Gut und sättigend: 3 Sterne

img_0851„Wahnsinn ist ein Land, zu dem nicht jeder Zutritt hat“
1952. In Deutschland sind die Kriegsfeuer ausgebrannt, im Nahen Osten – im neuen Staat Israel – werden sie gerade erst entzündet. Rosa Silbermann kennt sich aus mit beiden, sie konnte den Nazis entfliehen, lebt mit ihrem Sohn und vielen Verbündeten auf einem Fleckchen israelischem Land, dem sie jeden Tag genug zum Leben abringen. Dann wird Rosa als Agentin in das Nobelhotel Bühlerhöhle geschickt, weil sie Orts- und Sprachkenntnis hat. Gemeinsam mit einem männlichen Agenten namens Ariel soll sie den Kanzler Adenauer vor einem Anschlag schützen. Besagter Ariel taucht aber nicht auf, Rosa macht einen Fehler nach dem anderen und stößt mit Sophie Reisacher auf eine ausgefuchste Gegenspielerin, die das Hotel fest im Griff und ihre Nase in allen Angelegenheiten hat. Und schon bald stürzt das Auto des Kanzlers in eine Schlucht …

Bühlerhöhle ist kein Krimi. Brigitte Glaser schreibt aber welche. Und dass sie das kann, merkt man ihrem Roman aus dem Schwarzwald deutlich an: Er ist sehr spannend konstruiert und wartet mit einem Ende auf, das eines James-Bond-Streifens würdig wäre. Zwar treten Rosa und „die Reisacher“, wie sie das ganze Buch über genannt wird, als Gegnerinnen auf, geprägt und bestimmt wird die Geschichte aber eigentlich von drei Frauen. Da gibt es nämlich noch die junge Agnes, die am benachbarten Hundseck arbeitet – wobei der Begriff Nachbarschaft weit gefasst ist, denn das sind gut 45 Minuten zu Fuß. Die Neunzehnjährige gerät in große Gefahr, weil sie einen arabischen Hotelgast von früher erkennt, als jemanden, der ihr etwas angetan hat. Helfen kann ihr da nur ihre bärenstarke Schwester Walburga, die im Wald lebt. Wer was mit wem zu tun hat, das verwebt und klärt Brigitte Glaser auf gar meisterliche und sehr lesenswerte Weise. Wie ein alter Schwarz-Weiß-Film ist das Buch, ein Schelmenstück, ein Verwirrspiel mit fulminantem Schlussakt.

Mir persönlich war der Roman stellenweise sprachlich zu gewöhnlich und lieb, die Figuren waren mir – obwohl ich sie gern mochte – gar zu sehr dem Klischee verfallen: das ängstliche Mädel, das kaum bis drei zählen kann, die vermeintlich mutigen, unabhängigen Frauen, die sich dann doch nur ganz erhitzt dem erstbesten Mann an die Brust werfen, natürlich ohne zu merken, dass er ein Schwindler ist. Insgesamt aber ein gut recherchiertes, originelles und mitreißendes Lesevergnügen, das ich euch auf jeden Fall empfehlen kann.

Bühlerhöhle von Brigitte Glaser ist erschienen im List Verlag (ISBN 13 9783471351260, 448 Seiten, 20 Euro).

Nicht mein Geschmack

selasiTaiye Selasi: Ghana must go
Welt-Bestseller! Was wurde nicht schon alles über dieses Buch geschrieben. Weil: Afrika. Weil: Migration. Weil: amerikanischer Traum und so. Mich hat es völlig erdrückt und angestrengt. Diese Traurigkeit. Diese unglaubliche, wahnsinnige, alles zerfressende Traurigkeit. Eine Welle der Traurigkeit, die hin und her schwappt, über mir zusammenschlägt, mein Gott, ich, die melancholische Bücher liebt, ich konnte nicht mehr atmen.

… as if for a moment she’d ceased to exist: some new odd sort of sadness, part grief, part compassion, a helium sadness, too airless to bear.

Der Roman handelt von einer sechsköpfigen Familie, im ersten Teil stirbt der Vater Kweku Sai. Sehr lange stirbt er vor sich hin, dann ist er tot, und die anderen kommen zur Beerdigung, kommen nach Ghana, wo die Kinder (bis auf eine Ausnahme) noch nie waren: Olu, Taiwo, Kehinde, Sadie und Ex-Frau Fola. Keiner von ihnen hat überwunden, was geschehen ist, als Kweku die Familie verlassen hat. Jeder von ihnen kreist um sich selbst, um seine eigene Trauer, um die Gründe, aus denen die Beziehung zu den Geschwistern nicht funktioniert. Sie sind alle zerbrochen, die Familie als Ganzes und jeder als Einzelner. Das Buch ist eine Innenlebenstudie mal sechs, mit einer fast schon perversen Gefühlsgenauigkeit. Allen sechs Figuren geht es schlecht, sie haben einander und haben sich doch nicht, sie lieben ins Leere, alles schmerzt und nichts verheilt, es ist überaus deprimierend. Mir war das schlicht und ergreifend too much sadness.

