Gut und sättigend: 3 Sterne

HulovaFicken, ficken, ficken für Geld
Die Dreizimmerwohnung ist eigentlich eine „Plastikfickstube“. Hierher kommen die Reibeisenbesitzer, um ihre Schwänze in das käufliche Reinstecksel zu stecken. Die Reinsteckselbesitzerin erfüllt für Geld alle Wünsche, lässt sich schlagen und bumsen, bläst und streichelt, bestellt ein zweites Extrareinstecksel, denn sie weiß über ihre Kunden: „Sie kommen in die Plastikfickstube, um sich ein bisschen Menschlichkeit abzuholen, und nicht, um sich irgendeinen Digifilm reinzuziehen, den sie anklicken und der ihnen vorgesetzt wird wie ein kalter Fisch dem Polarforscherhund.“ Abseits der kleinen Wohnung gibt es für die Reinsteckselbesitzerin nicht viel im Leben, und sie hat reichlich Muße, sich Gedanken zu machen über Männer, Frauen, Körperhygiene, das ganze Gedöns um den Sex und über das Leben im Allgemeinen: „Das Leben ist ja bekanntlich in kleine Teile aufgestückelt, genau wie eine Orange oder Torte. Der einzige Unterschied ist, dass das keine leckeren Dreiecke sind, sondern häufig ziemlich ungenießbare Jahre.“ Über ihre Kunden und deren zuweilen abartige Vorlieben kann sie nach jahrelanger Erfahrung allerhand sagen: „Meine Kunden haben ein gewisses Niewoh, und fürs Niewohvolle zahlen sie auch, und darum sind sogar die Grindigsten, mit denen ich mich treff, noch immer Kirschen auf der Torte von diesem Pack von Nuttenstechern“, und: „Wenn die nicht gewalttätig sind oder selbst Gewalt brauchen, leiden sie meistens an einer Störung des Urteilsvermögens in Bezug auf das Alter von der Reinsteckselbesitzerin – oder vielmehr vom niedlichen Fötzchenkindchen, weil die Muschiläppchen bei der Altersgruppe, auf die die ganz Speziellen abfahren, so arg wenig behaart sind wie ein frisch geschlüpftes Küken.“ Nun ja, schön ist es nicht, das Leben als Hure. Aber, so meint die Reinsteckselbesitzerin, es könnte schlimmer sein.

Petra Hůlová, die als eine der wichtigsten tschechischen Schriftstellerinnen ihrer Generation gilt, entwirft in diesem Buch eine Dreizimmerwohnung, in der über die Maßen viel gevögelt wird. Und bei der Beschreibung der schlafzimmerinternen Vorgänge ist sie äußerst explizit: Da werden saftige Fötzchen von willigen Zünglein geschleckt, Reibeisen stellen sich neugierig auf, wenn sie einen Schlag ins Gesicht hören, es gibt wolllüstige Wonnen, Gebläse und am Ende Finger, die Geldscheine zählen. Dieser Roman ist der Monolog einer Prostituierten, die sich Gedanken macht über ihren Job und die Männer, die sie für Sex bezahlen, über ihre Nachbarn und den Unterhaltungswert ihres Lebens als Fernsehserie. Ich mag es, dass Petra Hůlová ihre Ich-Erzählerin so direkt und unverblümt sprechen lässt, auch wenn die blumig-fantasievollen Metaphern und Euphemismen für tabuisierte Körperregionen und sexuelle Praktiken zuweilen ein wenig kindisch sind. Die Reinsteckselbesitzerin hat eine eigentümliche, verdrehte Art, sich auszudrücken, die diesen langen Monolog sprachlich originell macht. Freilich ist es aber auch anstrengend, einen ganzen Roman lang der lamentierenden Stimme einer Frau zuzuhören, die alles und jeden verurteilt, wie die Gesellschaft es mit ihr tut. An Direktheit, Witz und überraschenden Einsichten vermisse ich nichts, wohl aber an Handlung, denn davon gibt es – abgesehen von einem Dreier als Höhepunkt – keine. Vielmehr hat Petra Hůlová die provokanten Meinungen einer Prostituierten in eine Form gebracht, die manchen Leser schockieren mag, und ich genieße es wie ein Voyeur, zuzusehen, wie ein Tabu nach dem anderen mit lautem Knacken gebrochen wird. Zarte Gemüter macht dieses Buch nicht glücklich, alle anderen bekommen endlich mal zähe Knochen zwischen die Zähne.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
cooles Cover, der Vogel ist allerdings ein wenig schwach im Vergleich zum krassen Inhalt.
… fürs Hirn: wie wär das so, als Nutte in einer Plastikfickstube ohne Perspektiven?
… fürs Herz: nichts, hier geht es um Sex.
… fürs Gedächtnis: mein Lieblingszitat: „Die Digiwelt foltert mich, als wär ich nicht schnell genug; und dabei bin ich noch ganz jung und nackt und brauche Wärme und Streicheleinheiten, damit ich aufblühe wie eine Blume, die doch jede Frau ist, und heute sind auch Männer Blumen, die man pflegen muss.“

Dreizimmerwohnung aus Plastik von Petra Hůlová ist erschienen im Verlag Kiepenheuer & Witsch (ISBN 978-3-462-04522-2, 192 Seiten, 17,99 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

