Gut und sättigend: 3 Sterne

Nawrat„Die Liebe ist eine gute Institution. Sie wird nie aus der Mode kommen“
Eigentlich hat er ja angefangen zu studieren. Aber dann hat er ein bisschen den Antrieb verloren, und jetzt liefert er einfach mal Gemüse aus. Der 30-jährige Ich-Erzähler findet es ganz angenehm, auf einsamen Wegen durch den Schwarzwald zu fahren. Dass es aber auch schön sein könnte, sein Leben mit jemandem zu teilen, merkt er, als er in der Kneipe die Künstlerin Theres kennenlernt: „Theres mit ihrem Lachen, das hüpft wie eine Bachstelze über Steine.“ Zuerst sieht es so aus, als würde er nicht an sie herankommen, doch dann entspinnt sich eine zarte Liebesgeschichte, die nicht den üblichen Regeln folgt. Denn Theres ist anders, sehr sprunghaft, unberechenbar und launisch. Alles, was den Ich-Erzähler anfangs fasziniert hat, wird zur Belastung für ihn, denn er kann keine Zukunft mit Theres planen, sie nimmt es mit der Treue nicht so genau, und ihre Stimmungsschwankungen untergraben das Fundament ihrer Beziehung. Lange versteht er nicht, was mit Theres los ist und dass ihre unkontrollierbaren Launen einer Krankheit entspringen.

Wir zwei allein von Matthias Nawrat ist eine ungewöhnliche Liebesgeschichte. Und ich mag ungewöhnliche Liebesgeschichten. Unperfekt müssen sie sein und ein bisschen schief, leicht angeschlagen und irgendwie schrullig. Natürlich ist das Normale viel zu normal, um einen Roman darüber zu schreiben, vor allem, wenn es um die Liebe geht. Also entwirft der in Polen geborene Autor zwei Figuren, die ein wenig angeknackst daherkommen: einen Mann, dessen erster Lebensentwurf gescheitert ist, und eine Frau, die gar keinen hat. Ein Gemüsefahrer und eine Künstlerin, zwei einsame Seelen, zwei Körper, die Wärme brauchen: „Hast du schon einmal versucht, Wolle zu essen, sagt sie, und das letzte Stück in der Hand zu behalten, so dass du nach dem Klo wie eine Perle aufgefädelt bist, bereit, jemandem um den Hals gehängt zu werden? Nein, sage ich. Ich auch nicht, sagt sie.“ Die Liebe der beiden ist wie ein scheuer Vogel, sie zeigt sich, hüpft und tiriliert, lässt sich aber nicht greifen. Und da dem Ich-Erzähler das eigentliche Problem so lange nicht klar ist, tappe auch ich im Dunkeln und werde immer verwirrter. Zwar folge ich dieser komplizierten Liebelei durchaus gern, aber die gewünschte Sogwirkung übt der Roman nicht auf mich aus. Ich verirre mich zwischen all den Fäden, in die die zwei Protagonisten sich verwickeln, und von beiden kann ich verschiedene Handlungsweisen weder nachvollziehen noch verstehen. Was aber auch nicht weiter schlimm ist – schließlich wollte ich es ja so mit dem Ungewöhnlichen. Trotzdem bleibt bei mir das Gefühl, dass die Geschichte nicht gehalten hat, was sie mir am Anfang versprochen hat: viel Tiefgang und ein bisschen Leuchten. Doch letztlich breitet sich in dieser Liebesgeschichte wie in jeder anderen auch großes Schweigen aus.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
die Karotte ist unbezahlbar genial.
… fürs Hirn: dass alles, was einen anfangs fasziniert, irgendwann nervt.
… fürs Herz: nun ja, es ist eine Lovestory.
… fürs Gedächtnis: ein Lieblingszitat: „Sonntage sind in Wahrheit Gemälde aus der Romantik. Weil die Menschen nicht arbeiten, gibt es nur das Wetter, sonst passiert nichts.“

Bücherwurmloch

WichtigLebensliteratur
Letzte Woche bin ich 30 Jahre alt geworden. Was das mit Büchern zu tun hat? Auf den ersten Blick nichts. Und gleichzeitig alles. Weil das Lesen mein ganzes Leben prägt – und weil ein runder Geburtstag immer Anlass gibt für eine Art Zwischenbilanz. Was hab ich erreicht, gesehen, erlebt, welche Wünsche sind in Erfüllung gegangen, welche Wunden verheilt? Und: Welche Bücher haben mich verändert? Bücher haben mich zu dem gemacht, was ich bin – Lektorin und Texterin – , ich verbringe meine Freizeit mit Büchern, ich träume davon, sehne mich danach – sie sind mir wichtig. Also habe ich mich pünktlich zum Jubiläumsgeburtstag vor mein Regal gestellt, ich besitze ja nur eins, und habe die wenigen Buchrücken betrachtet, die mir wichtig genug sind, dass sie bei mir bleiben dürfen, und habe mich gefragt, welche davon die größte Wirkung auf mich gehabt haben. Die Auswahl ist mir überraschend leicht gefallen. Viele, viele, viele Bücher haben mich beeindruckt, berührt, meinen Horizont verändert. Diese hier gehören zu den wichtigsten meines Lebens:

Michael Ende: Die unendliche Geschichte
Es war sicher nicht das Buch, mit dem alles begann, weil ich schon davor gelesen habe. Aber es war das Buch, mit dem alles begann. Nie werde ich das Gefühl vergessen, als ich mit acht Jahren zum ersten Mal begriff, wie mächtig, wie unendlich die Fantasie ist. Michael Ende öffnete mir die Tür zu einem Reich, das ich niemals mehr verlassen wollte: zur Welt der Literatur. Dem Paradies, gewissermaßen.

