Bücherwurmloch

„Was nützte mir die Geschichte meiner Familie, wenn ich mit ihrer Tragik nicht alle erpressen konnte?“

„Behinderte – jedes Wort zu ihrer Bezeichnung ist unpassend, ungenügend – sind eine verborgene Mehrheit: Trotz all der Geräte und Prothesen, die beweisen wollen, dass es den Tod nicht gibt, wird fast allen von uns mit der Zeit eine Superkraft abhandenkommen, sei es das Sehvermögen, ein Arm oder das Gedächtnis. Fähigkeiten zu verlieren, die wir haben müssten, nicht mehr sehen, hören, sich erinnern oder gehen zu können, ist keine Ausnahme, sondern eine Bestimmung.“

Claudia Durastanti weiß, wovon sie spricht: Sie ist mit gehörlosen Eltern aufgewachsen. Davon erzählt sie in diesem Buch, bei dem es sich – wenn auch mit „Roman“ betitelt – um ein Memoir handelt (heutzutage Autofiktion genannt), das stellenweise einer Essay-Sammlung zu verschiedenen Themen gleicht. Eine Chronologie gibt es nicht, eine übergreifende Klammer sehr wohl: La straniera, so der Titel im Original, ist im Italienischen nicht nur die Fremde, sondern auch die Ausländerin, strano bedeutet zudem seltsam, merkwürdig. Alles davon passt, denn jede:r in dieser Geschichte ist seltsam, allen voran Durastantis Vater: Die Beziehung der Eltern ist geprägt von einer undurchsichtigen Hassliebe, der Vater ist ungestüm, unkontrolliert, gewalttätig, einmal entführt er seine Tochter, ein anderes Mal bedroht er seine Familie mit dem Messer. Die Mutter ist rebellisch und unangepasst, wandert stunden- und tagelang durch die Gegend, auch bei Regen, beide Eltern – die sich schon bei Durastantis Geburt scheiden lassen – weigern sich, Gebärdensprache zu benutzen. Zwar gelingt es ihnen dennoch, sich miteinander zu verständigen, doch die Kommunikation mit der Außenwelt und ihren Kindern ist schwierig.

„Wie die Hunde meiner Mutter, die erst fügsam waren und in den letzten Jahren durchdrehten, passt sich alles, was meine Eltern berühren, ihrem Verfall an. Sie sind ein König und eine Königin, beide sind Thaumaturgen, doch statt Kranke zu heilen oder Wunder zu wirken, verführen sie jedes Lebewesen in ihrer Nähe dazu, sich auszukugeln und dem eigenen Wahnsinn zu überlassen.“

Gewaltig und beeindruckend an diesem autofiktionalen Roman ist Claudia Durastantis Sprache. Manche Sätze legen exakt den Finger in die Wunde, sind wie ein Mikroskop, das Verborgenes offenbart. Und das ist doppelt faszinierend: Dass jemand, der im Bemühen um Verstehen, um Durchdringen, um Kommunizieren aufgewachsen ist, später mit Sprache arbeitet. Ich hätte mir mehr Struktur gewünscht, besonders im letzten Drittel franst es ein wenig aus. Generell aber merkt man, dass die Autorin zu jenen Menschen gehört, die durch eine traumatisierende Kindheit an Stärke gewonnen haben. Das soll Traumatisierung nicht seligsprechen, im Gegenteil: Man leidet beim Lesen mit diesem jungen Mädchen, das so auf sich selbst zurückgeworfen ist, mit. Ein Buch, das aus der Masse der Veröffentlichungen heraussticht, ein Buch, das von Migration und Gewalt, Sprachlosigkeit, Heimat und Fremdsein erzählt.

„Es gibt keine einzige Gewalttat in meinem Leben, an die ich mich erinnern kann, ohne zu lachen.“

Die Fremde von Claudia Durastanti ist erschienen bei Zsolnay.