DelacourtUnd was, wenn alle Wünsche in Erfüllung gehen könnten?
„Ich bin siebenundvierzig, habe einen treuen, netten, nüchternen Mann, zwei große Kinder und eine kleine Seele, die mir manchmal fehlt.“ Jocelyne lebt in einer kleinen französischen Stadt, führt ein kaum einträgliches Geschäft für Stoffe und Knöpfe und schreibt ein beliebtes Blog über die Freuden der Handarbeit. Mit ihrem Mann hat sie gute und schlechte Zeiten erlebt, die Kinder sind aus dem Haus, es wartet der Weg in den beschaulichen Ruhestand. Jocelyne weiß, dass sie keine Schönheit ist: „Ich habe nicht die Anmut der Frauen, denen man lange Sätze mit Seufzern als Satzzeichen ins Ohr flüstert, nein. Ich verleite eher zu kurzen Sätzen. Deftigen Bissen.“ Aber sie ist zufrieden mit dem bescheidenen Glück, das sie hat. Und dann gewinnt Jocelyne 18 Millionen und 547.301,28 Euro im Lotto. Was tun? Dem Gatten den begehrten Sportwagen kaufen, den Laden schließen, eine Villa beziehen, Gucci tragen, Champagner schlürfen? Jocelyne ist völlig gelähmt. Sie denkt nicht an das, was sie bekommen, sondern an alles, was sie verlieren könnte. Und das geschieht schneller, als sie sich vorstellen kann …

Alle meine Wünsche ist eines jener schmalen, leichten, französischen Büchlein, die vom Glück und von der Liebe erzählen, die beschwingt daherkommen und doch im Inneren eine schwerwiegende Botschaft bergen. Anfangs flaniere ich neugierig durch Jocelynes idyllisches Leben, lausche ihren halb belustigten, halb verzweifelten Schilderungen ihrer Ehe, ihres Ladens, ihres Körpers und freue mich mit ihr über den Erfolg ihres Blogs. Dann holt Grégoire Delacourt auch schon verschmitzt grinsend zum ersten Schlag aus: Der Lottogewinn verändert alles. Oder könnte alles verändern. Aber Jocelyne hat Angst. Zuerst will ich sie schütteln und anschreien, fragen, ob sie verrückt ist, ihr Vorschläge machen für all die Abenteuer, die ihr der Lottogewinn finanzieren kann. Doch dann verstehe ich langsam ihre Panik vor dem Ungewissen, vor dem Verlust der Kontrolle, vor einem komplett anderen Leben. Sie will nicht reich und von falschen Freunden geliebt sein, sie braucht kein schnelles Auto, keine Gucci-Tasche, keine Yacht. Und sie weiß, dass sie ihrem Mann nicht mehr genügen wird, sobald ihm der Reichtum die vielen Alternativen in Reichweite rückt.

Also sitzen wir fest, Jocelyne und ich. Und beide rechnen wir nicht mit dem Schlag, den der Autor uns dann versetzt, weil er so niederträchtig, gemein und unvorhergesehen ist. Wobei, wenn man es genauer betrachtet, nichts logischer erscheint. In unserer grenzenlosen Naivität haben Jocelyne und ich geglaubt, es könnte so weitergehen mit dem netten, harmlosen Alltag und den kleinen Freuden, die man bewusst suchen muss, und wir sind geschockt von der Wendung, die die Geschichte nimmt. Grégoire Delacourt hat mich in die Falle gelockt und schüttet plötzlich einen Kübel Traurigkeit über mir aus. Ich habe noch nie Lotto gespielt, und zwar, weil ich nicht gewinnen will. Gewinnen ist scheiße. Genau wie Jocelyne brauche ich keine 18 Millionen Euro, sondern ein kleines Glück mit Kinderhänden in meinen, Ausflügen ans Meer und Weißt-du-noch-Küssen. Die Moral von dieser Geschichte ist uralt und bekannt: Geld macht nicht glücklich. Es verändert die Menschen – und nicht zum Besseren. Dies ist ein melancholisches, bitteres, lehrreiches Büchlein voller Sätze, die ich mir an die Wand nageln möchte, weil sie so schön sind. Und es bestärkt mich darin, niemals mit dem Lottospielen anzufangen.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
sehr schönes Cover, fast ein bisschen zu verspielt-romantisch.
… fürs Hirn: die altbekannte Frage, was man tun würde, sollte man im Lotto gewinnen.
… fürs Herz: überraschend viel Schmerz.
… fürs Gedächtnis: eins meiner Lieblingszitate: „Die Männer wissen, welche Katastrophen bestimmte Worte im Herzen der Mädchen auslösen; und wir armseligen Idiotinnen sind hingerissen und gehen in die Falle, begeistert, weil uns endlich ein Mann eine gestellt hat.“

Gut und sättigend: 3 Sterne

Moehringer„Man ist nur lebendig, im wahrsten Sinne des Wortes, wenn man verliebt ist. Deshalb wirken fast alle wie tot“
„In seiner Glanzzeit war Sutton das Gesicht des amerikanischen Verbrechens, einer von wenigen, die den Sprung vom Staatsfeind zum Volkshelden schafften.“ Und dies ist seine Geschichte. Die Geschichte von Willie, dem Sohn irischer Einwanderer, einem Mick, den die älteren Brüder bei jeder Gelegenheit verprügeln und der in seinen Jugendjahren dem Hungertod stets näher ist als dem Reichtum, den er später erbeutet. 1919 lernt er Bess kennen, und diese Begegnung verändert alles: „Du musst nur auf dein Leben zurückblicken und nachsehen, ob es einen Augenblick gibt, an dem alles anders wurde.“ Die Liebe und die prekäre Wirtschaftslage machen aus dem unschuldigen Willie einen Dieb. Gefrustet und verzweifelt darüber, dass sie keine Arbeit finden, werden Willie und seine Freunde Eddie und Happy zu Verbrechern. Sie stellen sich nicht klug an, und so beginnt Willies Karriere als Gefängnisinsasse. Ebenso erfolgreich ist er allerdings beim Ausbrechen, und während die Wirtschaft von einer Krise zur nächsten taumelt, wird aus dem kleinen Willie ein umjubelter und gejagter Bankräuber. Sein Mythos ist immer noch lebendig, als er nach seiner letzten Gefängnisstrafe als alter Mann freikommt – und mit einem Reporter sowie einem Fotografen durch ganz New York fährt zu den Stationen seines bewegten Lebens.