Astrid Lindgren: Mio, mein Mio
Astrid Lindgren war genial und in meinen Augen die beste Kinderbuchautorin der Welt. Ich besitze fast nichts aus meiner Kindheit, aber Pippi und Ronja, die Brüder Löwenherz und Klingt meine Linde sind immer bei mir. Astrid Lindgrens unsterbliches Werk habe ich Zeile für Zeile verschlungen und geliebt. Mio, mein Mio ist ein unfassbar trauriges, stolzes, mutiges Buch, das mir für immer viel bedeuten wird.

Arundhati Roy: The God of small things
Arundhati Roy markiert einen Wendepunkt in meiner literarischen Persönlichkeitsfindung. Nach dem Hanni-und-Nanni-Genre, vielen Biografien, Hohlbein-Fantasy und zahlreichen Krimis habe ich mit 15 The God of small things gelesen. Und war elektrisiert. Zu Tränen gerührt. Fassungslos. Verstört. Und glücklich. Ich wusste plötzlich, dass ich die Entdeckungsreise ernsthaft angehen musste: Die “echte” Literatur wartete auf mich.

Javier Marias: Mein Herz so weiß
Den Beginn dieser Entdeckungsreise machte Javier Marias. Seine endlosen Sätze legten sich wie Schlingen um mich, und ich musste mir den Zugang zur Geschichte hart erkämpfen. Das hat sich gelohnt, und ich habe gemerkt, dass es nicht das Gefällige ist, das ich suche, sondern dass ich durchaus interessiert bin an der Herausforderung.

Peter Hoeg: Der Plan von der Abschaffung des Dunkels
“Ich glaube, es war Liebe. Ist man ihr einmal begegnet, dann will man nicht mehr sinken. Dann sehnt man sich für immer nach dem Licht und der Oberfläche.” Das ist mein Lieblingszitat aus diesem Buch. Die Geschichte ist tieftraurig und ging mir an die Substanz. Ich habe mich mehr denn je in Worte verliebt, in ihre Melodie, wenn sie klingen, in die Poesie, die sie bilden können.

José Saramago: Die Stadt der Blinden
Was für ein Kaliber! Dieses Buch hat mich niedergestreckt. Und mich wachgerüttelt. Es hat mir gezeigt, dass mit Worten alles, alles möglich ist, dass wir damit erschaffen können, was nicht existiert, und beschreiben können, was wir empfinden. José Saramago hat mich innerlich umgegraben, und das war gut so.

Yann Martel: Life of Pi
Es gab eine Zeit, da habe ich mich viel mit Religion beschäftigt – ich war sieben Jahre lang Ministrantin, ehe ich mit 18 aus der katholischen Kirche ausgetreten bin. Yann Martel hat einen sensiblen Punkt in mir berührt, indem er mit diesem Buch so wunderbar zeigt, dass alle Religionen Geschichten sind – weil Menschen Geschichten brauchen, weil Gott eine gute Geschichte ist. Das hat mir viel bedeutet und es hat dazu beigetragen, mich tolerant und offen zu machen, ich konnte all das Erlebte besser loslassen.

John Irving: A prayer for Owen Meany
Als ich 17 war, hatte ich meine erste ernste Beziehung mit einem Autor: John Irving. Es fing an mit A widow for one year, und als ich A prayer for Owen Meany in die Finger bekam, war es um mich geschehen. Ich wusste, dass Literatur für mich so sein musste wie dieses Buch: wild, verrückt, unfassbar klug, ergreifend, sinnvoll. Nach vielen Jahren und vielen Büchern haben wir uns, wie es oft der Fall ist in einer Liebesbeziehung, ein wenig aus den Augen verloren und im Guten getrennt. Aber John Irving gehört für mich persönlich nach wie vor zu den genialsten Autoren überhaupt, und alle anderen müssen sich mit ihm messen.

Per Petterson: Pferde stehlen
Mit diesem Buch war die Suche nach meinem literarischen Ich sozusagen abgeschlossen. Mit dieser Lektüre wurde mir klar, dass ich angekommen war – bei dem Stil, den ich liebe, und bei mir selbst. Ich will es melancholisch und ein bisschen schwierig, ich will es tiefgründig, klug und berührend. Ich will Bücher, die mich nicht in Ruhe lassen und die Gefühle in mir auslösen.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Schulz„Was ich selber denk und tu, trau ich jedem andern zu“
Markus Bäcker findet es 1976 am Rand von Ost-Berlin ziemlich scheiße. Es stinkt nach dem Chemiewerk, andauernd rattern Züge vorbei, die Mutter treibt sich bei den Afrikanern herum, und in der Schule kennt er niemanden. Dann begegnet er Nilowsky, dessen Vater die Kneipe in Pankow betreibt, dessen Vater säuft und den Sohn verprügelt. Nilowsky ist eigensinnig, ein paar Jahre älter, herausfordernd und entschlossen, eine Tages Carola zu heiraten. Markus ist hingerissen von dem rauen Typen, der unberechenbar ist und ihn ständig an die Grenzen bringt – genauso wie von Carola, die für immer dreizehn bleiben will, obwohl sie längst älter ist. Eine seltsame Dreiecksgeschichte entspinnt sich, die weder eine Liebesbeziehung noch eine richtige Freundschaft ist. Die Faszination, die Nilowsky auf Markus ausübt, ist auch Jahre später ungebrochen, als die Mauer fällt und die Jugendlichen erwachsen geworden sind – aber nicht glücklicher …