tessaNicola Karlsson: Tessa
Tessa hat ein Problem: Sie trinkt. Sie nimmt außerdem Kokain und lässt sich, weil sie sich im Rausch nicht wehren kann, fast schon regelmäßig vergewaltigen. Eigentlich hat Tessa einen Freund namens Niki, aber die Beziehung ist krank und verzerrt, was an Tessas extremen Selbstzweifeln und ihrem irrationalen Verhalten liegt. Sie treibt Niki in den Wahnsinn, will seine Anerkennung, stößt ihn fort, sucht seine Nähe, schreit ihn an, schmeißt ihn raus, nur um ihm dann wieder nachzuweinen … Tessas einziger Lebensinhalt ist sie selbst, sie hat kein Geld und keine Jobs, sie rutscht immer weiter ab, verrennt sich in irgendeinen Scheiß. Ich aber frage mich: Woher kommt das? Was ist passiert? Von einer schlimmen Kindheit ist keine Rede, von anderen Traumata auch nicht, von gar keinem möglichen Grund. Die Autorin bietet mir keine Erklärung für den Hieb ihrer Protagonistin. Whatever happend? Und wohin soll das führen? Einen Weg, einen Konflikthöhepunkt, eine Lösung gibt es ebenfalls nicht. Das gesamte Buch läuft nach Schema F ab: Tessa wacht auf, hat einen schlimmen Kater, ihr ist schwarz vor Augen, der Geschmack in ihrem Mund ist pelzig (wie sonst), sie schwört sich, nie wieder zu saufen, dann treibt sie es zum Beispiel mit einem verheirateten Kerl, der nicht sofort nach dem Sex seine Frau verlässt, deshalb muss sie leider ausflippen und wieder trinken, und alles beginnt von vorn. Joah. Hätte nach dreimal schon gereicht, geht aber permanent weiter. Dieses Porträt zeigt eine erschreckende Abwärtsschleife, es kann als Warnung dienen, die Story an sich ist völlig sinnlos.

Nicht mein Geschmack

Wer hier mitliest, weiß: Ich bin in diesem Jahr ein bisserl ungustelig. Ich hab einen extrem schlechten Lauf und motze deswegen mehr rum als normalerweise, aber in Anlehnung an den klassischen Schlussmachsatz sei gesagt: Es liegt NICHT an mir! Sondern an den Büchern. Die find ich einfach nicht gut, und ein bisserl hab ich auch das Blümchenbloggerische Bücherliebhaben satt, dieses In-den-Himmel-Loben von Lieblingstiteln und Unter-den-Tisch-fallen-Lassen von allem, was nicht ach so toll war. Heute trifft’s erneut zwei hochgelobte Titel, die allerhand gute Kritiken eingeheimst haben und die ihr vielleicht auch kennt.

stroutElizabeth Strout: Die Unvollkommenheit der Liebe
Ach, Elizabeth! Es hat so gut mit uns angefangen. Ich hab dein Buch Olive Kitteridge gelesen, und es war wunderbar. Aber dein jetziger Roman, was soll das sein? Der weinerliche Monolog einer langweiligen Frau, die monatelang im Krankenhaus liegt und nichts zu tun hat, im Ernst? Lucy erinnert sich an ihre Kindheit, weil ihre Mutter an ihrem Krankenbett sitzt, und schön war diese Kindheit nicht. Seltsam vage, verschwommen und distanziert sind diese Erinnerungen, und aus der Gegenwart will die Kranke nicht viel verraten. Wozu redet sie dann überhaupt mit mir? Das Buch ist der Bericht einer Fremden, kein Einblick in das Innerste einer Figur, eine Studie, als wäre es noch kein fertiger Roman. Ich hab es nur gelesen, weil ich im Flugzeug saß und sich die anderen Bücher im Koffer befanden. Im Lagerraum. Es hat mir die Zeit vertrieben, sonst jedoch nichts. Obwohl es ausschließlich von Emotionen handelt, legt es sie derart unbeteiligt auf den Tisch, dass keine von ihnen zur Geltung kommen kann. Elizabeth, was ist passiert? Was ist das für eine schmale Abhandlung, so leblos, fad und ohne einen einzigen golden glänzenden Satz? Ach, und dabei hat es so gut angefangen mit uns.