Knapp am Herz vorbei ist der neue Roman des New Yorker Autors J. R. Moehringer, der mit Tender Bar auf sich aufmerksam machte. Er nahm die wahre Geschichte des Bankräubers Willie Sutton als Vorlage für diesen facettenreichen und abenteuerlichen Roman. Alle Figuren – den hübschen Happy, den frustrierten Eddie, die kühle Bess, den Safeknacker Doc, die vielen Verräter – hat es wirklich gegeben, genauso wie den Reporter und den Fotografen, die laut J. R. Moehringer einen leider nur oberflächlichen Artikel zuwege gebracht haben. Wenig Aufschluss geben auch die zwei von Willie Sutton verfassten Autobiografien, da sie sich widersprechen. Der Weg für J. R. Moehringer, anhand der belegten Tatsachen eine wilde, herzergreifende, lebendige Geschichte zu stricken, war somit frei.

„Die Entfremdung von Mutter und Vater, der Missbrauch durch die Geschwister, die harte Arbeit in den frühen Jahren, dein Leben, das von einer Reihe der schlimmsten wirtschaftlichen Erschütterungen in der Geschichte begleitet war – das alles hat ein ungewöhnlich gefährliches und starkes Hexenbräu geschaffen.“ Inhaltlich packt Willies Geschichte mich nach einer Weile sehr, und er schleift mich quer durch New York, atemlos hetzen wir von einem Raubzug zum nächsten, wir lassen uns Anzüge schneidern und genießen das Leben in den kurzen Intervallen, in denen es möglich ist. Wir sitzen in Isolationshaft, schwimmen in Scheiße und lesen jedes Buch, das uns in die Finger kommt. Und immer, immer vermissen wir Bess, die ich allerdings im Verdacht habe, dass es ihr nicht so geht. Das einzige Manko des Buchs liegt in meinen Augen darin, dass J. R. Moehringers Sprache mir für die rasante Geschichte zu stumpf und flach ist. Die klischeehaften Ausdrücke aus dem Gaunerjargon, durchsetzt mit Umgangssprachlichkeiten, passen zum Thema, lassen mich aber mehr als einmal mit den Augen rollen. „Dann bist du im Arsch, Kleiner“, ist so ein Beispiel dafür, dass das Netz, das der Autor nach mir auswirft, viel zu grobmaschig ist. Ich vermisse Poesie und Melodie, fühle mich immer wieder aus der Geschichte gedrängt – vor allem durch die stupiden Aussagen von Knipser und Schreiber, die beide durch die Abwesenheit von Intelligenz glänzen. Schade ist zudem, dass J. R. Moehringer einiges, das interessant gewesen wäre – wie Suttons Ehe und sein Kind – unter den Tisch hat fallen lassen.

Dennoch ist Knapp am Herz vorbei ein liebenswertes, lesenswertes Buch über einen Helden, der für viele Menschen all das verkörperte, was sie sich wünschten: Verwegenheit, Mut, Reichtum, Respektlosigkeit vor dem Gesetz. Willie Sutton hat einen hohen Preis für seine Beutezüge bezahlt: seine Freiheit. Der einzige Vorteil der Gefängnisaufenthalte war, dass sie ihm Gelegenheit zum Lesen gaben, und hier treffen wir uns wieder, hier sind wir uns einig: „Es ist nie Zeitverschwendung. Jedes Buch ist besser als kein Buch. Langsam und sicher führt dich eines zum nächsten, und irgendwann bist du bei den besten. Ein Buch ist die einzige wirkliche Flucht aus dieser gefallenen Welt.“

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
von der Gestaltung her gefällt mir das Cover, die Auswahl des Fotos erschließt sich mir nicht.
… fürs Hirn: Wirtschaftskrise, Weltkrieg, New York in den 1930er- und 1940er-Jahren, Verrat, Betrug, Diebstahl, Gefängnis – dieses Buch vereint all das zu einer atemberaubenden, spannenden Story.
… fürs Herz: nun ja, die unerfüllte Liebe zur schwer greifbaren Bess natürlich.
… fürs Gedächtnis: mein Lieblingszitat: „Ein Safe ist wie eine Frau. Sie sagt dir, wie du sie öffnen kannst, du musst nur gut zuhören.“

Knapp am Herz vorbei von J. R. Moehringer ist erschienen im S. Fischer Verlag (ISBN 978-3-10-049603-4, 448 Seiten, 19,99 Euro).

Für Gourmets: 5 Sterne

Diffenbaugh„The language of flowers is nonnegotiable“
„It means there’s only one definition, one meaning, for every flower“ – und Victoria kennt sie alle. Die 18-Jährige lebt nach einer Kindheit und Jugend, in der sie von einer Pflegefamilie zur nächsten geschubst und schließlich im Heim untergebracht wurde, obdachlos in einem Park. Dort pflanzt sie einen kleinen Garten, denn Blumen sind das Einzige, was sie liebt, Blumen sind ihr Weg, sich auszudrücken: „I had been loyal to nothing except the language of flowers.“ Die viktorianische Sprache der Blumen – honeysuckle for devotion, azaleas for passion, lavender for mistrust – hat ihr Elizabeth beigebracht, jene Frau, die Victorias Mutter hätte werden können, hätte Victoria damals vor vielen Jahren in ihrer kindlichen Verzweiflung nicht eine Katastrophe ausgelöst, unter der sie heute noch leidet. Es ist ihr größtes Glück, dass sie einen kleinen Aushilfsjob in einem Blumenladen ergattert, wo Renata Victorias Talent erkennt. Auf dem Blumenmarkt lernt sie Grant kennen, einen geheimnisvollen Mann, der zu Victorias großer Überraschung in der Sprache der Blumen mit ihr kommuniziert. Und es stellt sich heraus, dass Grant mehr mit Victorias Vergangenheit zu tun hat, als ihr lieb ist …