 

 

Bücherwurmloch

„Ein Loch, ein Nichts, ein Ort, an dem ich noch nie gewesen war“

„Manchmal schien mir das das Schlimmste an der Ehe zu sein: Man wusste so genau, was jeder Tonfall, jede Geste, jede einzelne Bewegung bedeuteten. Schon bevor all das passierte, hatte ich mich gelegentlich nach einem Missverständnis gesehnt, danach, keine Ahnung zu haben, was er gerade meinte.“

Missverständnis gibt es zwischen Lucy und Jake keines, vielmehr einen klassischen Betrug: Jake hatte Sex mit seiner Kollegin. Als Lucy das herausfindet, reagiert sie abgeklärt, kümmert sich weiter um die zwei Söhne, als wäre nichts geschehen. Und doch: Jake bietet ihr an, dass sie ihn zum Ausgleich dreimal bestrafen darf. Sie akzeptiert das Angebot, und schnell zeigt sich, dass ihre Abgeklärtheit nur äußerlich ist, innerlich brodelt es. Eine tiefgehende Unzufriedenheit, sein Verrat, die eigene miserable Kindheit – Lucy ist wie ein Kessel, der mehr und mehr unter Druck gerät. Einerseits spielt sie die liebevolle Mutter, die Weihnachtsfeiern und Kindergeburtstage organisiert, andererseits ist sie getrieben von einem Wunsch nach Vergeltung, der über Jakes Betrug hinausgeht. Und Lucy war immer schon fasziniert von den Harpyien, den Rachegöttinnen mit Krallen und Flügeln.

Dieses Buch ist schlichtweg großartig. Es ist perfekt austariert zwischen Düsternis und Alltäglichkeit, und sein Erfolg bezeugt, dass viele sich darin wiederfinden. Megan Hunter ist es faszinierend gut gelungen, ihre Protagonistin fühlbar zu machen: Ich glaube ihr jede Bewegung, jede Regung. So nah ist man an Lucy, dass Jake zum Statisten verkommt – keine Ahnung, was er eigentlich denkt und will. Und egal ist es irgendwie auch, wichtig ist nur Lucy. Ein heftiger Sog entwickelt sich, ich habe das Buch an einem einzigen Abend weggesaugt. So gut die Geschichte ist, so schlecht ist ihr Ende: Ab der dritten Bestrafung rutscht es, man muss es so gnadenlos sagen, vollkommen ab, der Schluss ist verschwurbelt, unverständlich und vage, sodass hinterher mehr Fragen offen sind als beantwortet. Das ist schade, denn mit einem konsequenten Ende – das ich mir wegen der aufgebauten Spannung spektakulär ausgemalt habe – könnte dies ein wahres literarisches Gourmetstück sein. Bis kurz vor Schluss ist es das aber auch, weshalb ich es euch dennoch absolut empfehlen möchte. Es hat mich nachhaltig beschäftigt und beeindruckt.

Die Harpyie von Megan Hunter ist erschienen bei C. H. Beck.

Bücherwurmloch

„The piece sprang from the question I’ve always asked, and am still asking: What is art?”
Als ich 2017 in der Schirn in Frankfurt eine Ausstellung mit Arbeiten von Ulay und Marina Abramović gesehen habe, wollte ich mehr über diese faszinierende Frau und ihre aufsehenerregenden Performances erfahren. Die kurzen Filme, die ich gesehen habe, von ihr und Ulay, die nackt am Eingang des Museums stehen, sodass jeder, der hineinmöchte, sich an ihnen entlangzwängen muss, die Bilder, auf denen sie voller Blut ist, nackt auf einem Eisblock, haben mich noch lange beschäftigt. Nun habe ich endlich ihre Autobiografie gelesen oder besser: verschlungen. Die Sache mit Autobiografien ist, dass ich ihnen nicht glaube. Denn wer von uns kann sich schon wirklich an alles erinnern, noch dazu an Erlebnisse, die Jahrzehnte her sind? Was aus meiner Kindheit, das ich für gesichert halte, hat sich wirklich so ereignet, ist die Erinnerung nicht vielmehr überlagert von Erzählungen, von dem, was ich glauben will? Das nur vorweg, weil ich finde, dass man Autobiografien immer mit Vorsicht begegnen sollte – das bestätigen in diesem Fall auch die Vorwürfe, Marina Abramović habe manches weggelassen und verändert. Aber das ist wieder die Wahrheit der anderen, und so oder so: Diese Künstlerin ist eine unheimlich beeindruckende, willensstarke, einzigartige Persönlichkeit.