obrehtTéa Obreht: Die Tigerfrau
Ein Buch, das um die Welt ging – und überall wohlwollend aufgenommen wurde. Es geht darin um den Krieg im damaligen Jugoslawien, um eine junge Frau, die ihren Großvater betrauert, und um einen Tiger. Nun ist euch ja von vornherein klar, dass ich den Roman nicht sonderlich mochte, weil ich ihn hier eingereiht habe, aber die Frage ist natürlich: Warum nicht? Zum einen: Mir fehlte der Zauber. Der Krieg, der hatte nicht den geringsten Zauber, natürlich nicht, aber die Erinnerungen an den Großvater hätten ihn haben können. Seit ich Wie der Soldat das Grammofon repariert von Saša Stanišic gelesen habe, vergleiche ich alle Bücher über diesen Krieg damit, und sie verlieren, eins nach dem anderen. Das ist nicht fair, aber er hat vorgemacht, wie’s geht, und bisher hat es ihm keiner nachmachen können. Bei Téa Obreht bekomme ich irgendwann den Eindruck: Die Aufmerksamkeit hat sie auch nur deshalb auf sich gezogen, weil sie als Einwandererkind den tabuisierten Jugoslawienkrieg thematisiert und weil sie was Mystisches reinspritzt, was Altes, Unheimliches, das irgendwie gewichtig wirkt. Aber die Geschichte mit dem Tiger – sie hat für mich keine Botschaft. Sie ist gut und lesbar, einen Zusammenhang zu den Teilen in der Gegenwart hat sie nicht. Überhaupt: die Zeitebenen. Téa Obreht mischt und springt wild hin und her, bricht alles auf, wechselt von einem Kapitel zum anderen Zeit und Perspektive ohne Marker, an denen ich mich orientieren könnte. Erst nach der Hälfte des Buchs hab ich beispielsweise kapiert, dass „mein Großvater“, wie er immer heißt, in manchen Kapiteln erst elf Jahre alt ist. Vielleicht denkt ihr jetzt, ich sei eben nicht schlau genug, aber im Ernst: Soll das ein Buch interessanter machen, wenn der Leser sich nicht auskennt? Es verwirrt und langweilt mich einfach nur. Zu guter Letzt hat mich auch die Gefühllosigkeit der Protagonistin gestört. Ihr Opa ist tot, und sie reagiert mit: Aha, who cares. Vielleicht will sie sich vor dem Schmerz schützen. Aber Téa Obreht hätte ihn trotzdem spürbar machen können, darauf habe ich den ganzen Roman über gewartet. Er ist da, er sitzt zwischen den Zeilen, und doch scheint sie ihn zu ignorieren. Hätte ich mit diesem Buch auch machen sollen.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

dexter„Möglicherweise muss man verletzt werden, ehe man überhaupt etwas begreift“

„Niemand, der sich für die Frage interessiert, wo Journalisten ihre Storys herhaben, sollte glauben, dass die Kompassnadel jedes Mal neu ausgerichtet wird. Was sie fasziniert, das ändert sich nicht, nur der Ort, an dem sie es aufspüren.“

Für die Journalisten Yardley und Ward ist dieser Ort im Jahr 1965 eine Kleinstadt in Meat County, Florida, zufällig die Heimat von Ward. Hingelockt hat sie Charlotte Bess, die sich in den inhaftierten Mörder Hillary Van Wetter verliebt hat und seine Freilassung erwirken will. Er soll den Sheriff ermordet und ausgeweidet haben, den Sheriff, der in Ausübung seines Amtes zahlreiche Schwarze umgebracht hat. Yardley und Ward finden schnell heraus, dass Van Wetter ohne haltbare Beweise verurteilt wurde. Sie schreiben ihre Story. Doch das ist noch lange nicht das Ende der Geschichte …

Pete Dexter war selbst 15 Jahre lang Zeitungsreporter und hat sich mit Paperboy an den alten Grundsatz gehalten, über das zu schreiben, was man kennt. Sein Ich-Erzähler ist der Bruder von Journalist Ward und der Sohn eines Zeitungsinhabers. Er hat allerlei Probleme: Seit er von der Uni geflogen ist, kriegt er sein Leben nicht auf die Reihe – und spielt vorerst den Fahrer für Yardley und Ward, die betrunken am Steuer erwischt wurden. Deshalb ist er bei allen Recherchen live dabei – und die liefen in den 60er-Jahren noch sehr viel persönlicher ab als heute. Ohne Google, ohne Mails. Die Beziehung der Brüder zum Vater ist nicht gut, Mutter gibt es keine, aber immerhin nähern die beiden sich durch die Zeit, die sie zusammen verbringen, wieder an. Für den Ich-Erzähler geht es um das eigene sexuelle Erwachen, um das Nachahmen des Erwachsenenlebens, um das Sich-selbst-Finden. Für alle anderen geht es um eine gute Story, aber irgendwie auch um Leben und Tod.

