„Möglicherweise muss man verletzt werden, ehe man überhaupt etwas begreift“
„Niemand, der sich für die Frage interessiert, wo Journalisten ihre Storys herhaben, sollte glauben, dass die Kompassnadel jedes Mal neu ausgerichtet wird. Was sie fasziniert, das ändert sich nicht, nur der Ort, an dem sie es aufspüren.“
Für die Journalisten Yardley und Ward ist dieser Ort im Jahr 1965 eine Kleinstadt in Meat County, Florida, zufällig die Heimat von Ward. Hingelockt hat sie Charlotte Bess, die sich in den inhaftierten Mörder Hillary Van Wetter verliebt hat und seine Freilassung erwirken will. Er soll den Sheriff ermordet und ausgeweidet haben, den Sheriff, der in Ausübung seines Amtes zahlreiche Schwarze umgebracht hat. Yardley und Ward finden schnell heraus, dass Van Wetter ohne haltbare Beweise verurteilt wurde. Sie schreiben ihre Story. Doch das ist noch lange nicht das Ende der Geschichte …
Pete Dexter war selbst 15 Jahre lang Zeitungsreporter und hat sich mit Paperboy an den alten Grundsatz gehalten, über das zu schreiben, was man kennt. Sein Ich-Erzähler ist der Bruder von Journalist Ward und der Sohn eines Zeitungsinhabers. Er hat allerlei Probleme: Seit er von der Uni geflogen ist, kriegt er sein Leben nicht auf die Reihe – und spielt vorerst den Fahrer für Yardley und Ward, die betrunken am Steuer erwischt wurden. Deshalb ist er bei allen Recherchen live dabei – und die liefen in den 60er-Jahren noch sehr viel persönlicher ab als heute. Ohne Google, ohne Mails. Die Beziehung der Brüder zum Vater ist nicht gut, Mutter gibt es keine, aber immerhin nähern die beiden sich durch die Zeit, die sie zusammen verbringen, wieder an. Für den Ich-Erzähler geht es um das eigene sexuelle Erwachen, um das Nachahmen des Erwachsenenlebens, um das Sich-selbst-Finden. Für alle anderen geht es um eine gute Story, aber irgendwie auch um Leben und Tod.
Paperboy ist wild und rau und ungnädig. Sehr geil ist das Ambiente der 60er, es wird geraucht, gesoffen, geflucht, die Arbeit der Journalisten ist seltsam unstrukturiert und frei, sie sonnen sich noch im Glanz ihres Berufsstands, und so mancher, der sich einen Namen gemacht hat, tut einfach, was er will. Frauen sind Magneten, von denen die Männer angezogen, aber auch abgestoßen werden, alle spielen miteinander, umkreisen sich, treffen falsche Entscheidungen. Auch Homosexualität, damals noch stärker tabuisiert als heute, spielt eine entscheidende Rolle. Pete Dexter erzählt in einem coolen Matter-of-fact-Ton, der insofern typisch männlich wirkt, als dass er möglichst distanziert sein will und gerade dadurch etwas sehr Emotionales bekommt. Die Gefühle, über die keiner spricht, schimmern stets durch. Ein düsteres, dunkles, beklemmendes, sehr lesenswertes Buch aus einer Zeit, die erst 50 Jahre her ist – und doch längst vergangen.
Paperboy von Pete Dexter ist erschienen bei Liebeskind (ISBN 978-3-95438-008-4, 320 Seiten, 19,80 Euro). Das Buch wurde mit John Cusack, Matthew McMcConaughey und Nicole Kidman verfilmt.