch die Wohnung, als sei der Schmerz ein Mann und sie trage ihn huckepack, seine Arme im Klammergriff um ihren Hals, seine Beine auf ihre Hüften gestemmt.“

Liebe und andere Versprechen ist ein Buch über Geheimes und Unausgesprochenes und die Kraft, die es über die Menschen hat, über Liebe, Vertrauen und den Krieg, dessen Schrecken noch jene spüren, die lange schon in Frieden leben. Ganz nah bleibt Andrea Bajani bei seiner Hauptfigur Pietro, der eine so enge Beziehung zu seiner Mutter hat und so oft bei ihr isst, wie es wohl nur ein Italiener kann, und der nach jenen Spuren sucht, die 1943 unter dem russischen Schnee verschwunden sind. Ab und zu verlässt Bajani seinen Protagonisten auch kurz, um durch Pietros Augen von der Mutter und Mario zu berichten, ein erzählerischer Kunstgriff, der mir nie sehr behagt, weil ich stets denke: Pietro kann das alles über seine Mutter gar nicht wissen. Aber als Nicht-Literaturwissenschaftlerin analysiere ich dieses Unbehagen über den Erzählkniff nicht weiter, sondern freue mich einfach darüber, eine so lebensechte, wunderliche, schmerzhafte und elegante Geschichte lesen zu dürfen. Lorenzos Reise hat mir gefallen, aber Liebe und andere Versprechen hat mich begeistert. Und als mein Blick beim Schließen des Buchs noch einmal auf Bajanis Bild auf dem Umschlag fällt, kommt mir der kindisch-naive Gedanke daran, wie ungleich die Schöpfung ihre Gaben verteilt hat, wenn ein so schöner Mann auch noch so gut schreiben kann.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
die Farbgebung ist schön, mit der Laterne kann ich allerdings nichts anfangen.
… fürs Hirn: Russland und der Krieg, die Menschen und ihre Angst, einander zu verlieren, die zerbrechlichen Gefüge, die sie errichten, um sich zu schützen.
… fürs Herz: alles! Jede Zeile, jeder Satz, jeder Gedanke, jedes Gefühl.
… fürs Gedächtnis: die erhellenden, faszinierenden Sprachbilder. Und meine eigene Zufriedenheit beim Lesen.

Liebe und andere Versprechen von Andrea Bajani ist erschienen bei dtv (ISBN 978-3-423-24918-8, 340 Seiten, 14,90 Euro)

Gut und sättigend: 3 Sterne

Krissi Donald is back!
Endlich ist ihr Leben im Gleichgewicht: Krissie wurde nach ihren blutigen Abenteuern in Dead Lovely von ihren Eltern aufgenommen, führt eine wunderbare Beziehung mit dem rücksichtsvollen Chas und ist eine liebevolle Mum für den inzwischen dreijährigen Robbie, der sie als Säugling fast in den Wahnsinn trieb. Da alles so gut läuft, verlassen die drei Krissies Elternhaus, ziehen in eine eigene Wohnung und versuchen, ihr Leben auf die Reihe zu kriegen: Maler Chas bereitet sich in seinem Atelier auf seine erste Ausstellung vor, Robbie ist entweder bei ihm oder im Kindergarten und Krissie nimmt einen Job als “criminal justice social worker” an. Die ersten zwei Männer, die sie zugeteilt bekommt und für die sie ein Gutachten erstellen muss, sind ausgerechnet ein Kinderschänder und ein vermeintlicher, noch nicht verurteiler Mörder. Er heißt Jeremy, und Krissie kann sich nicht vorstellen, dass dieser attraktive, freundliche, verzweifelte junge Mann seine Schwiegermutter brutal niedergestochen haben soll. Deshalb beginnt sie nachzuforschen, lernt Jeremys Frau Amanda kennen und lässt sich so sehr von diesem Fall vereinnahmen, dass sie Chas und Robbie darüber vernachlässigt. In ihrer grenzenlosen Naivität erkennt Krissie nicht, dass der Job in ihrem Leben Überhand nimmt – und zwar nicht metaphorisch, sondern auf sehr direkte, grausame Weise …

My last confession ist der Nachfolger von Dead lovely und, wenn auch weniger splatterig, genauso spannend. Helen Fitzgerald lässt erneut ihre sympathische, hochneurotische und leicht verrückte Heldin Krissie Donald als Protagonistin auftreten – und serviert ihr eine weitere Ladung Mord und Totschlag. Dass Krissie mit mordlustigen Menschen und pädophilen Männern zu tun hat, ergibt sich aus ihrem extem anstrengenden Job, dass diese Mörder und Psychopathen sie und ihre Familie bedrohen, ergibt sich aus ihrer unfassbaren Unfähigkeit, sich aus etwas herauszuhalten und die Gefahr zu erkennen. Da ich als Leserin der Perspektive von Krissie folge, weiß ich selbst zuerst nicht, wer eigentlich mit wem ein falsche Spiel treibt. Aber Helen Fitzgerald gibt mir früh genug die Möglichkeit, es zu erahnen, damit ich mich ausreichend um Krissie sorgen und beim blutrünstigen Showdown mitfiebern kann. Lyrische Satzperlen darf man sich in diesem Buch nicht erwarten, Fitzgeralds Stil zielt eher darauf ab, leicht und schnell den Inhalt zu transportieren, zu unterhalten und zu amüsieren. Flapsig und ironisch ist der Ton, stets gibt Krissie sich selbst Ratschläge, an die sie sich dann nicht hält, und bringt mich zum Schmunzeln. Mit dem zweiten Teil ihrer Suspense-Reihe mit weiblicher Helding, den man allerdings auch gut lesen kann, ohne das erste Buch zu kennen, hat Helen Fitzgerald einen rasanten, witzigen, temporeichen und fesselnden Thriller vorgelegt. Wer das Genre mag, sollte diese Autorin unbedingt kennenlernen!

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
nun ja. Des Covers wegen hätte ich den Roman nicht gekauft. Die deutschen Cover des Galiani Verlags sind viel schöner.
… fürs Hirn: die Frage: ist Jeremy unschuldig oder nicht? Und die Herausforderung, die Lügen zu durchschauen – auch die der Autorin!
… fürs Herz: Krissie selbst, weil sie glaubt, die tougheste Braut der ganzen Stadt zu sein, während sie in Wahrheit auf jedes Lächeln hereinfällt.
… fürs Gedächtnis: Anmerkung für die Erinnerung: Autorin im Auge behalten!?