Paperboy ist wild und rau und ungnädig. Sehr geil ist das Ambiente der 60er, es wird geraucht, gesoffen, geflucht, die Arbeit der Journalisten ist seltsam unstrukturiert und frei, sie sonnen sich noch im Glanz ihres Berufsstands, und so mancher, der sich einen Namen gemacht hat, tut einfach, was er will. Frauen sind Magneten, von denen die Männer angezogen, aber auch abgestoßen werden, alle spielen miteinander, umkreisen sich, treffen falsche Entscheidungen. Auch Homosexualität, damals noch stärker tabuisiert als heute, spielt eine entscheidende Rolle. Pete Dexter erzählt in einem coolen Matter-of-fact-Ton, der insofern typisch männlich wirkt, als dass er möglichst distanziert sein will und gerade dadurch etwas sehr Emotionales bekommt. Die Gefühle, über die keiner spricht, schimmern stets durch. Ein düsteres, dunkles, beklemmendes, sehr lesenswertes Buch aus einer Zeit, die erst 50 Jahre her ist – und doch längst vergangen.

Paperboy von Pete Dexter ist erschienen bei Liebeskind (ISBN 978-3-95438-008-4, 320 Seiten, 19,80 Euro). Das Buch wurde mit John Cusack, Matthew McMcConaughey und Nicole Kidman verfilmt.

Für Gourmets: 5 Sterne

doerr„Manchmal ist das Auge des Sturms der sicherste Ort“

„Kennst du die größte Lehre der Geschichte? Sie lautet, dass die Geschichte am Ende das ist, was die Sieger sagen.“

Und dem jungen Werner wird eingebläut, dass es nur einen Sieger geben kann: das Deutsche Reich. Der blonde Bub, der in einem Waisenhaus aufgewachsen ist, hat eine große Leidenschaft für Radios und alles Technische. Die bringt ihn an die Akademie, wo er eine Chance auf eine gute Ausbildung erhält – denn im Krieg werden Burschen wie er gebraucht. Werner macht mit, reiht sich ein in den Gleichschritt und versucht, die Zweifel, die tief in ihm drin gären, zu ignorieren. Als er gegen Kriegsende in einem kleinen französischen Städtchen stationiert ist, deckt er ein Geheimnis auf, an dem sich zeigen wird: Ist Werner, wenn es drauf ankommt, ein guter Mensch? Denn dort trifft er Marie-Laure, die allein ausharrt in einer völlig zerbombten Stadt. Sie ist blind. Und was sie tut, könnte sie das Leben kosten …

Im September war ich im Urlaub: die erste Flugreise mit den Kindern. Der Platz im Koffer war beschränkt, ich hatte schon einige leichte Taschenbücher eingepackt, da ich ja keinen E-Reader besitze. Am Abend vor dem Abflug hab ich noch in diesen Roman reingelesen, nicht viel, vielleicht fünfzehn Seiten. Das war ein Fehler. Denn dann musste ich ihn mitnehmen. Ich MUSSTE. Ich stopfte ihn noch zu den Badesachen, und dann saß ich da, am Strand, die Kinder in Sichtweite, strahlender Sonnenschein, die Füße im Sand – und mit dem Kopf mitten im Zweiten Weltkrieg, im Bombenhagel. Mehr als einmal tropften meine Tränen in den Sand, holy moly, das klingt so rührselig, aber was soll ich tun, es ist wahr.

Anthony Doerr hat 2015 für dieses Buch, um das ein großer Hype herrschte, den Pulitzer-Preis bekommen. In Amerika hat ihm das einen sensationellen Erfolg beschert, das deutsche Feuilleton hat sein Werk abfällig behandelt und belächelt. Ich bin wie immer spät dran, aber who cares: Gute Bücher werden nicht schlecht. Und dieses hier schon gar nicht. Deshalb solltet ihr alle, die die Geschichte von Marie-Laure und Werner noch nicht gelesen haben, das unbedingt nachholen: Sie ist großartig. Sehr ergreifend, hart, spannend, tieftraurig und ein weiteres Mahnmal –, auch wenn es viele geben mag, die glauben, davon brauche es nicht noch mehr – dessen, was geschehen ist, was nicht vergessen werden darf. An den vielen Details merkt man, wie gut der amerikanische Autor recherchiert hat – die Arbeit muss Jahre gedauert haben. Die Kapitel sind sehr kurz, die Schnitte sind schnell, was tatsächlich einen Film im Kopf ablaufen lässt, einen Film voll einprägsamer Bilder und mit gelungener Dramaturgie. Anthony Doerr hat viel Liebe in dieses Buch gesteckt, hat sich hineingefühlt in seine zwei Jugendlichen, in diesen Krieg, in diese Ideologie. In Deutschland war es nicht erfolgreich, wofür die Kritiker diverse Gründe gefunden haben, unter anderen die Übersetzung. Ich war allerdings absolut angetan, für mich gehört Alles Licht, das wir nicht sehen zu den besten Büchern, die ich in diesem Jahr gelesen habe. Den dicken, schweren Wälzer in den Urlaub und an den Strand zu schleppen – das war’s wert.