Torsten Schulz hat es mir mit seinem zweiten Roman Nilowsky nicht unbedingt leicht gemacht. Im ersten Drittel weckt er meine Neugier mit seiner Geschichte über einen Außenseiter, zu dem sich ein zweiter gesellt – mit einem dritten im Schlepptau. Ich finde das Setting interessant: Berlins Vorstadt, giftige Dämpfe, viel Alkohol, kaum Perspektiven. Auftritt Underdog: Nilowsky ist ruhelos, ein vernachlässigtes Kind, ein ratloser Jugendlicher, bald auch eine Waise. Der Autor macht ihn zu einer widersprüchlichen und durchaus faszinierenden Persönlichkeit mit einer anstrengenden Art zu reden, er zeigt Nilowsky außen cool und selbstsicher, innerlich orientierungslos und verloren. Die, die ihm etwas bedeuten, sterben ihm weg, und die Liebe zu Carola, sein einziger Fixpunkt, gestaltet sich – wie wohl jede Liebe – schwierig. Ab der Hälfte entgleitet mir der Roman jedoch langsam, es kommen nicht die Abenteuer, die ich erwartet habe, sondern die Wege trennen sich, der einst enge Kontakt wird bedeutungsloser, die drei lassen einander nicht ganz los, haben aber auch nicht jene Wirkung aufeinander, die der Anfang mir versprochen hat. Die Geschichte zerfällt in meinen Händen, verliert an Konsistenz und an Spannkraft, was ich naturgemäß schade finde. Als Markus und Nilowsky einander verlieren, verliert Torsten Schulz mich. Geschickt hat er die geschichtlichen Umstände – vor allem rund um den Fall der Mauer – in den Roman eingebaut, aber sie bleiben Rahmenbedingungen mit wenig Auswirkungen auf die Figuren. Letztlich war dieses Buch für mich wie ein gutes Nudelgericht: Nicht das Feinste, was es gibt, aber es stillt für eine Weile den Hunger.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
der Zug, die Gleise, ja – aber das Huhn?!
… fürs Hirn: eine ungewöhnliche Freundschaft, eine Art der Abhängigkeit und ein bisschen Politik.
… fürs Herz: wo die Versuche zu lieben scheitern, bleibt nur Gleichgültigkeit.
… fürs Gedächtnis: leider nicht allzu viel.

Nilowksy von Torsten Schulz ist erschienen im Klett-Cotta Verlag (ISBN 978-3-608-93971-2, 285 Seiten, 19,95 Seiten).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

CelonaAuf der Suche nach der eigenen Identität
„Wenn man mitten im Getümmel des Lebens steckt, dann kommt es einem wie ein einziges Desaster vor, Shannon – eine Überraschung jagt die nächste. Doch wenn man dann später auf sein Leben zurückblickt, wirkt es wie ein plausibler Handlungsablauf. Eine Sache führt zur nächsten. Und so weiter. Man beginnt, den kausalen Zusammenhang zwischen allem zu erkennen.“ Doch für Shannon ist es schwierig, solche Zusammenhänge zu finden und den roten Faden in ihrem Leben zu erkennen: Sie weiß nicht, wer ihre Eltern sind und wo ihre Wurzeln liegen, sie weiß nicht, wer sie ist. Ihre Mutter hat sie als Baby anonym weggegeben, und erst mit fünf Jahren landet sie bei Miranda und deren Tochter Lydia-Rose, wo sie bleiben kann. Dort führt sie ein normales Leben, das von Zuneigung, aber auch von Streitigkeiten geprägt ist. Doch da ist dieses Sehnen in ihr, das nicht vergeht: „Ich möchte wissen, wer meine Mutter ist. Ich möchte wissen, wer meine richtige Familie ist, wo ich wirklich hingehöre, warum ich so aussehe, warum ich solche Gefühle habe. Ich möchte diese Dinge wissen – mehr als alles andere auf der Welt.“ Also macht Shannon sich auf die Suche – nach ihrer Mutter und ihrer Geschichte.

Der Roman Hier könnte ich zur Welt kommen lebt von der intensiven und einfühlsamen Erzählweise Marjorie Celonas. Die kanadische Autorin lässt ihr Debüt in ihrer Heimat Vancouver Island spielen, wo die Winde rau sind und die Menschen auch. Marjorie Celona hat für ihre starke Story über ein adoptiertes Mädchen die Ich-Perspektive gewählt, und Protagonistin Shannon berichtet über Zeiten und Dinge, von denen sie nichts wissen kann: die eigene Geburt, die ersten Lebensjahre in der Obhut diverser Pflegefamilien. Abwechselnd wird von Shannons Aufwachsen und den Umständen ihrer Geburt erzählt, bis Gegenwart und Vergangenheit zusammentreffen – und zu einer Geschichte voll Versagen und Schmerz, Menschlichkeit, Trauer und Sehnsucht verschmelzen. Shannons Wut und Traurigkeit sind stets greifbar, sie fühlt sich abgeschnitten, verloren, und ich kann mir vorstellen, wie schlimm es sein muss, die eigenen Wurzeln nicht zu spüren – auch wenn es natürlich nur eine theoretische Vorstellung bleibt. Was ihrer eigentlichen Familie geschehen ist und warum Shannons Mutter das Baby weggelegt hat, erschüttert und betrübt mich zutiefst – durch den Egoismus zweier Menschen zerbrach einst alles, und sie tragen viele Jahre später noch schwer an ihrer Schuld. Das zu lesen, tut richtig weh, ich will eingreifen in den entscheidenden Sekunden und alles verhindern. Hier könnte ich zur Welt kommen ist bewegend, aber niemals kitschig und überrascht mich mit einem in meinen Augen realistischen Ende, das perfekt zur Geschichte passt. Eine richtig gute Entdeckung im Frühjahrsprogramm 2013.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein Hingucker!
… fürs Hirn: die Überlegung, wie es sich anfühlen muss, ein derart ungewolltes Kind zu sein.
… fürs Herz: viel Wut, Schmerz und Einsamkeit.
… fürs Gedächtnis: die schreckliche, unfassbar traurige Geschichte von Eugene.