Aufgewachsen im kommunistischen Belgrad, gelingt es ihr erst im Alter von 29 Jahren, der herrschsüchtigen Mutter zu entkommen. Die Kunst ihrer frühen Jahre ist fruchtlos, aber sie bleibt es nicht: In ihrer Zusammenarbeit mit Ulay, mit dem sie 12 Jahre lang in engster Symbiose lebt, wird Marina bekannt – und später, ohne ihn, wird sie berühmt. Sie erzählt in diesem Buch auf sehr persönliche Weise von diesem Weg, gibt viel Privates preis, stellt sich nie als unverletzbar dar, ganz im Gegenteil. Sie erklärt ihren Zugang zu den Performances, bei denen sie an die Grenzen der eigenen Belastbarkeit geht und die, ich habe sie nie erlebt, extrem verstörend gewesen sein müssen. Marina Abramović, mittlerweile über 70 Jahre alt, hat in ihrem Leben viel gefastet und gehungert, sich selbst Schmerz zugefügt, meditiert und fremde Kulturen erforscht, sie ist entlang der Chinesischen Mauer gewandert und hat mit tibetischen Mönchen gearbeitet, sie war im Dschungel und in der Wüste, sie hat gefragt und gelernt und zugehört. Wer dieses Buch liest, versteht die Intention ihrer Kunst (und auch, dass man daran nur Satanismus sieht, wenn man blind ist für andere Deutungen), versteht aber auch, dass sie mit Sicherheit ein schwieriger Mensch ist. Interessant finde ich, dass Marina als starke Frau erlebt, was alle starken Frauen erleben: dass die Männer schwächer sind als sie. Und sie dafür bestrafen. Mag sein, dass sie ein komplizierter Charakter ist, mag sein, dass sie ihre Biografie durch ihren eigenen Filter betrachtet hat (und ich denke: Es gibt wohl kaum einen anderen Weg). Unbestritten aber ist, dass Marina Abramović für viel Wind in der Kunstwelt gesorgt hat – ihre Performance The artist is present haben Zigtausende gesehen, die sich sonst vielleicht nicht für Museen interessieren, sie hat außerdem dafür gesorgt, dass Performances wiederaufführbar und auf Video reproduzierbar wurden. Ihr Vermächtnis ist auf jeden Fall gewaltig und hat einen lauten Nachhall.

Auf Deutsch ist Durch Mauern gehen bei Luchterhand erschienen.

 

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„Das Unwiderrufliche darin einen Menschen nie wiedersehen zu können falls man ihm noch etwas sagen oder ihn etwas fragen musste“
Jana fährt an den Ort, der ihr nie ein Zuhause war, und an dem ihr Zwillingsbruder Bror noch lebt: ein kleines Dorf irgendwo in den Untiefen Schwedens. Sie weiß noch nicht, ob sie bleiben will, sie weiß nur, dass ihr Bruder Hilfe braucht, denn nach dem Tod von Maria trinkt er zu viel. Er hat sie geliebt, die Frau von John, wie offenbar fast alle Männer im Dorf sie geliebt haben, und nun ist sie tot. Jana findet in John unerwartet einen Verbündeten, und die beiden beginnen einen seltsamen Tanz aus Abweisung und Annäherung. John malt Bilder, John hat Geheimnisse, er säuft ebenfalls, neigt zu Gewalt, und dann sind seine rauen Hände wieder so zärtlich.

„Unsere wortkarge Art der Kommunikation war bequem. Ich musste nichts erklären. Er auch nicht. Wir schienen die Antworten auch aus dem Schweigen heraus zu verstehen.“

John und Jana sind einander ähnlich, weil sie aus einer Kindheit voller Missbrauch und Grausamkeit kommen, sie sprechen dieselbe Sprache aus Traumata und Angst. Der Vater von Jana und Bror war ein roher, gewalttätiger Mann, die Mutter hat weggeschaut. Jana bleibt, sie nimmt einen Job als Altenpflegerin an, begegnet ihrer ehemaligen Schulfreundin Katarina wieder und versucht, irgendwie klarzukommen mit dem, was geschehen ist.