Alles Licht, das wir nicht sehen von Anthony Doerr ist erschienen bei C. H. Beck (ISBN 978-3-406-66751-0, 528 Seiten, das HC ist vergriffen und wird nicht nachgedruckt, bei btb ist eine Taschenbuchausgabe erschienen).

Gut und sättigend: 3 Sterne

bayer„Man kann nicht lieben, ohne zu lernen“

„Das, was ich von der Liebe weiß, ist nur der halbe Apfel. Die andere Hälfte kenne ich nur als Zaungast aus dem Leben meines Bruders.“

Denn Peters Zwillingsbruder Paul ist verheiratet mit Anne – der einzigen Frau die Peter je geliebt hat. Einen Ersatz für sie zu finden, ist ihm in all den Jahrzehnten nicht gelungen. Er begnügt sich mit Affären, gibt vor, dass ihm nichts fehlt. Von Montag bis Donnerstag führt er ein beliebtes Restaurant in Frankreich, den Rest der Woche verbringt er in einer Wohnung in Deutschland und schreibt. Doch auch in diesem Bereich seines Lebens steht er im Schatten seines Bruders: Peters Geschichten erscheinen unter Pauls Namen, der als Schriftsteller erfolgreich ist. Peters Leben ist streng strukturiert, recht langweilig und eigentlich zutiefst einsam.

Thommie Bayer hat schon erstaunlich viele Romane geschrieben – von denen ich keinen kannte. Sein Buch Seltene Affären ist wie das Leben seines Protagonisten: Es könnte interessanter sein. Er erzählt von einem, der eigentlich zufrieden ist, irgendwie, der aber weiß: Da wär noch mehr drin gewesen. Er berichtet von einer eingefahrenen, geliebten Routine, die Tag für Tag, Woche für Woche die gleiche ist. Das Einzige, was diese Routine von Protagonist Peter für eine Weile durchbricht, ist seine neue Putzfrau. Er träumt von ihr. Er hinterlässt ihr Schokoladen und seine Geschichten, von denen er hofft, dass sie sie liest. Diese eigentlich kaum nennenswerte Abwechslung von seinem Alltag durchmischt er mit Erinnerungen – an seine Kindheit und Studienzeit, an das eine Mal, als er Anne näherkam. Die Zwillinge verstehen sich gut, sind aber nicht unbedingt besonders eng. Das alles macht aus Seltene Affären ein angenehmes, unspektakuläres Buch, über das es nicht allzu viel zu sagen gibt. Ich habe auf ein Aufbrechen der Ordnung gewartet, auf einen Konflikt, einen Höhepunkt – nichts davon gibt es. Vielleicht bin ich aber auch nur die falsche Zielgruppe für diesen Roman. Richtet sich das Buch an ältere, rührselige Männer, die sich mit Peter identifizieren können? Ich persönlich konnte wenig Griffiges und Greifbares darin finden. Deshalb wird mir auch nur wenig davon in Erinnerung bleiben.

Seltene Affären von Thommie Bayer ist erschienen im Piper Verlag (ISBN 978-3-492-05611-3, 192 Seiten, 18 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

rai„Ist nicht so leicht manchmal, sich damit abzufinden, was man alles nicht kann und wer man alles nicht ist“
Du bist noch jung, und du lebst zurückgezogen an einem wunderschönen Ort: in einem Anwesen über Rayol-Canadel-sur-Mer an der südfranzösischen Mittelmeerküste. Die Villa gehört dir nicht, du bist hier der Housesitter, kümmerst dich um alles, genießt die Stille. Einmal im Jahr kommen die reichen Besitzer, dann lässt du den Pool ein und füllst das Haus mit Blumen, holst sie vom Flughafen ab. Du hast alles im Griff, und niemand kennt dein Geheimnis. Doch als die Inhaber des Luxusanwesens mit Gästen auftauchen, verlierst du Stück für Stück die Kontrolle. Die Ehefrau deines Chefs geht mit dir ins Bett, sein potenzieller Geschäftspartner ist ein Arschloch, und dir ist klar, dass du ihnen gefährlich werden könntest. Denn du wachst oft auf, ohne zu wissen, wo du warst. Oder wer.