Hier könnte ich zur Welt kommen von Marjorie Celona ist erschienen bei Suhrkamp/Insel (ISBN 978-3-458-17562-9, 347 Seiten, 19,95 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Nedov„Das sind die Momente, in denen sich die Krebszellen im Menschen bilden“
Im Jahr 2011 fährt der Moldawier Tolyan Andreewitsch durch die Abruzzen und kann gerade noch verhindern, dass er die zwei Teenager Angelo und Cristina überrollt, die auf der Straße liegen. Die beiden haben ihre Jobs in der Zuckerfabrik verloren und sind unglücklich verliebt – Cristina in einen Rowdy, Angelo in Cristina. Also wollen sie sich umbringen. Zusammen mit Andreewitsch landen sie jedoch erst einmal in einer kleinen Pension, in der es tatsächlich einen Selbstmord gegeben hat und dessen Besitzerin die Leiche unbedingt loswerden muss. Der Moldawier kennt sich mit Zucker aus und erzählt den zwei Jugendlichen in dieser verrückten Nacht die Geschichte seines Lebens. Sie führt zurück ins Jahr 1991, als die Sowjetunion auseinanderfiel und in der moldawischen Industriestadt Donduseni ein paar Männer beschlossen, sich die Freiheit zu erkaufen. Ihre Währung: selbstgebrannter Schnaps. Der Rohstoff dafür: 40 Tonnen gestohlener Zucker. Der Zuckerfabrikdirektor ist tot, die Sowjetunion stirbt, die Männer setzen ihr Leben aufs Spiel – und auch 2011 wird ein Begräbnis stattfinden.

Zuckerleben von Pyotr Magnus Nedov ist ein absurder Alptraum. Es ist zusammengesetzt aus unglaublichen, wahnwitzigen, lustigen und traurigen Szenen, die – während man sie miterlebt – durchaus Sinn zu ergeben scheinen, während man sich nach dem „Aufwachen“ fragt, ob man das tatsächlich so gelesen hat. Der Autor hat das Buch in zwei Bereiche geteilt, Vergangenheit und Gegenwart, zwischen denen er hin und her springt. Bindeglied ist dabei die Figur des Moldawiers Tolyan Andreewitsch, der aber nicht als Ich-Erzähler auftritt und dessen wahre Identität lange verborgen bleibt. Worum geht es in Zuckerleben? Um Wagemut und Risiko, den Traum von der Freiheit, das Zerbrechen des Kommunismus und Selbstmord. Die Figuren, die allesamt so komplizierte Namen tragen, dass meine Augen über die Buchstaben stolpern, sind zum Großteil raue Gesellen, in der untergehenden Sowjetunion wird nicht lang gefackelt, jeder schaut nur auf sich selbst. Pyotr Magnus Nedov schreibt flüssig, eloquent und amüsant, schweift aber manchmal derart ab, dass ich vor Ungeduld aufseufzen muss. Sein ganzes Buch ist herrlich ironisch und ein bisschen böse. Er fasst die Menschen im Moldawien des Jahres 1991 nicht, wie man es oft erlebt, ob ihrer Armut und ihres Schicksals mit Samthandschuhen an – im Gegenteil, er stellt sie als ebenso gewitzt wie raffgierig dar.

Zuckerleben hat mich ein bisschen verrückt gemacht. Während ich mich an manchen Stellen gut unterhalten gefühlt habe, haben mir andere wegen der ausufernden Dialoge graue Haare beschert. Man muss stets extrem gut aufpassen, um den Faden nicht zu verlieren. Höchst irritiert war ich, als der Autor einige Nebenfiguren plötzlich Österreichisch reden ließ – als Moldawier. Vermutlich soll das ein Pendant zu einem moldawischen Dialekt sein, aber Wörter wie „Zuckergoscherl“ zu verwenden, die eindeutig österreichisch sind, oder Aussprachevarianten wie „Bua“ und „was Guats“ zu verwenden, finde ich fragwürdig. Ich weiß nicht, inwieweit man einem Moldawier dieses Kunst-Österreichisch mit Aspekten aus dem Wienerischen und Steirischen in den Mund legen kann, das scheint mir wenig authentisch. Insgesamt ist es Pyotr Magnus Nedov aber gut gelungen, mir Einblick zu gewähren in ein Land, mit dem ich so gar nichts zu tun habe – zu einer Zeit, als es sich im Umbruch befand. Allein dafür hat sich die Lektüre gelohnt, und wer Lust hat auf einen wilden, abstrusen Roadtrip durch Moldawien – und die Nerven dafür aufbringt –, dem sei Zuckerleben ans Herz gelegt.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein supercooles Cover, die Reifenspuren sind erhaben.
… fürs Hirn: Politik, Geheimnisse, verrückte Ideen …
… fürs Herz: Liebesgeschichte gibt es keine, die kranke Teenager-Romanze mag ich nicht dazuzählen.
… fürs Gedächtnis: der ungewöhnliche Aufbewahrungsort für die Leiche des Zuckerfabrikdirektors.