Ich habe The language of flowers von Vanessa Diffenbaugh durch Zufall in einer kleinen Buchhandlung in einer dunklen Ecke voller Spinnweben entdeckt – und musste es aus lauter Mitleid retten. Weder vom Roman noch von der Autorin hatte ich je gehört – und umso verblüffter war ich, als ich das Buch öffnete und Vanessa Diffenbaugh mich sofort umgarnte. Mit dem betörenden Duft von Rosen. Mit einer einsamen, vom Leben getretenen jungen Frau, die sich mit scheuem Blick in mein Herz geschlichen hat. Und mit einer spannenden, berührenden Geschichte voll mysteriöser Geheimnisse. Ich liebe an einem Buch das Besondere, ich will Informationen bekommen, die mir neu sind, ich will mit Seemannsgarn umwickelt, mit dem roten Faden gefesselt und mit einer präzisen, melodischen Sprache verführt werden. All dies tut Vanessa Diffenbaugh mir an, und ihre Sprache der Blumen, die uralte viktorianische Bedeutung einer jeden Pflanze, fasziniert mich völlig. Auf kluge Weise verwebt sie diese längst vergessene Art der Kommunikation mit den Geschehnissen in ihrem Buch, und wir sie Victoria die Möglichkeit gibt, durch Blumen zu sprechen, weil ein Leben ohne Liebe und Fürsorge sie verstummen hat lassen, ist ergreifend und schön.

Gegen Ende hin entgleitet der Autorin die Geschichte ab und zu ein wenig, sodass sie immer wieder in den Kitschtopf taucht. Aber das finde ich nicht weiter schlimm, im Gegenteil, ich hoffe so sehr auf ein Stückchen Glück für Victoria, dass ich alles andere gar nicht ertragen könnte. Auf dem Weg zu diesem Stückchen Glück muss Victoria so einiges durchmachen, was ich nicht erwartet hätte, und es ist natürlich ebenso klischeehaft wie logisch, dass sie jede helfende Hand, die ihr geboten wird, beißt. Es kostet die Menschen in ihrem Umfeld viel Kraft, zu Victoria durchzudringen, und ihr verlangt es noch mehr ab, dies zuzulassen. Sagen kann sie das nicht. Außer mit Blumen. The language of flowers ist ein Buch mit Herzblut, eine Hommage an die Schönheit der Blumen und an die Liebe.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
das Cover ist okay, es hat mich zumindest dazu bewogen, das Buch mitzunehmen.
… fürs Hirn: die typische Geschichte eines Heimkinds mit vielen originellen Facetten.
… fürs Herz: sehr berührend ist, dass Victoria in einem winzigen Kämmerchen lebt, in das nicht einmal ein Bett passt und das trotzdem ein Zuhause für sie ist.
… fürs Gedächtnis: das interessante Wissen um die verloren gegangene viktorianische Sprache der Blumen. Wie aufregend muss es gewesen sein, Botschaften zu verschicken, ohne ein Wort zu sagen …

The language of flowers von Vanessa Diffenbaugh ist auf Deutsch unter dem Titel Die verborgene Sprache der Blumen erschienen.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

ReichlinDer Kampf ums Überleben in den Bergen Afghanistans
„Seit vielen Jahren gehörte zu Martens‘ Leben die Vorstellung, einer Frau zu begegnen, mit der alles wie von selbst geschah.“ Deshalb lässt sich der alternde Auslandsjournalist, der keine Aufträge mehr, dafür aber einen Bauchansatz hat, völlig um den Finger wickeln von der jungen Miriam, die er auf dem Amt kennenlernt. Sie lädt ihn ein und erzählt ihm die Geschichte einer Bacha Posh, eines als Junge verkleideten Mädchens in Afghanistan, das sich den Taliban angeschlossen hat und bereit ist, sich für 10.000 Dollar interviewen zu lassen. Nur zu gern lässt Martens sich von Miriam überreden, nach Afghanistan zu fliegen, er bekommt das Geld von einer Zeitung, er hinterfragt wenig, er ist ausgehungert nach einem Abenteuer. Seine Tochter ist längst erwachsen und ihm entglitten, seine Frau hat er wegen seiner vielen Abwesenheiten verloren, seine Freundin ist ihm gleichgültig. In Afghanistan angekommen, entlarvt Martens rasch eine nach der anderen von Miriams Lügen. Sie, deren Vater aus diesem Land stammt, war nie zuvor hier, und hat, obwohl sie sich als Fotografin ausgegeben hat, nicht einmal eine Kamera dabei. Martens ist allerdings nicht aufgebracht oder beunruhigt, sondern neugierig auf das, was ihn erwartet – selbst wenn sein Leben in Gefahr sein sollte. Und das ist es sehr bald tatsächlich …

Mit Das Leuchten in der Ferne hat der deutsche Autor Linus Reichlin einen spannenden und facettenreichen Abenteuerroman geschrieben, der in der gefährlichen Kulisse von Afghanistans Bergen spielt, die von Talibanbanden beherrscht werden. Sein Held Moritz Martens, einst als Reporter in aller Welt unterwegs, steht auf dem Abstellgleis, hat kein Geld und langweilt sich, er giert nach dem verrückten Wagnis, das sich ihm mit Miriam bietet. Die Gefahr lässt nicht lange auf sich warten, und Martens stürzt sich Kopf voran hinein. Er kennt sich aus mit den Begebenheiten des fremden Landes, und Miriam spricht die Sprache, sodass das Duo sehr wohl an sein Ziel kommt – wo Martens jedoch nicht das erwartet, womit er gerechnet hat. Irgendwann unterwegs oder gleich zu Beginn hat er sich freilich in Miriam verliebt, und das macht die Sache nicht unbedingt einfacher, sondern lässt ihn größere Opfer bringen als unter anderen Umständen.