Edgar Rai, erfolgreicher Autor und Besitzer einer Berliner Buchhandlung, hat einen Roman in einer ungewöhnlichen Erzählperspektive geschrieben: der zweiten Person Singular. Das gesamte Buch über wird der Leser mit „du“ angesprochen. Das ist ebenso befremdlich wie intensiv – sehr eindringlich und unmittelbar. Es ist wie ein Singsang, der mich einlullt und glauben lässt, ich sei tatsächlich beteiligt an der merkwürdigen, düsteren Handlung, die vorhersehbar und undurchsichtig zugleich ist. Was sind das für Ausfälle, die „du“ immer hast? Was ist das für eine Krankheit, unter der „du“ leidest, was ist die Ursache dafür? Das zu lesen, ist tatsächlich sehr spannend und interessant.

Dass Edgar Rai sich jedoch wirklich für genau die Variante entscheidet, die so offensichtlich ist, nehme ich ihm übel. Das ist enttäuschend. Ich hatte mir eine originelle Wendung gewünscht, ich gebe es offen zu. Auch dass das Ende so abrupt kommt, hat mich negativ überrascht – ein Schnellschuss nach einem langen Vorspiel. Mit „deiner“ Krankheit kenne ich mich zu wenig aus, um die Vorgänge beurteilen zu können, aber es erscheint mir unglaubwürdig, wie alles endet, wie es sich fügt, wie es endet. Kann das tatsächlich sein? Nichtsdestotrotz ist Etwas bleibt immer ein schön beklemmendes, mitreißend konstruiertes und höchst eigenwilliges Buch.

Etwas bleibt immer von Edgar Rai ist erschienen im Berlin Verlag (ISBN 978-3-8270-1304-0, 224 Seiten, 18 Euro).

Bücherwurmloch

fullsizerenderDer Preis ist heiß: Schick uns deinen Roman!
Mit der Auftakt-Pressekonferenz auf der Frankfurter Buchmesse war es soweit: Die Einreichfrist hat begonnen. Ab sofort und bis 31. Dezember könnt ihr eure Manuskripte an uns senden, und zwar über das Formular, das ihr hier findet. Wichtig ist: Der Roman muss schon fertig sein und kein Verlag darf die Rechte daran haben. Ihr müsst über 18 Jahre alt sein, und das Manuskript darf keine Genreliteratur (Fantasy, Thriller, …) sein. Wenn ihr bereits bei einer Agentur unter Vertrag seid, ist das kein Problem. Ihr könnt eure drei Wunschblogs angeben, von denen ihr gern betreut werden möchtet. Wir freuen uns auf eure Meisterwerke!

img_0789

(Auf dem Bild: Die Fachjury mit Denis Scheck, Tobias Nazemi, Elisabeth Ruge, Tom Kraushaar und Lars Birken-Bertsch sowie einige der teilnehmenden Blogger. Der bärtige Hotzenplotz vorne ist Felix Wegener, der die Pressekonferenz moderiert hat.)

Bücherwurmloch

img_07291. Obwohl ich zum allerersten Mal in Frankfurt auf der Messe war, kam es mir gar nicht so vor. Und das war eigentlich das Schönste: An vielen Ständen hat mir, wenn ich vorbeispaziert bin, jemand gewunken, ich hab Leute getroffen, mit denen ich plaudern konnte, überall begegneten mir (zumindest aus dem Netz) bekannte Gesichter. Ich habe in drei Tagen mehr Menschen umarmt als sonst im ganzen Monat. Und wenn ich mich vorgestellt hab als Mareike vom Bücherwurmloch, kam oft ein „Achja, kenn ich“. War wahrscheinlich gelogen, tat aber trotzdem gut.

2. Das ganze Jahr über tausche ich mich mit anderen Bloggern aus, ohne sie je im echten Leben sehen zu können. Die von den großen Verlagen organisierten Bloggeraktionen sind für mich immer zu weit weg. Umso grandioser, all diese Freunde pe
img_0775-1rsönlich treffen zu können: Es war, als würde ich sie alle schon ewig kennen. Und zu manchem Namen, der bisher nur in E-Mails aufgetaucht war, gab es endlich ein Gesicht. Ich war wie immer unverschämt, vulgär und rotzfrech, aber ich bilde mir ein, die mögen mich trotzdem.

3. Ich hab mich nur ein einziges Mal verirrt. Bis zum Abend des ersten Tages hatte ich alles rechtzeitig gefunden, war zu keinem Termin zu spät gekommen, hatte zwar keinen Plan, hielt mich aber souverän daran. Und dann: Als ich auf der Suche nach meiner Jacke war, hat mich eine Infopoint-Trulla nach draußen geschickt mit der Aufforderung, über den Platz und auf der anderen Seite wieder in die Halle reinzugehen. War nur leider alles schon zu. So stand ich bei diversen Glastüren und klopfte an wie ein verstoßenes Kind, bis sich endlich einer der Vorbeihastenden erbarmte und mir öffnete. Es war kalt.