Zuckerleben von Pyotr Magnus Nedov ist erschienen im Dumont Verlag (ISBN 978-3-8321-9702-5, 380 Seiten, 19,99 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Brown„We’re all fuckups in our own special ways“
„Our family has always communicated its deepest feelings through the words of a man who has been dead for almost four hundred years.“ Gemeint ist William Shakespeare, den die drei Schwestern Rose, Bean und Cordy im Schlaf zitieren können. Schuld daran ist ihr Vater, Professor und Shakespeare-Spezialist. Die Familienmitglieder werfen einander die jeweils zur Situation passenden Zitate um die Ohren, und der Vater vermittelt den Töchtern sogar mit Shakespeares Worten, dass die Mutter an Brustkrebs erkrankt ist. Die drei Schwestern kehren heim – offiziell, um ihrer Mutter beizustehen, inoffiziell, weil jede von ihnen an einem Punkt im Leben angelangt ist, an dem sie eine Auszeit braucht: Rose will Jonathan heiraten, aber nicht zu ihm nach England ziehen, Bean hat ihren Job in New York verloren, weil sie Geld veruntreut hat, und Cordy hat das Zigeunerleben satt – und ist außerdem schwanger. Zurück in der Kleinstadt Barnwell versuchen sie, eine Lösung für ihre Probleme zu finden – wenn es sein muss, auch mit Shakespeare.

The weird sisters von Eleanor Brown ist ein Buch, das wohl in die Kategorie Unterhaltung für Frauen einzuordnen ist. Wir sprechen hier allerdings nicht von Chicklit, denn der Roman hat durchaus Niveau – dafür sorgen schon allein die vielen Shakespeare-Zitate, die die Autorin geschickt an den geeigneten Stellen eingeflochten hat. Das Setting ist nichts Besonderes – eine Kleinstadt, ein heißer Sommer –, die Figuren sind es auch nicht unbedingt: drei ungleiche Schwestern, eine Mutter als Ruhepol, der Vater, der abseits von seinem Shakespeare-Wissen recht blass bleibt. Was das Buch jedoch außergewöhnlich macht, ist die Perspektive: Eleanor Brown schreibt in der ersten Person Plural. Dieses Wir sind die Schwestern, die aber auch alle einzeln als Figuren genannt werden – es gibt kein Ich. Das ist extrem befremdlich und klingt beispielsweise so: „When Rose was six and Bean three, our mother nearly ready to give birth to Cordy, we were in the kitchen playing while our mother baked.“ Das ist streng genommen nicht möglich, das Wir in diesem Fall müssten eigentlich Rose und Bean sein, aber Cordy wird davon ebenfalls eingeschlossen. Diese ungewöhnliche Erzählform fasziniert mich und stößt mich gleichzeitig ab, weil ich mich ständig frage, wer da eigentlich berichtet. Was die Geschichte an sich betrifft, so habe ich nicht das Gefühl, dass man sie gelesen haben muss – aber zum Zeitvertreib kann man es auf jeden Fall tun.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
des Covers wegen hätte ich das Buch nicht gekauft.
… fürs Hirn: Shakespeare!
… fürs Herz: ja, ein Frauenroman halt.
… fürs Gedächtnis: die merkwürdige Erzählperspektive.

The weird sisters von Eleanor Brown ist auf Deutsch unter dem Titel Die Shakespeare-Schwestern erschienen.

Für Gourmets: 5 Sterne

Johnson„In meinem Land ergibt alles einen klaren, eindeutigen Sinn. Es ist der unkomplizierteste Ort der Welt“
Pak Jun Do – benannt nach einem nordkoreanischen Märtyrerhelden – wächst im Waisenhaus auf, in dem sein Vater Aufseher ist. Hunger und harte Arbeit prägen seine Kindheit, und als er das Waisenhaus verlässt, beginnt eine ebenso abenteuerliche wie verrückte Odyssee: Jun Do wird in völliger Dunkelheit zum Tunnelkämpfer ausgebildet, muss dann auf einem kleinen Schiff wahllos Menschen von der japanischen Küste entführen und eine beliebte Opernsängerin kidnappen, bevor er schließlich auf einem Haifischfängerpiratenboot landet als getarnter Spion, der feindliche Funksprüche abhören soll. Eine wilde, erfundene Geschichte, die die Besatzung erzählt, um sich vor dem Gefängnis zu retten, führt Jun Do gar mit einer nordkoreanischen Delegation nach Texas, und zu guter Letzt findet er sich in einem Strafgefangenenlager wieder, aus dem keiner lebend rauskommt. Jun Do gelingt es allerdings – mit der Identität eines Militärkommandanten, Ehemann von Nordkoreas bekanntester Schauspielerin Sun Moon. Er nimmt den Platz an ihrer Seite ein, er spielt die Rolle in der Farce, zu der sein Leben geworden ist, perfekt. Immer näher kommt er dabei dem Geliebten Führer Kim Jong-Il – und immer gefährlicher wird das für ihn …