„Dem Dorf entging nichts. Alle wussten alles. Es war erschreckend und gleichzeitig schön weil man nichts zu erklären brauchte.“

Das Setting ist bekannt: der Bauernhof, der prügelnde und vergewaltigende Vater, die erwachsenen Kinder, die von den Folgen der Erlebnisse gezeichnet sind – und doch hat Karin Smirnoff einen neuen Weg gefunden, diese altbekannte Geschichte zu erzählen. Zum einen ist ihre Story vielschichtiger und komplexer, zum anderen benutzt sie keine Satzzeichen außer Abschlusspunkte. Dadurch wird der ganze Roman zu einem einzigen langen, heftigen stream of consciousness. Er bräuchte zahlreiche Triggerwarnungen, es geht um Gewalt und Einsamkeit, um alte Wunden und das Verstummen. Die schwedische Autorin hat sich mit ihrer ungerührten Art zu schreiben direkt in mein Hirn gewunden, ich war gefordert, verstört, angeekelt und voller Mitleid. Ein hartes, intensives, sehr gutes Buch und angeblich der erste Teil einer Trilogie.

Mein Bruder von Karin Smirnoff ist erschienen bei Hanser Berlin.

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„Warum hatte sie sich nie beklagt?“
Jiyoung erlebt schon in ihrer Kindheit, wie Jungs von Geburt an bevorzugt werden, das bessere Essen bekommen, nicht im Haushalt helfen müssen, und so zieht sich dieses Ungleichgewicht durch ihr Leben: Cho Nam-Joo erzählt von einer Frau Ende dreißig, die in Südkorea aufwächst und mit den dort herrschenden Ungerechtigkeiten zu kämpfen hat. Die Zeiten haben sich verändert, ja: Sie kann in die Schule gehen, sie darf studieren. Aber sie bekommt nur Absagen auf ihre Bewerbungen nach dem Studium, und als sie endlich einen Arbeitsplatz findet, wird sie um einiges schlechter bezahlt als die männlichen Mitarbeiter, wird bei Beförderungen übergangen und bei Firmenfesten belästigt. All das ist normal. All das ist eigentlich nicht der Rede wert. Millionen Frauen vor und neben Jiyoung ergeht es so. Und doch: In ihr regt sich plötzlich ein zarter Widerstand. In ihr regt sich ein kleines Aufbegehren, das nicht in ein Handeln mündet, noch nicht, vielmehr in einem eigenartigen, psychotischen Zustand, der vor allem ihren Ehemann beunruhigt.

„Hat ein Gesetz oder ein System Einfluss auf die Wertvorstellungen eines Menschen? Oder richten sich die Gesetze und Institutionen nach den Werten der Menschen?“

Die koreanische Drehbuchautorin Cho Nam-Joo hat ein Buch geschrieben, das klarer und deutlicher nicht sein könnte: Sie zeigt, wie die Frauen in Südkorea sich aufopfern, wie sie hackeln und sich kümmern, schuften und schweigen, sie zeigt den Sexismus, die fehlende Gleichberechtigung. Das ist ihr ein solches Anliegen, dass sie sogar zu Zahlen und Statistiken greift, um zu belegen, was sie erzählt, was dem Roman – vor allem im letzten Drittel – fast etwas Sachbuchartiges gibt. Dieses schmale Büchlein hat mir wieder einmal vor Augen geführt, wie es Frauen in anderen Ländern der Welt ergeht – und dass wir, trotz allem, womit und wofür wir noch zu kämpfen haben, schon um einiges weiter sind. Deshalb kann ich zwar verstehen, was für einen Aufruhr Cho Nam-Joo in Asien ausgelöst haben muss, bin aber selbst nicht so aus dem Häuschen wegen der Geschichte. Vor allem auch, weil die Idee vom Anfang, dass Jiyoung verschiedene Persönlichkeiten übernimmt, nicht weitergeführt wird. Generell hätte ich mir mehr Konsequenzen gewünscht, einen Handlungsreiz, der aus dem Leidensdruck resultiert, in dieser Hinsicht war beispielsweise Han Kang radikaler. Ich feiere diesen Roman für seine Wichtigkeit und hoffe, dass er dazu beiträgt, dass sich für die Frauen in Korea etwas verändert.Wobei sich die Frage stellt, ob seine eigentliche Zielgruppe ihn liest: koreanische Männer.