4. Ich habe mit jemandem gesprochen, der Herr Freudenschuß hieß.

img_07675. Ich habe die entzückende Melanie Raabe getroffen, die jeder Mensch auf diesem Planeten lieben muss, weil sie zum Niederknien nett ist. Zwar nur für 27 Sekunden, aber immerhin!

6. Ich habe Frankfurter Grüne Soße gegessen, und warum gibt’s die eigentlich sonst nirgends?

7. Ich hab einen ganzen Nachmittag lang nur gemacht, was ich will. Und zwar in der überraschend heimeligen Frankfurter Innenstadt. Ohne Kinder, die an mir zerren oder nach mir rufen. Dafür mit Apfelkuchen, Buch und neuen Ohrringen. Es war herrlich.

img_0726

8. Ich habe mich wahnsinnig geehrt gefühlt, von den Verlagen so umsorgt zu werden. Die haben sich für mich Zeit genommen, das weiß ich sehr zu schätzen. Am Mittwoch hat Rowohlt für uns Blogger sogar eine exklusive Führung durch die Ausstellung von Ulay in der Schirn organisiert, mit anschließendem fürstlichem Schmaus sowie dem bekannten Messefest. Für Promis ganz normal, für kleine Freelance-Mäuschen wie mich eine große Ehre.

img_0751

9. Ich habe die liebe Susanne Bühler getroffen, die ich so gerne mag. Sie hatte unglaublich tolle silberne Schuhe. Oh, und sie hat gesagt, dass ich sie mit meinen Tweets und Posts zum Lachen bringe. Das war das beste Kompliment ever und hat mich sehr gefreut. Außerdem hat sie mit ihren Kolleginnen ein Bloggertreffen veranstaltet, um uns die Diogenes-Neuheiten vorzustellen. Auf einige davon bin ich schon ziemlich spitz!

10. Ebenso wunderbar: Die Bloggerveranstaltung von KiWi mit Ulrike, bei der die beiden Debütautorinnen Paula Fürstenberg und Nele Pollatschek aus ihren Romanen vorgelesen haben. Auf beide Bücher bin ich schon sehr neugierig.

img_074411. Ich habe Fotos davon gemacht, wie Sophie (Literaturen) und Sarah (Pinkfisch) den sehr freundlichen Tilman Rammstedt angehimmelt haben. Ich kann überhaupt nicht fotografieren. Das hätte ich ihnen vielleicht vorher sagen sollen. Aber so war es viel lustiger.

img_076112. Die Pressekonferenz als Auftakt für den Blogbuster ist richtig gut gelaufen. Die Fachjury auf der Bühne hat sich als souveräne Einheit präsentiert, das Interesse war groß, immerhin eine hat über meinen Witz gelacht (nämlich ich selbst), und Denis Scheck hatte die geilsten Socken: Sie waren orangefarben.

13. Auf der Party von Dumont habe ich getanzt. Und zwar richtig schlimm: zu den Backstreet Boys. Britney Spears. Und Macarena! Wenn solche Musik gespielt wird, hat man ja nur zwei Möglichkeiten: Entweder man flüchtet, oder man haut sich voll rein. Wir (die Klappentexterin, Masuko und ich) haben’s uimg_0752ns so richtig gegeben und abgehottet, bis wir komplett durchgeschwitzt waren. Vor allem auch: die Männer! Tobias Nazemi (Buchrevier), Frank Rudkoffsky (Rudkoffsky) und Thomas Brasch (Braschbuch) haben ihre Tanzbeine schwingen lassen. Das hat so viel Spaß gemacht.Von wegen fade Bücherwürmer!

14. Alles, wirklich alles war noch viel besser als erwartet. Und das passiert im Leben ja eher selten.

15. Ich habe auf der Messe etwas wiedergefunden, das für mich unbezahlbar ist: die Lust zu lesen. Sie war mir, wie ihr vielleicht hier gelesen habt, in den letzten Monaten abhanden gekommen. Alles hat mich gelangweilt. Aber diese Verlage zu besuchen und begeisterten Menschen dabei zuzuhören, wie sie voller Leidenschaft von kommenden Bücher schwärmen, hat mich aufs Neue angestachelt. Und das fühlt sich gerade sehr gut an.