Martens‘ Unerschütterlichkeit ist mir zeitweise fast schon unheimlich, und ich bin erleichtert, als sie dank vieler Strapazen endlich bröckelt. Ich wandere mit ihm durch die karge Bergwelt Afghanistans, trinke süßen Tee und leide Hunger, muss wie er bei der Steinigung einer Frau zusehen, die Luft ist anders hier, die Menschen sind es, ihre Mentalität und Kultur. Er weiß, was die Taliban wollen, ich nicht, und so warte ich gespannt auf die Aufklärung, die Lösung, das Aufatmen. Linus Reichlin hält mich mit dieser atmosphärisch dichten Erzählung genauso gefangen wie seinen Protagonisten, der zusehends an Fett und Zuversicht verliert. Für Martens wie für mich lohnt sich diese Reise, denn beide erleben wir das Abenteuer, das wir uns erhofft haben. Ich verschlinge das Buch wie er seine heiß ersehnten Mahlzeiten. Dieser Roman ist gut durchdacht, ebenso gut recherchiert und vor allem auch gut geschrieben. Definitiv ein Lesehighlight!

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein passendes, aber eher eintöniges Cover.
… fürs Hirn: eine spannende Geschichte voll Unterhaltungswert mit hochaktuellem politischem Hintergrund.
… fürs Herz: eine Liebesgeschichte darf in einem guten Abenteuerroman natürlich nicht fehlen.
… fürs Gedächtnis: das Wissen, dass es richtig scheiße ist, als Frau in Afghanistan zu leben.

Das Leuchten in der Ferne von Linus Reichlin ist erschienen im Galiani Verlag (ISBN 978-3-86971-053-2, 320 Seiten, 19,99 Euro).

Für Gourmets: 5 Sterne

Lamrabet12 berührende Geschichten über die Unterschiede der Kulturen
„Aber ich war schwach, und ich hatte das Pech, in einer Gesellschaft zu leben, in der man die Schwachen aufs Abstellgleis schob, sie mundtot machte, damit andere für sie sprechen mussten, die ihnen ihre Gesinnung, ihr Verständnis darüber, was gut oder schlecht war, aufzwängten und es verteidigten, ohne richtig zuzuhören, worum es eigentlich ging.“ Melek Ozgül weiß, wovon sie spricht, sie kämpft vor Gericht um ihren kleinen Sohn Furkan, der ihr weggenommen wurde und nach christlichem Glauben getauft werden soll. Calixe hat ebenfalls einen Sohn, aber keinen Vater dafür, und da er wegen seiner dunklen Hautfarbe von manchen Tagesmüttern abgelehnt wird, muss sie ihn in dem Altersheim, in dem sie arbeitet, bei einem der Senioren verstecken. Rachid dagegen hat Probleme, überhaupt Arbeit zu finden, obwohl er fließend Niederländisch spricht. Aber dass er aus Algerien stammt, macht ihn in den Augen der potenziellen Arbeitgeber zum Terroristen. Um einen Job zu ergattern, lügt er und bringt sich dadurch in eine schwierige Lage: „Manchmal frage ich mich, an welcher Stelle die Wahrheit und mein Leben beschlossen haben, verschiedene Wege einzuschlagen.“ Amal Hayati ist ehrlich, als sie sich um einen Ausbildungsplatz bewirbt, bekommt ihn aber wegen ihres Kopftuchs trotzdem nicht. Auch die anderen Protagonisten dieser Geschichten haben es nicht so einfach, wie sie es sich wünschen würden …

Rachida Lamrabet wurde in Marokko geboren und lebt in Belgien. Sie arbeitet als Juristin im Zentrum für Chancengleichheit und Bekämpfung von Rassismus und so gehen die 12 Geschichten in ihrem Buch Über die Liebe und den Hass vermutlich auf ihre persönlichen Erfahrungen zurück. Menschen unterschiedlichster Herkunft – aus Afghanistan, der Türkei oder Afrika – suchen darin nach einem guten Leben, nach einer fairen Chance, Akzeptanz und ein bisschen Glück. Manchmal finden sie es, meistens bleibt es ihnen verwehrt. Rachida Lamrabet hat einen stechend scharfen Blick für die Umstände, mit denen diese Menschen umgehen lernen müssen, sie zeigt Szenen von Unverständnis, Ausgrenzung und Rassismus, aber auch von Annäherung und gutem Willen – etwa wenn eine niederländische Frau ein Kopftuch aufsetzt, um zu spüren, wie sie dann behandelt wird. Die 12 Geschichten sind klug, pointiert, ab und zu witzig und an anderen Stellen zutiefst traurig. Nie habe ich das Gefühl, dass die Autorin mich belehren oder verurteilen will, was ich bei Büchern mit diesem Hintergrund als wichtig empfinde, sie bietet mir vielmehr einen eindrucksvollen Blick in die Welt jener, die mitten unter uns und doch im Verborgenen leben. Ein Buch, das ganz sanft und schlau für mehr Toleranz wirbt und den Mix der Kulturen als schwierig, aber interessant zeigt. Sehr gut!