Kim Jiyoung, geboren 1982 von Cho Nam-Joo ist erschienen bei Kiepenheuer & Witsch.

 

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„Als wir begannen, in großen Gruppen von Tausenden Fremden zusammenzuleben, änderte sich alles“
Ich verbringe ja einen Großteil meiner Zeit damit, über Bücher zu schreiben und über Bücher zu reden. Trotzdem überfällt mich manchmal eine regelrecht panikartige Starre. Dann nämlich, wenn mir ein Buch so wichtig ist, dass ich Angst bekomme, ich könnte euch nicht entsprechend vermitteln, WIE wichtig. So geht es mir mit diesem Titel von Rutger Bregman, der mit einigen Auftritte und Reden sowie mit seinem Buch „Utopien für Realisten“ sehr bekannt geworden ist. Ich kann euch nicht einmal sagen, warum ich mir „Im Grunde gut“, gekauft habe, wo ich doch recht selten Sachbücher lese. Es war einer der merkwürdigen Fälle von: Nicht ich habe das Buch gefunden, sondern das Buch hat mich gefunden. Und es war allerhöchste Zeit. Weil ich oft zu kämpfen habe mit meinem Menschheitshass, mit meinem Zynismus, mit dem Gedanken: Sterben wir doch bitte alle aus, dann hat diese Dummheit, diese Ignoranz, diese Grausamkeit ein Ende. Ich bin extrem geprägt von dem Glauben, dass der Mensch im Grunde schlecht ist. Dass da nichts Gutes in ihm schlummert, nur Gier, nur Egoismus, nur blindes Handeln zum eigenen Vorteil. In vielen, vielen Schulstunden habe ich gelernt, dass der Urzeitmensch seine Artgenossen erschlagen hat, um sein Überleben zu sichern, dass wir nie etwas anderes getan haben, als Krieg zu führen, dass wir Millionen getötet haben, dass wir die Religion als Vorwand nutzen, um Andersgläubige zu ermorden, dass wir an Geld interessiert sind, an Besitz, an Macht. Ich habe gelernt, dass Menschen, die auf einer einsamen Insel stranden, gewalttätig werden – siehe Herr der Fliegen –, dass Menschen, die zu Wärtern und Insassen gemacht werden, völlig außer Kontrolle geraten – siehe Stanford-Prison-Experiment. Ich habe gelernt, dass Leute, die mitbekommen, wie vor ihren Augen eine Frau vergewaltigt und ermordet wird, ihr nicht helfen – siehe Kitty Genovese –, und dass jede Gesellschaft auf Mord und Hass fußt.

Dann kam Rutger Bregman mit diesem Buch. Und hat mir gezeigt, dass alles, wirklich alles, was ich gelernt habe, nicht stimmt. Die Sache ist: Wenn er Recht hat, dann stellt das unsere gesamte Welt auf den Kopf. Wenn er Recht hat, dann ist das nicht einfach nur ein Sachbuch, sondern eine Revolution. Dann gehört es in jede Schulklasse, in jedes Bücherregal, in jedes Gehirn. Ich wünschte, ich hätte es schon vor Weihnachten gelesen – ich hätte es ungelogen jedem geschenkt, den ich kenne. Wenn er Recht hat, dann sind wir nicht die hasserfüllten, egogetriebenen Wesen, die wir zu sein glauben sollen, sondern voller Mitgefühl und Freundlichkeit, erfüllt vom Wunsch nach Zusammenhalt und Gemeinsamkeit. Ich habe dieses Buch verschlungen, oft noch bis Mitternacht gelesen, so sehr hat es mich erschüttert. Zweimal habe ich angefangen zu weinen. Zurückgelassen hat es mich in dem Bewusstsein, dass ich alles, was ich geglaubt habe zu wissen, überdenken muss. Dass vielleicht – und ich hätte nie gedacht, dass ich so etwas einmal sagen würde – doch noch Hoffnung für uns besteht. Ein kleines bisschen. Weil wir im Grunde gut sind.

Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit von Rutger Bregman ist erschienen bei Rowohlt, übersetzt aus dem Niederländischen von Ulrich Faure und Gerd Busse.

 

 

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„Die Kindheit ist lang und schmal wie ein Sarg, aus dem man sich nicht allein befreien kann“
1917 geboren, wächst Tove Ditlevsen in ärmlichen Verhältnissen im Kopenhagen der 1920er-Jahre auf. Ihr Vater ist arbeitslos, der große Bruder keine Hilfe in der täglichen Auseinandersetzung mit der sehr herrischen, manipulativen Mutter. Die ganze Familie arrangiert sich mit der Situation, kommt über die Runden – hat aber wenig Beachtung übrig für die Träume der kleinen Tove. Sie hat so viele Worte in sich, so viele Gedichte. Heimlich schreibt sie sie in ein Poesiealbum und stellt sich vor, eines Tages ein Buch zu veröffentlichen. Das erscheint ihr unmöglich, doch die Lebensgeschichte dieser dänischen Autorin, die gerade wiederentdeckt wird, zeigt, dass es ihr schließlich gelungen ist.

„Ich schwor mir, nie wieder jemand anderem meine Träume zu verraten, und hielt mich meine ganze Kindheit über daran.“

Drei schmale Bände fasst die Autobiografie von Tove Ditlevsen, die sich 1976 das Leben genommen hat. In diesem ersten Band berichtet sie vom Aufwachsen im Arbeitermilieu, von den Entscheidungen, die ein Mädchen damals nicht selbst treffen durfte, von Freundschaften, die auf der Straße entstehen und dort auch wieder zerbrechen, von gnadenlosen Lehrern und der tiefen Scham, die man fühlt, wenn man ausgelacht wird. Sie braucht nicht viele Worte, und das ist ihre Kunst, um diese Zeit, diese Kindheit, lebendig zu machen, und obwohl ihre Sätze klar und schnörkellos sind, enthalten sie leuchtende, perfekt sitzende Metaphern. Ich konnte mich sofort wiederfinden in diesem Kind, das eine unheimliche Faszination für die Welt des geschriebenen Worts empfindet, aber noch nicht weiß, in welche Richtung sie das führen könnte – und ob sich da Wege auftun werden und Möglichkeiten. Ein kleines, feines Stück Erinnerung, ein elegantes Buch, in dem – trotz aller Trostlosigkeit – eine große Liebe zwischen den Zeilen schwingt. Es ist nicht die Liebe für die Eltern, den Bruder oder die Freundinnen, es ist eine Liebe für das Schreiben.

Kindheit von Tove Ditlevsen ist erschienen bei Aufbau, übersetzt aus dem Dänischen von Ursel Allenstein.

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„Wir waren alle bloß Geschöpfe unserer niederen Natur“
Bambi hat ein Problem: Mitten im Lockdown setzt seine Freundin Mide ihn vor die Tür, weil er sie betrogen hat. Da fällt ihm der Bungalow seines Onkels ein, der an Covid verstorben ist – vielleicht kann er dort unterschlüpfen. Zu Bambis Überraschung findet er im Bungalow nicht nur seine Tante, Aunty Bidemi, vor, sondern auch Esohe, die Geliebte des Onkels – und ein Baby. Diese vier sind nun also gemeinsam eingesperrt, und die Stimmung kippt schnell: Beide Frauen behaupten, die Mutter des Kindes zu sein, wollen es an sich reißen, Blut wird an eine Wand geschmiert, Sand ist im Essen, und wer steht da nachts an Bambis Bett und beobachtet ihn?