Der amerikanische Autor Adam Johnson hat sich für seinen zweiten Roman so richtig ins Zeug gelegt: Er hat ihn an einen Ort verlegt, der real ist und den noch niemand kennt. Zwar hat er Nordkorea zu Recherchezwecken selbst bereist, doch die Gespräche mit den Nordkoreanern waren aufgrund ihrer Sicherheitsregeln im Umgang mit Amerikanern stark verfälscht. Für Das geraubte Leben des Waisen Jun Do hat er mit Dokumenten, Belegen und eigenen Eindrücken gearbeitet – und mit der Kraft der Fantasie. Er hat sich einen Helden erdacht, ein Waisenkind, einen ruhigen, klugen, starken Mann, dem Dinge passieren, die völlig absurd sind: „Aber meine Geschichte ist so unwahrscheinlich, ich kann sie ja selbst kaum glauben.“ Die Geschichte an sich, das Erleben und Erzählen einer Geschichte, steht im Fokus dieses wilden, atemberaubenden, mitreißenden Romans, denn in Nordkorea, das beherrscht wird von der Meinung des Staats und den Lautsprechern, die diese öffentlich kundtun, hat offiziell niemand eine Geschichte: „Die Geschichten der Leute erzählst nicht du, sondern der Staat. Wenn ein Bürger etwas tut, das erzählt werden sollte, ob gut oder schlecht, dann ist das die Sache des Geliebten Führers und seiner Vertrauten. Nur ihnen steht es zu, Geschichten zu erzählen.“ Strenge Regeln und Angst beherrschen das Leben das Nordkoreaner, das stets bedroht zu sein scheint: „Für wahre Geschichten wie diese, von Menschen erlebte, konnte man im Gefängnis landen, ganz egal, wovon sie handelten.“ Was Adam Johnsons Geschichte betrifft, so glaube ich ihm von Anfang an kein Wort – und weiß doch, dass jedes einzelne wahr sein könnte. Aus diesem Grund verliebe ich mich in sein Buch. Kaum etwas von dem, was er schreibt, kann er wissen, er hat mit dem bekannten Grundsatz gebrochen, nur von dem zu berichten, was man kennt, er ist mutig, verzettelt sich manchmal komplett – und ich bewundere ihn sehr dafür. Vielleicht kann man ihm vorwerfen, dass die Dialoge manchmal allzu amerikanisch klingen, dass sein Geliebter Führer merkwürdig verzerrt vermenschlicht wirkt, dass alle Ereignisse absolut verrückt sind, aber wenn man sich wie ich derart verloren hat in diesem herrlich absurden Buch, wird man es nicht tun. Er selbst sagt dazu richtigerweise: „Wir wissen erst dann, wie man einen Roman schreibt, der in Nordkorea spielt, wenn nordkoreanische Autoren endlich selbst ihre Geschichte erzählen dürfen.“

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do hat mich überrumpelt. Wie ein engmaschiges Netz hat Adam Johnson seine Sätze und Buchstaben über mich geworfen, ich kann ihnen nicht entkommen und werde regelrecht überrannt von den fantastischen Geschehnissen rund um Pak Jun Do. Alles ist mir fremd, sein Land, seine Erziehung, sein Hunger, seine Hingabe. Der Vergleich eines Rezensenten der „Zeit“, Jun Do sei der nordkoreanische Forrest Gump, ist unglaublich passend – und ich bin ein überaus großer Fan von Forrest Gump. Dieser Roman ist trotz der Unfreiheit, die das Leben in Nordkorea beherrscht, ungezähmt und unbesiegbar, er zwingt mich nieder mit seiner Flut an Seiten, überraschenden Wendungen und nie gehörten Geschichten. Ich habe ihn verschlungen, es war ein Erlebnis und ein Abenteuer, das mich in jeder Hinsicht überwältig hat: Ich habe mich gefreut und geärgert, ich habe gelitten und geschmunzelt, habe meine Augen über die Zeilen fliegen lassen vor Ungeduld. Wer das Wagnis eingeht, dieses Buch zu lesen, sollte sich warm anziehen – und wird trotzdem schrecklich frieren auf seiner absonderlichen Reise durch ein weit entferntes, unheimliches Land, in dem Menschen unterdrückt werden und Glück vom Staat vorgeschrieben wird. Fulminant!

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
cool, schön, ausgezeichnet!
… fürs Hirn: eine grandiose Lügengeschichte, die bis ins Detail wahr sein könnte, denn was wissen wir von Nordkorea?
… fürs Herz: die vielen kleinen herzergreifenden Einzelschicksale.
… fürs Gedächtnis: der gesamte Roman, der wirklich jenes Ereignis ist, als das er verdienterweise gefeiert wird.

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do ist erschienen im Suhrkamp Verlag (ISBN 978-3-518-46425-0, 687 Seiten, 22,90 Euro). Hier gibt es eigene Verlagswebsite zum Buch, und hier findet ihr die lesenswerte Rezension aus der “Zeit”.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Ohlin„Das war in einem anderen Leben.“ „So eins hatte ich auch schon mal.“
Grace ist Therapeutin und lebt in Montréal. Beim Langlaufen findet sie im Schnee einen Mann, der gerade versucht hat, sich an einem Baum zu erhängen. Sie rettet ihn und steigert sich so sehr in ihr Helfersyndrom hinein, dass die Grenzen zwischen Hilfsbereitschaft und Verliebtheit verschwimmen: „Sie kehrte dann zurück ins Wohnzimmer, zu diesem Menschen, den sie kaum kannte, diesem dunklen, schwierigen Mann, und küsste ihn. Manche Dinge waren einfach zu intensiv, um sie langsam anzugehen.“ Das alles geschieht 1996. Im New York des Jahres 2002 versucht Annie, als Schauspielerin Fuß zu fassen. Sie war einst Grace‘ Patientin und ist von zuhause weggelaufen – genau wie die junge, schwangere Hilary, die obdachlos ist und sich bei Annie einnistet. Annie denkt nie an Grace, deren Leben sie 1996 verändert hat. Mehr Präsenz nimmt Grace dagegen in den Erinnerungen ihres Exmanns Mitch ein, der in die Arktis zu einer Inuit-Gemeinde flüchtet, um sich klar darüber zu werden, ob er bei seiner Freundin und ihrem autistischen Kind bleiben will. Während seiner Abwesenheit wird ihm die Entscheidung abgenommen, das Leben geht weiter – und als er Grace wiedertrifft, wird auch offenbar, was damals geschehen ist zwischen ihr und dem lebensmüden Fremden.