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein ästhetisch schönes Cover, das mich aber nicht aufmerksam auf das Buch gemacht hätte.
… fürs Hirn: Toleranz, Integration, Rassismus.
… fürs Herz: die unfassbar traurige Geschichte des Marokkaners, der vom Bruder seiner Verlobten attackiert wird.
… fürs Gedächtnis: manch amüsanter Satz, wie etwa: „An dem Tag, als Hannelore Vederlicht beschlossen hatte, sich nicht mehr weiter um die himmelschreiende Sinnlosigkeit ihres Daseins zu kümmern, wurde sie von außerirdischen Wesen entführt.“

Für Gourmets: 5 Sterne

DuBois„Wir alle sind sterblich, ja, aber vielleicht sind einige von uns sterblicher als andere“
Irina Ellison ist Anfang 30, und das bedeutet, dass sie nicht mehr lang normal leben kann: Sie leidet an Chorea Huntington. 20 Jahre lang hat sie ihrem Vater dabei zugesehen, wie er würdelos an dieser Krankheit starb, und seit sie aufgrund eines Gentests weiß, dass sie mit etwa 32 Jahren die ersten Symptome zeigen wird, lebt sie ihr Leben so, dass es am wenigsten wehtut: Sie lebt es gar nicht. Irina verhält sich still, vermeidet enge Bindungen und hüllt sich in eine abweisende Eisschicht. Als sie Jonathan kennenlernt, spürt sie gleich, dass sie der Liebe dieses Mal nicht ausweichen kann: „Irgendwie, merkte ich, würde sich zwischen diesem Mann und mir nie eine akzeptable Distanz finden lassen; jeder Grad der Nähe und Entfernung würde gleichermaßen unerträglich sein.“ Deshalb muss Irina fort, muss einen Ort finden, an dem niemand sie liebt und mit ihr leidet. Sie findet einen Brief ihres Vaters an das russische Schachgenie Alexander Besetow, Weltmeister in den frühen 1980er-Jahren, und hat nun ein Ziel: Russland. Aus dem hageren, hungernden Schachspieler von einst ist inzwischen ein politisch engagierter Präsidentschaftskandidat geworden, der nicht den Hauch einer Chance hat, gegen Putin zu gewinnen, der aber dennoch antritt, um aufmerksam zu machen auf die Missstände in Russland. Es gelingt Irina, in Kontakt zu treten mit diesem Mann, der in ständiger Gefahr schwebt, und der vielleicht als Einziger die Traurigkeit der jungen Frau verstehen kann, die auf das erste verräterische Zucken ihres Körpers wartet, das ihr zeigen wird, dass es Zeit ist, ihr Leben zu beenden.

Die 30-jährige amerikanische Autorin Jennifer DuBois erzählt in ihrem Debüt die Geschichte zweier Leben, die nicht das Geringste miteinander zu tun haben, sich aber dennoch an einem weit entfernten Ort kreuzen, in einem Moment, in dem genau das nötig ist. Mit ungemeiner sprachlicher Brillanz und technischer Raffinesse porträtiert sie einen Mann und eine Frau, die nichts gemeinsam haben außer der Tatsache, dass sie ihr Leben nicht so führen möchten, wie sie es tun, und zeitgleich nicht wollen, dass es endet. Schon nach den ersten Seiten lasse ich mich in diesem Buch nieder wie auf einem gemütlichen Sofa mit dem angenehmen Gefühl, dass es mir an nichts fehlen wird, und ich genieße es, hineingezogen zu werden in diese geschickt angelegte Geschichte, in diesen echten Schmöker, der so sanft ist und klug. Abwechselnd lässt Jennifer DuBois Ich-Erzählerin Irina aus der Gegenwart und Alexander aus der Vergangenheit berichten, bis beide Erzählstränge im Jahr 2006 aufeinandertreffen und nur die beiden Perspektiven bleiben. Es ist ihr meisterhaft gelungen, sich einzufühlen in diese zwei unterschiedlichen Charaktere, die Feinheiten der Figuren auszuarbeiten und ihnen Leben einzuhauchen.

Ich lasse mich von Alexander in die Schachwelt mitnehmen, zu einem Spiel, das mir fremd ist, ich streife mit Irina durch das bitterkalte Moskau auf der Suche nach einer Möglichkeit, dem Tod zu entkommen, und ich fiebere mit den beiden in ihrem völlig aussichtslosen Wahlkampf. Irina ist wie gelähmt, und es fällt mir schwer, ihr dabei zuzusehen, wie sie die ihr verbleibende Zeit ungenutzt verstreichen lässt; Alexander dagegen hat gut gelebt und am Ende erkannt, dass er nichts erreicht hat, gar nichts. Das Leben ist groß ist ein Roman über Angst und Verlust, über Macht und Politik, über Schach, Freundschaft und den Schmerz derer, die lieben. Er überzeugt mich mit pointierten Formulierungen, scharfen Beobachtungen, detaillierter Recherchearbeit und – trotz einiger Längen – einer fesselnden Handlung. Dieses Buch ist wie ein Spaziergang im Regen, wie ein Innehalten auf einer Brücke, wo man dem braunen Wasser beim Davonfließen zusieht und spürt, wie einem die Zeit zwischen den Fingern zerrinnt, während der Regen einem ins Gesicht tropft, weil man natürlich keinen Schirm dabeihat, so ein Moment, in dem man erkennt, wie beängstigend, unbeeinflussbar und kurz es wirklich ist, das Leben. Großartig!