Oyinkan Braithwaite zeigt nach ihrem Erfolgsbuch Meine Schwester, die Serienmörderin erneut, dass sie großartige Einfälle hat – aber auch, dass sie gegen Ende ihrer Bücher hin inkonsequent wird. Schon in ihrem ersten Roman war ich vom Schlusspunkt enttäuscht, er wurde allzu schnell abgehandelt, einiges widersprach komplett dem, was zuvor erzählt wurde. So ähnlich ist es auch in Das Baby ist meins: Die Ausgangslage ist interessant, ein spannendes Setting – zwei Frauen, die per se Konkurrentinnen sein müssen, ein Baby, ein junger Mann, der nicht so unschuldig ist, wie er sich gibt. Aber das, was die Autorin aufbaut, führt sie nicht zu Ende – sehr abrupt bekommen wir einen Schluss serviert, der vielleicht überraschen mag, bei genauerer Betrachtung aber so gar keinen Sinn ergibt, in mehrfacher Hinsicht. Zudem sehe ich in dieser Geschichte nicht, wie der Klappentext behauptet, „eine augenzwinkernde Ansage an das Patriarchat“ und auch nicht, wie Volker Weidermann schrieb, die „Emanzipation junger Afrikanerinnen“. Die Tante im Buch ist nicht jung, die beiden Frauen sind nur deshalb auf sich gestellt, weil der Mann, der Versorger und Ernährer, am Virus gestorben ist, sie unterwerfen sich komplett den patriarchalen Strukturen – sie sind, dem misogynen Klima der Unschwesterlichkeit folgend, verfeindet, der Protagonist, ebenfalls ein Mann, wird dargestellt als der Einzige, der die hysterischen Weiber beruhigen kann. Wo ist das bitte emanzipiert? Das bestätigt doch nur all die tausend Klischees über Frauen, mit denen wir sowieso ständig gefüttert werden. Und das, was dieser Mann ihnen am Ende antut, ist genau das, was Männer Frauen immer antun: Er entscheidet für sie und über ihre Köpfe hinweg. Für mich ist dieser Roman keine Ansage an das Patriarchat, er macht vielmehr eine tiefe Verbeugung vor dem Patriarchat. Um die Geschichte wirklich zu entfalten, müsste er länger sein und tiefer gehen, um wahre Emanzipation zu zeigen, müsste er anders enden.

Das Baby ist meins von Oyinkan Braithwaite ist erschienen bei Blumenbar.

Bücherwurmloch

„Allzu oft widmen sich farbgeschichtliche Studien nur der jüngsten Vergangenheit und nur künstlerischen Belangen“
Kassia St Clair macht es anders. Als die Journalistin und Kolumnistin für ihre Dissertation über Kleidungsstücke recherchierte, entdeckte sie eine Art ersten Modekatalog und zahlreiche ausgefeilte Farbbeschreibungen. Sie war davon so begeistert, dass sie anfing, sich mehr und mehr mit der Welt der Farben zu beschäftigen. Das Ergebnis ist ein großartig aufbereitetes, umfassendes und sehr interessantes Werk. Von Isabellfarben und Russet über Fuchsrot und Ultramarin bis hin zu Auripigment und Neonpink: Zu jeder dieser Farben – manche kennen wir, manche nicht – erzählt die Autorin viel Wissenswertes. Woher kommt der Name? Wann wurde diese Farbe zum ersten Mal erwähnt? Hat man damit gemalt oder Kleidung gefärbt, wie wurde sie hergestellt? Existiert sie noch oder ist sie dem Zahn der Zeit zum Opfer gefallen?

Da gibt es Geschichten von Gift und Meeresschnecken, von Gefängniswänden, deren Farbe die Insassen schwächt, Geschichten über weltberühmte Maler, kleine und große Skandale und die Geheimnisse der Kunstwelt. Jeder Farbe sind etwa drei Seiten gewidmet, und man kann sie wunderbar immer mal wieder zwischendurch lesen. Es ist faszinierend, was die Menschen teilweise auf sich genommen haben, um sich in eine bestimmte Farbe zu kleiden, ihrer habhaft zu werden, sie zu besitzen. Da ging es oft um Macht und um viel Geld. Auf leichte, gut verständliche Art fasst Kassia St Clair zusammen, was sie herausgefunden hat, und versammelt Informationen, die mehr oder weniger verloren waren, setzt ihnen ein Denkmal, bringt sie noch einmal zum Glänzen – all diese wunderschönen Farben.