16. So gut, dass ich etwas sehr Ironisches gemacht habe: Nachdem ich auf der Messe jedes einzelne Buch abgelehnt hatte, weil ich nur mit Handgepäck gereist bin, habe ich mir auf dem Flughafen vier Bücher gekauft (und mit Mühe noch in meinen Rucksack gestopft). Haha. Hahaha! Das hat mich selbst sehr amüsiert. Und wahnsinnig gefreut, denn endlich hatte ich wieder Spaß daran, mir Bücher auszusuchen. Das ist neben all den wunderbaren Begegnungen, lustigen Stunden und neuen Inspirationen das Beste, was ich von der Messe mitgebracht habe.

Gut und sättigend: 3 Sterne

prentiss„An der Liebe lässt sich nichts ändern“
Stell dir vor, du siehst ein Gemälde. Darauf: New York. Die Big City, die Stadt der Träume, die niemals schläft. Fünf Figuren stehen in dieser Stadt, zwei im Hintergrund, drei davor. Die beiden im Hintergrund sind eine Mutter und ihr Sohn, leicht verschwommen sind sie, mit undeutlichen Gesichtern, weil sie eigentlich in Argentinien sind – nur einer von ihnen wird nach New York kommen. Widmen wir uns den drei Gestalten vor deinen Augen, schau sie dir genau an. Da ist ein Mann, James, recht gewöhnlich sieht er aus, er ist verheiratet, zurückhaltend, ein bekannter Kunstkritiker der New Yorker Szene. James ist Synästhet, und das macht ihn so gut in seinem Beruf:

„Wenn er Kunst betrachtete oder darüber schrieb, war es, als stünde sein Gehirn in Flammen. Plötzlich wirkte das ganze Universum verfügbar und übersichtlich. Er spürte Windstöße und krabbelnde Ameisen, schmeckte Karamellzucker und starrte in Himmel, die der Sterne würdig waren.“

Auf der anderen Seite des Bildes steht ein weiterer Mann, Raul. Er stammt aus Argentinien und ist Maler, er sieht gut aus, er will es schaffen in New York.

„Manche nannten ihn einen Frauenhelden, wogegen er nichts hatte, weil es stimmte. Allein schon sein Aussehen – warmer Hautton, leicht schrägstehende, umbrabraune Augen, ruhelose Brauen und ein Schopf pechschwarzer Haare – erweckte bei Frauen den Eindruck, dass er ebenso einfühlsam wie ernsthaft war, seine Leidenschaft die negativen Seiten überwiegen würde und er sie mit dem Rammbock seines zwar untersetzen, aber trotzdem irgendwie dominanten Körpers an einen exotischen Ort transportieren würde, von dem sie noch nie gehört hatten.“

Äh, ja. Genau deshalb steht auf unserem Gemälde zwischen den zwei Männern eine Frau. Sie ist erst seit Kurzem in New York, sie heißt Lucy und arbeitet in einer Bar.

„Kurz nach Mitternacht am Silvesterabend, in den ersten Stunden des champagnertrunkenen neuen Jahrzehnts, verliebte sich Lucy Marie Olliason auf den ersten Blick.“

Und damit fängt alles an: das ganze Kuddelmuddel, das ganze Drama.

Tuesday Nights in 1980 von Molly Prentiss, die in New York lebt, ist unglaublich pathetisch. Das ist es, was mich an diesem Roman am meisten erstaunt hat. Pathetisch ist er, dramatisch, voller Mitleid und Selbstmitleid, Schicksalshaftigkeit und Dummheit und Zorn. Molly Prentiss hat eine sehr eindringliche, auch sehr anstrengende Art zu schreiben. Sie will mir manches, so scheint es, so unbedingt in den Kopf hämmern, dass sie sich nicht zurückhalten kann. Über den „Rammbock“aus dem obigen Zitat schmunzle ich zum Beispiel immer noch. James’ Synästhesie gibt der Autorin die Möglichkeit, sich stellenweise ins Geheimnisvolle, Unverständliche kippen zu lassen, wohin ich ihr kaum folgen kann. Sie hat viel Farbe verwendet für ihr Bild, kräftige Pinselstriche, alles überlagert sich, drängt sich auf – ein Kunstwerk, das Aufmerksamkeit verlangt. Gut gelungen ist ihr die sarkastisch angehauchte Darstellung von New Yorks Kunstszene im Jahr 1980 – mit vielen Könnern und Möchtegerns, mit reichen Sammlern und willkürlich entscheidenden Galeristen. Das ist interessant zu lesen, die Geschichte an sich mochte ich sehr gern. Ihre Ausführung hat mich im Großen und Ganzen aber eher ermüdet: Es war einfach zu viel. Zu viel Wollen, zu viel Können, zu viel Rauspressen und Reininterpretieren. Und vor allem zu viel Pathos.

Tuesday Nights in 1980 von Molly Prentiss ist erschienen bei den Ullstein Buchverlagen (ISBN-13 9783471351314, 400 Seiten, 20 Euro).