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
schön, passend, ruhig.
… fürs Hirn: Schachspiel und Politik.
… fürs Herz: „Er konnte mich nicht aufhalten, so wie letztlich überhaupt niemand irgendwen vom Verlassen abhalten kann.“
… fürs Gedächtnis: „Es hat etwas Intimes, sich Lügengeschichten anzuhören, finde ich – was jemand für wahr halten möchte, sagt mehr über ihn aus als alles, was wirklich geschieht.“

Das Leben ist groß von Jennifer DuBois ist erschienen im Aufbau Verlag (ISBN 978-3-351-03519-8, 448 Seiten, 22,99 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

LevineEine verbotene Freundschaft in Zeiten der Rassentrennung
Die 12-jährige Marlee ist nicht stumm, redet aber so gut wie nichts: In der Schule schweigt sie, gibt keine Antworten, auch wenn sie alles weiß, und sogar ihrer Familie gegenüber äußert sie sich einsilbig. Das ändert sich langsam, als ein neues Mädchen an die Schule kommt und Marlee aus der Reserve lockt: Liz wird ihre erste richtige Freundin. Dass der Unterricht überhaupt stattfindet, ist ein kleines Wunder, denn in diesem Herbst 1958 kämpfen in Little Rock, Arkansas, zwei Parteien gegeneinander: die „segregationists“, die für die Rassentrennung sind, und die „integrationists“, die den Schwarzen mehr Rechte einräumen würden. Die „black people“ dürfen immerhin schon im selben Bus fahren wie die „white people“, doch als 1957 neun schwarze Jugendliche die Highschool besuchen wollten, gab es einen gewalttätigen Aufstand. Die Schule von Marlees Schwester Judy ist geschlossen, sie wird zur Großmutter geschickt, und Marlee verliert ihre Verbündete. Umso mehr klammert sie sich an Liz – die jedoch plötzlich aus der Schule verschwindet. Ein überraschendes Geheimnis wird gelüftet: Liz ist eine sehr hellhäutige Schwarze, die durch ihren Schwindel nicht nur ihren Platz an der Schule verliert, sondern in Lebensgefahr gerät. Auch Marlees Familie wird von hasserfüllten Weißen bedroht. Und während sich die Gemüter immer weiter erhitzen, weigern zwei kleine Mädchen sich, die Rassengesetze hinzunehmen. Marlee ist zwar schüchtern – aber sehr mutig.

Kristin Levine, deren Familie aus der Nähe von Little Rock stammt, hat ein historisches Ereignis – die Geschichte der „Little Rock Nine“ – zum Hintergrund ihres fiktionalen Romans gemacht. Ein Buch mit einem kindlich-jugendlichen Protagonisten zu lesen, ist für mich jedes Mal ein Wagnis, zu oft empfinde ich die Charaktere als altklug und künstlich auf erwachsen getrimmt. Im vorliegenden Fall hat die Autorin einen passenden jungen Erzählton gewählt, der The lions of Little Rock einen Jugendbuch-Touch verleiht. Die Probleme, mit denen der Roman sich befasst, sind aber alles andere als kindisch: Wir schreiben das Jahr 1958, schwarze Mitmenschen gelten immer noch als Menschen zweiter Klasse, die Hausangestellte von Marlees Eltern darf bei der Arbeit nicht einmal ein Glas Wasser trinken. Wer schwarz ist oder sich mit Afroamerikanern öffentlich zeigt, wird angefeindet. Marlee sieht sich Hass und Gewalt gegenüber, aber sie ist nicht gewillt, ihre Freundschaft zu Liz aufzugeben. Zwar finde ich die Story an manchen Stellen ein wenig pathetisch, doch ich kann mir durchaus vorstellen, dass es vielleicht genau so war – dass vereinzelt Menschen und Familien Widerstand leisteten, dass sie sich verbündeten, aus persönlichen Gründen heraus, um für Gerechtigkeit einzustehen. Dafür ist The lions of Little Rock ein wunderbares, liebevoll erzähltes Beispiel.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
das Cover ist schrecklich, es lässt das Buch wie eine Schmonzette wirken, die es nicht ist.
… fürs Hirn: das Wissen, dass all dies genau so geschehen ist, dass viele Menschen gestorben sind im Kampf um die Gleichberechtigung zwischen Schwarz und Weiß. Die Wikipedia-Darstellung der Geschichte der “Little Rock Nine” könnt ihr hier nachlesen.
… fürs Herz: natürlich Marlee und Liz.
… fürs Gedächtnis: dieser Teil der amerikanischen Geschichte.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Egan„Women are crazy. You should spend a goddam lifetime trying to figure out why“
Sasha ist die Assistentin von Musikproduzent Bennie und Kleptomanin. Bennie, der versucht, seine Potenz mittels Goldblättchen im Kaffee zu steigern, hat seit den 1980ern engen Kontakt mit Musik, als sich alles in seinem Leben um die Band The Flaming Dildos drehte, mittlerweile ist er desillusioniert vom Business. Aus seiner Zeit in der Bandszene von New York kennt er Alice, Scotty und Lou, der später viele Exfrauen und diverse Kinder hat, von denen eines Selbstmord begeht. PR-Ass Dolly muss nach einem folgenschweren Fehler, für den sie im Gefängnis saß, für einen Diktator arbeiten – und gerät dabei in Gefahr. Sashas Freund aus Jugendzeiten ist ertrunken, ihren damaligen Freund trifft sie zu einem späteren und viel besseren Zeitpunkt wieder.

Über eine Zeitspanne von 40 Jahren erzählt das Leben für Sasha und Bennie und vielen Figuren, die für sie von Bedeutung sind, massenweise Geschichten. Manche davon – über Anfangszeiten, Karrieren, Familien – gibt Jennifer Egan in A visit from the goon squad wieder. Dieser Roman, für den sie unter anderem den Pulitzerpreis gewonnen hat, ist voller sogenannter Interlinking Short Stories, die für sich selbst stehen, aber dennoch zusammenhängen. Ich finde es einerseits mühsam, so viele Leute kennenzulernen und anfangs nie zu wissen, in welcher Zeit ich mich befinde, freue mich aber andererseits, die bekannten Gesichter immer mal wiederzusehen. Besonders grandios und originell sind die Stilvarianten: Die virtuose Autorin wechselt zwischen erster, zweiter und dritter Person, schreibt einen Zeitungsartikel und eine Power-Point-Präsentation eines Teenagers, in der es eigentlich nur um die Stille geht, die in Form von Pausen in Liedern auftritt, und die sicher zu den besten „Geschichten“ im Buch gehört. Jennifer Egan kann schreiben, hat all das Lob, das sie einheimst, auf jeden Fall verdient, und es ist eine Freude, ihre Fantasie zu bewundern, mit der sie sich diesen Reigen an verschiedenen Charakteren erdacht hat. Dieses Buch ist ein buntes Kaleidoskop, dessen Fokus auf das Musikbusiness gerichtet ist und das immer wieder eine andere Figur beleuchtet, zurückkippt und jemand Bekanntes in einem anderen Licht erscheinen lässt. Sehr lesenswert!