Die kanadische Autorin Alix Ohlin erzählt in ihrem zweiten Roman von drei Menschen – Grace, Mitch und Annie –, die sich einst kannten, aber eigentlich nichts miteinander zu tun haben. Ihr jeweiliges Leben ist geprägt vom Versuch der Selbstbestimmung und vom Scheitern. Die Schriftstellerin hat drei völlig verschiedene Charaktere gewählt: Grace ist selbstbewusst, herzlich und aufdringlich, Annie gibt sich karrieregeil und rücksichtslos, hat aber ein weiches Herz, und Mitch steht sich selbst im Weg. Alix Ohlin widmet sich ihren Figuren so liebevoll, dass es ihr gelingt, mein Interesse für deren Geschichten zu wecken, auch wenn sie am Ende eher belanglos bleiben. Gemeinsam ist den dreien, dass sie versuchen, jemand anderem zu helfen, und dabei sich selbst verlieren. Als Rahmen nutzt die Autorin dabei die Beziehung zwischen einem Therapeuten und einem Patienten, denn auch Mitch ist wie Grace Therapeut. Die Ausgangssituation – dass Grace einen Mann trifft, der sich soeben umbringen wollte – ist natürlich spannend, und ich bin ebenso begierig darauf, sein Geheimnis zu erfahren, wie sie. Als dieses Geheimnis, die Ursache für den Selbstmordversuch, dann jedoch ans Licht kommt, bin ich fast ein wenig enttäuscht, weil es mir ein bisschen abgedroschen erscheint. Was angesichts des Unglücks, das dahintersteht, eine harte Aussage ist, aber in diesem Punkt hat Alix Ohlin sich in meinen Augen ein wenig verzettelt, denn plötzlich kommen noch so viele Schicksale zum Tragen, dass sie angesichts der Kürze nur oberflächlich dargestellt werden können, was sehr schade ist. Sie zündet hin und wieder kleine Knallfrösche, aber die große Bombe, auf die ich warte, bleibt aus. Trotzdem ist dieser Roman aufgrund seines Unterhaltungswerts und Alix Ohlins angenehmen Stils sehr lesenswert, und ich habe ihre drei kleinen Alltagshelden gern für eine Weile begleitet.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein sehr stilvolles Cover!
… fürs Hirn: gute Anklänge und ein gekonnter Schreibstil, aber ich hätte mir mehr Sprengkraft gewünscht.
… fürs Herz: viel Menschlichkeit.
… fürs Gedächtnis: ein nettes, harmloses Lesevergnügen.

In einer anderen Haut von Alix Ohlin ist erschienen bei C. H. Beck (ISBN 978-3-406-64703-1, 351 Seiten, 19,99 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Vann„Die Erinnerung ist ein Problem, weil sie uns erzählt, was wir hören wollen“
„Galen mochte keine Umarmungen. Seine Familie bestand nur aus Frauen, und dauernd umarmten sie ihn, viele Male am Tag. Er hätte es vorgezogen, in seinem ganzen Leben nie wieder umarmt zu werden.“ Dabei sind die Umarmungen Galens geringstes Problem: Er ist 22 und lebt, statt aufs College zu gehen, mit seiner Mutter auf einer einsamen Walnussfarm in Kalifornien. Die Frauen in seiner Familie, das sind: die demente Großmutter, Galens Mutter Suzie-Q, deren Schwester Helen sowie Galens Cousine Jennifer. Dass sie einander stets umarmen, ist blanker Hohn, denn sie hegen ausschließlich negative Gefühle füreinander: Der Hass zwischen Suzie und Helen geht zurück auf eine freudlose Kindheit in einem gewalttätigen Elternhaus, die Bindung zwischen Galen und seiner Mutter ist unnatürlich eng, und Jennifer nutzt Galens sexuelle Unerfahrenheit für sich aus, obwohl sie ihn verachtet. Galen versucht, in eine Art sanften Esoterik-Fanatismus zu flüchten und sich von seinem irdischen Dasein zu lösen: „Hier in der Hütte auf dieser alten Matratze im Dunkeln hatte er das Gefühl, für etwas bestimmt zu sein. Womöglich nahm sein Leben eine Gestalt an, die auch Größe verhieß, wenngleich es zu früh war, um Genaueres zu wissen.“ Doch: „Seine Mutter eine ständige Störung, ein Riss in der Textur von Raum und Zeit. In ihrer Nähe konnte es keinen Frieden geben.“ Und während der Sommer sich aufheizt, schlagen die negativen Gefühle von Galen und seiner Familie in handfeste Gewalt um, die gerade groteske Ausmaße annimmt …

Dreck von David Vann ist nicht einfach nur Dreck. Es ist Morast, Sumpfgebiet, Treibsand. Dieses Buch ist wie eine Schlingpflanze, die sich um meinen Knöchel windet und mich hineinzieht in eine überaus verstörende Geschichte über einen jungen Mann, der eines Tages – aufgestachelt von Provokationen, Hass und pseudospirituellem Gedankengut – eine Grenze überschreitet und nicht mehr zurück kann. Der preisgekrönte Autor entwirft ein spannungsgeladenes Umfeld, in dem von Anfang an die Blitze fliegen. Es ist völlig logisch, dass sich das Unwetter, das sich zusammenbraut, entladen wird. Doch als es das schließlich tut, geschieht es auf dermaßen heftige Weise, dass ich mich ungläubig aufgerissenen Augen dastehe und es nicht fassen kann. Natürlich weiß ich, dass Menschen so etwas tun. Aber obwohl David Vann sich alle Mühe gegeben hat, Galens Motivation deutlich zu machen, bleibt dieser als Gesamtfigur ein Rätsel für mich. Wenn er das Leben an der Seite seiner Mutter derart hasst, warum geht er nicht einfach weg? Was soll die halbherzige Beschäftigung mit Raum, Zeit und dem Körper als Hülle unseres Geistes? Ist er zurechnungsfähig oder einfach nur wahnsinnig? Hass und Liebe mischen sich zu einem explosiven Cocktail in Galen, und während mir sehr wohl bewusst ist, dass beide Empfindungen nebeneinander existieren können, habe ich in diesem Fall das Gefühl, die eine mache die andere unglaubwürdig. David Vann ist es auf jeden Fall gelungen, mich zu fesseln, mich versinken zu lassen in menschlichem Dreck und mich zu schockieren. Sein Buch hat mich auf äußerst negative Weise beschäftigt und bewegt – aber es hat mich nicht kaltgelassen, und das ist die wichtigste Forderung, die ich an einen Roman stelle. Wer sich amüsieren will, gehe woanders hin. Wer einen Blick in jene vielzitierten menschlichen Abgründe werfen will – bitte sehr.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
sehr simpel, sehr passend.
… fürs Hirn: jede Menge – Entschuldigung – ziemlich kranker Scheiß.
… fürs Herz: eine Liebesgeschichte wäre hier fehl am Platz, und jede Liebe, die es gibt, ist verseucht von Neid, Missgunst und Verachtung.
… fürs Gedächtnis: pures Entsetzen.

