„Ist nicht so leicht manchmal, sich damit abzufinden, was man alles nicht kann und wer man alles nicht ist“
Du bist noch jung, und du lebst zurückgezogen an einem wunderschönen Ort: in einem Anwesen über Rayol-Canadel-sur-Mer an der südfranzösischen Mittelmeerküste. Die Villa gehört dir nicht, du bist hier der Housesitter, kümmerst dich um alles, genießt die Stille. Einmal im Jahr kommen die reichen Besitzer, dann lässt du den Pool ein und füllst das Haus mit Blumen, holst sie vom Flughafen ab. Du hast alles im Griff, und niemand kennt dein Geheimnis. Doch als die Inhaber des Luxusanwesens mit Gästen auftauchen, verlierst du Stück für Stück die Kontrolle. Die Ehefrau deines Chefs geht mit dir ins Bett, sein potenzieller Geschäftspartner ist ein Arschloch, und dir ist klar, dass du ihnen gefährlich werden könntest. Denn du wachst oft auf, ohne zu wissen, wo du warst. Oder wer.
Edgar Rai, erfolgreicher Autor und Besitzer einer Berliner Buchhandlung, hat einen Roman in einer ungewöhnlichen Erzählperspektive geschrieben: der zweiten Person Singular. Das gesamte Buch über wird der Leser mit „du“ angesprochen. Das ist ebenso befremdlich wie intensiv – sehr eindringlich und unmittelbar. Es ist wie ein Singsang, der mich einlullt und glauben lässt, ich sei tatsächlich beteiligt an der merkwürdigen, düsteren Handlung, die vorhersehbar und undurchsichtig zugleich ist. Was sind das für Ausfälle, die „du“ immer hast? Was ist das für eine Krankheit, unter der „du“ leidest, was ist die Ursache dafür? Das zu lesen, ist tatsächlich sehr spannend und interessant.
Dass Edgar Rai sich jedoch wirklich für genau die Variante entscheidet, die so offensichtlich ist, nehme ich ihm übel. Das ist enttäuschend. Ich hatte mir eine originelle Wendung gewünscht, ich gebe es offen zu. Auch dass das Ende so abrupt kommt, hat mich negativ überrascht – ein Schnellschuss nach einem langen Vorspiel. Mit „deiner“ Krankheit kenne ich mich zu wenig aus, um die Vorgänge beurteilen zu können, aber es erscheint mir unglaubwürdig, wie alles endet, wie es sich fügt, wie es endet. Kann das tatsächlich sein? Nichtsdestotrotz ist Etwas bleibt immer ein schön beklemmendes, mitreißend konstruiertes und höchst eigenwilliges Buch.
Etwas bleibt immer von Edgar Rai ist erschienen im Berlin Verlag (ISBN 978-3-8270-1304-0, 224 Seiten, 18 Euro).