Bücherwurmloch

„It is only by bringing these women back to life that we can silence the Ripper and what he represents“
Was für eine Arbeit das gewesen sein muss, was für eine Mammutaufgabe: sich durch die Archive zu wühlen, die Bilder und Namensregister, die Polizeiberichte und alten Zeitungen. Um herauszufinden, was der Wahrheit entsprach – und was nur wegen der Sensationslust geschrieben wurde. Hallie Rubenhold hat das getan. Akribisch hat sie sich den Leben von fünf Frauen gewidmet, von denen jeder von uns bereits gehört hat – und von denen doch kaum jemand die Namen kennt. Weil immer nur die Rede von dem Mann ist, der diese Frauen aufgeschlitzt und ausgeweidet hat, weil Dutzende Filme, Bücher und Horrorgeschichten auf seiner Figur basieren, ihm Raum geben, ihm geradezu huldigen. Wer seine Opfer waren, danach hat nie jemand gefragt, dafür hat sich kaum jemand interessiert – bis Hallie Rubenhold kam. Und verblüffende Tatsachen ausgegraben hat.

„The cards were stacked against Polly, Annie, Elizabeth, Kate and Mary Jane from the day of their births. They began their lives in deficit. Not only were most of them born into working-class families, but they were born female.“

Dieses Buch ist unglaublich gut. Es ist wichtig und schlau und wahnsinnig informativ. Ich habe sehr lange daran gelesen, man muss diesen Frauen Zeit und Aufmerksamkeit widmen. Die Autorin hat nicht nur die Geburt, das Aufwachsen, die Ehen und das Mutterdasein der fünf nachverfolgt und aufgeschrieben, sie liefert auch ein sehr detailreiches, eindrückliches Bild jener Zeit. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war – nicht nur in England, wo Polly, Annie, Elizabeth, Kate und Mary Jane gelebt haben – geprägt von Armut, Schinderei, Krankheit, Seuchen, Leid und Tod. Es mag dramatisch klingen, aber: Auch wenn ein unbekannter Mörder die fünf Frauen getötet hat, waren sie eigentlich schon bei ihrer Geburt verdammt. Sie waren in dem Moment, in dem sie als Frauen zur Welt kamen, so gut wie tot. Zwar sind sie nicht der extrem hohen Kindersterblichkeit zum Opfer gefallen, auch die Geburten ihrer eigenen Kinder haben sie überlebt, aber nicht die eisige Kälte der Gesellschaft, die ihnen jede Möglichkeit genommen hat, allein, unabhängig von einem Mann, zu überleben. Sie wurden verprügelt und vergewaltigt, unfassbar schlecht für ihre Schufterei bezahlt, sie wurden auf die Straße geworfen, der Armut überlassen. Sie waren Mütter, Ehefrauen, Trinkerinnen, sie waren krank und ausgestoßen, aber eines waren sie – obwohl das seit 130 Jahren behauptet wird – mit einer Ausnahme nicht: Prostituierte. Oft war der einzige Weg, der Frauen noch blieb, ihren Körper zu verkaufen, dennoch haben vier von ihnen es nicht getan. Ihnen wurde, weil man sie auf der Straße fand, dieser Stempel aufgedrückt. Und der Umgang mit ihnen zeigt, dass Sexarbeiterinnen als „ohnehin wertlos“ galten – es herrschte die Meinung: Im Endeffekt waren diese Frauen doch fast schon selber schuld.

„Today there is only one reason why we would continue to embrace the belief that Jack the Ripper was a killer of prostitutes: because it supports an industry that has grown in part out of this mythology.“

Hallie Rubenhold räumt damit auf. Sie erzählt die Wahrheit und vor allem legt sie zum ersten Mal den Fokus nicht auf den Täter – sondern auf die Opfer. Auf die Frauen. Auf ihre Geschichte.