Dreck von David Vann ist erschienen im Suhrkamp Verlag (ISBN 978-3-518-42367-7, 296 Seiten, 19,99 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Schriber„Sehnsucht gibt den Füßen Flügel“
„Wer kennt sich aus in dem verworrenen Fadenknäuel, das Rosies Leben gewesen ist?“ Der Armenvogt des kleinen Schweizer Dorfs hört sie sich an, die wilden Geschichten des jüngsten Zuwachses im Armenhaus: Rosie ist zurückgekehrt in ihre Heimat, eine alte, exzentrische, verlebte Person, die sich als einst berühmte Burlesque-Tänzerin sieht und wohl doch nie mehr war als eine gewöhnliche Hure. Von ihrem Ziehvater wurde das kleine Rösli Mitte des 19. Jahrhunderts als Kind fortgeschickt ins ferne Amerika, wurde von der Ziegenwiese gejagt und musste sich aufmachen ins Ungewisse. Sie kam nur bis England und begegnete dort ihrem Schicksal in Gestalt des widerlich-charismatischen Theodor Fairchild Lent, der das unschuldig-zarte Wesen aufnimmt in seine Kompanie. Deren Star ist Julia Pastrana, die Affenfrau, die Monstrosität, die Theodor in einer Stadt nach der anderen als Fehltritt der Natur zur Schau stellt. Aus Rösli wird Rosie la Belle, die Assistentin, die durch ihre Makellosigkeit die Entstelltheit von Julia noch hervorheben soll. Lohn gibt es für beide keinen, Fairchild bereichert sich am Unglück dieser beiden Kinder, die die anfängliche Distanz irgendwann überwinden und sich ein bisschen anfreunden. Die Leute im Dorf sind genervt von der rauchenden alten Dame in Schlangenlederpumps, aber der Armenvogt lauscht gern ihren Berichten, die vielleicht nicht einmal wahr sind: „Ich habe Menschen schon immer bewundert, die das Einfärben grauer Tage beherrschen. Sie federn dahin. Nichts drückt sie nieder. Ihnen gehört das Grün an ihrem Weg. Ihnen gehören die Berge am linken Ufer, die Berge am rechten Ufer und der See dazwischen. Der Wind gehört ihnen, das Licht des Tages und das Dunkel der Nacht. So ein Mensch war Rosie.“

„Ein Mensch kann alles ertragen. Alles verzeihen. Nur nicht, dass er verachtet wird.“ Doch meist erträgt er auch das – wenn er keine Wahl hat. Davon erzählt Margrit Schriber in Die hässlichste Frau der Welt: Zwei Mädchen, so ungleich wie Tag und Nacht, sind einem Mann ausgeliefert, der sie ausbeutet. Julia, die Affenfrau, ist von so abartiger Hässlichkeit, dass ihr zu jener Zeit nichts anderes bleibt, als sich Kost und Logis als Jahrmarktattraktion zu verdienen, und Rosie wird mit nur 12 Jahren in die große Welt gejagt – ohne Geld und ohne Anhaltspunkt. Was also ist Verachtung im Vergleich zu Hunger? Theodor Fairchild Lent bekommt Bewunderung und sexuelle Gefälligkeiten, so viel er will. Über einen entstellten Menschen zu erzählen, der ob seiner Andersartigkeit als Monstrosität begafft wird, ist nicht neu – aber die Schweizer Autorin Margrit Schriber tut es immerhin auf recht originelle Weise. Sie wählt als Ich-Erzähler den Armenvogt, der so gar nichts mit der Geschichte zu tun hat und dessen Persönlichkeit dürftig bleibt. Er berichtet quasi aus zweiter Hand, was er von Rosie gehört hat – ein Erzählkniff, den ich eher kompliziert und unnötig finde. Völlig überrascht bin ich vom gestelzten und verqueren Stil, der vermutlich das Flair und die Ausdrucksweise des 19. Jahrhunderts wachrufen soll. Vielfach sind die Sätze sehr schön, aber insgesamt zwingen Perspektive und Geziertheit mich, auf Distanz zum Buch zu bleiben. Hauptperson Rosie la Belle wirkt in den Briefen, die sie unverständlicherweise ihrem Ziehvater schreibt, ohne je Antwort zu erhalten, schrecklich naiv und unglaubwürdig klug zugleich. Viel Gefühl bringe ich nicht für ihr Schicksal auf. Die hässlichste Frau der Welt hat durchaus faszinierende Aspekte und ist eine kuriose Mischung aus Märchen, Geschichtsexkurs und Gesellschaftsstudie. Ich hab es gern gelesen, aber das Feuer der Begeisterung hat sich nicht entzündet.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
sehr seltsam, sehr schön.
… fürs Hirn: die Sensationsgier der Menschen.
… fürs Herz: Grausamkeit.
… fürs Gedächtnis: wenig bis nichts.