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
das Cover begeistert mich nicht.
… fürs Hirn: keine große Herausforderung, aber niveauvolle Unterhaltung.
… fürs Herz: das Wissen, dass uns die Zeit unseres Lebens zwischen den Fingern zerrinnt.
… fürs Gedächtnis: die stilistische Originalität.

A visit from the goon squad ist auf Deutsch unter dem Titel Der größere Teil der Welt erschienen.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Thome„Aber alles passiert, wenn es passiert, zum ersten Mal“
Alle sieben Jahre flippen die Bewohner von Bergenstadt ein bisschen aus: Drei Tage lang wird beim Grenzgang gewandert, gelacht und gesoffen. Es ist ganz Bergenstadt ernst mit dieser alten Tradition, die immer gleich abgehalten wird, es gibt Vereine, Fahnen, Abzeichen, Rituale. Sieben Jahre lang freuen sich alle auf dieses Wahnsinnsfest, das den Ort für kurze Zeit aus seiner Belanglosigkeit reißt. Ehen entstehen und zerbrechen beim Grenzgang – wie jene von Kerstin, die ihren Mann Jürgen einst bei diesem kollektiven Besäufnis kennengelernt hat und seinetwegen ihre Karrierepläne aufgab, um in dem hessischen Kaff zu bleiben. Mittlerweile ist Jürgen der Mann einer anderen, der gemeinsame Sohn pubertiert, und Kerstins Mutter wird zum Pflegefall. Aus ihrem Selbstmitleid gerissen wird Kerstin von Thomas, einst Uni-Professor und mittlerweile Lehrer ihres Sohnes, mit dem sie eine Erinnerung an den letzten Grenzgang teilt, der beide mit gemischten Gefühlen gegenüberstehen. Und bald beginnt das verrückte Fest erneut …

In seinem Debütroman Grenzgang, der 2009 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand, macht Stephan Thome einen kleinen Ort in Hessen zum Schauplatz, der in seiner Beschaulichkeit und Beliebigkeit für jede deutsche Kleinstadt stehen mag, in der wie überall geliebt und betrogen, nach dem Glück gesucht und viel geweint wird. Alle sieben Jahre findet der Grenzgang statt, und alle sieben Jahre setzt Stephan Thomes Erzählung ein. Alle wichtigen Ereignisse im Leben von Protagonistin Kerstin hängen direkt oder indirekt mit dem Grenzgang zusammen, sie treten im Roman jedoch nicht in chronologischer Reihenfolge auf. Der Autor konzentriert sich hauptsächlich auf 1999 und 2006, reist aber auch in die Vergangenheit und gibt einen Ausblick in die Zukunft.

Kerstin ist in jeder Hinsicht das Abziehbild einer deutschen alleinerziehenden Mutter Mitte vierzig: Sie hadert mit dem Alter und dem Wissen, gegen eine Jüngere ausgetauscht worden zu sein, findet keinen Zugang zu ihrem Teenager-Sohn und hat nur oberflächliche Freundschaften. Der Hausfrauenfrust macht ihr ebenso zu schaffen wie die zunehmende Pflegebedürftigkeit ihrer Mutter. Alle jugendliche Leichtigkeit und Unbeschwertheit sind verschwunden, und der Swingerclub, in dem Kerstin letztlich mit ihrer Nachbarin landet, hat den abgefuckten Charme eines Orts, der von Verzweiflung durchdrungen ist. Ich habe tiefes Mitgefühl für Kerstin, und zugleich geht sie mir furchtbar auf die Nerven. Stephan Thome erzählt in diesem Provinzroman von dem Leben einer Frau und dem Leben eines Mannes, das so ist, wie eben alle unsere Leben: absolut belanglos. „Zeit totzuschlagen ist so ein Ausdruck, den sie nie recht verstanden hat – eher ist es doch ein langsames Strangulieren, und die eigentliche Henkerskunst besteht auch nicht darin, Minuten oder Stunden rumzubringen, sondern Jahre.“ Tiefe Resignation durchzieht dieses Buch, der Erzählton ist recht sachlich und nüchtern. Die Idee mit den Sieben-Jahres-Zeitsprüngen gefällt mir gut, und es ist dem Autor exzellent gelungen, die Klischees und Schemata einzufangen, um die sich das Leben in deutschen Kleinstädten wickelt: verliebte Blicke und Versprechungen, auf die das Zerbrechen von Beziehungen am langweiligen Alltag folgt, danach Einsamkeit und die Suche nach einem, der sich nebenbei auf die Couch setzt. Damit all das halbwegs erträglich wird, dürfen die Bürger im geregelten Rahmen alle sieben Jahre durchdrehen – weil ja sonst nichts passiert. Und ein bisschen wünschte ich mir schon, es wäre in diesem Buch mehr passiert.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
gut gemacht!
… fürs Hirn: wie spießig wir doch alle sind …
… fürs Herz: … und wie austauschbar.
… fürs Gedächtnis: ein Zitat, das die Resignation elegant auf den Punkt bringt: „Wir sind erwachsen, wir haben zu viele Rechnungen gesehen, um an Gratisangebote zu glauben.“

Eine grandiose Rezension findet ihr auf den Schönen Seiten von Caterina, die sogar beim echten Grenzgang in Biedenkopf mitgewandert ist.