Bücherwurmloch

IMG_7653Nur noch wenige Tage bis zur Entscheidung über die Longlist!
Sieben Manuskripte habe ich zur Gänze angefordert, fünf davon hab ich bereits gelesen … und alle fünf sind wieder ausgeschieden. Das lag in keinem einzigen Fall daran, dass der Autor nicht schreiben kann, absolut nicht. Ich habe alle fünf Geschichten mit großem Interesse gelesen. Da waren Jugendliche dabei, die durch Berlin streunen auf der Suche nach Antworten auf die großen Fragen, da gab es einen Mann, der Visionen hat und sehen kann, ob jemand krank ist oder bald stirbt, ich habe eine Frau kennengelernt, die auf einer Party einen Mann trifft, mit dem sie gern die Nacht verbringen würde, fiele er nicht plötzlich aus dem Fenster, ich habe an mehreren amüsanten Schlendergängen teilgenommen und dem Verfall einer Ehe nach dreißig Jahren zugesehen.

Ich habe jedes Manuskript sehr aufmerksam gelesen, und ja, ich weiß, dass das Rohfassungen sind, die noch Bearbeitung brauchen, ich schreibe selbst, ich kenne meine eigenen Rohfassungen. Doch für den Blogbuster entscheidend ist die Frage: Ist das ein Roman, der zwar noch ein scharfes Lektorat benötigt, ansonsten aber fertig ist? Der funktioniert, durchdacht und stringent ist, mit Handlungssträngen, die zusammenlaufen, mit einem stimmigen Ende? Das war bei all diesen fünf Manuskripten, aus unterschiedlichen Gründen, nicht der Fall. Manches lief ins Leere, anderes war schlicht noch zu unfertig, mit 130 oder 160 knappen Seiten eher die Skizze eines Romans, und es fehlt noch zu viel, um damit ins Rennen zu gehen. Auch das umgekehrte Problem tritt auf, dass ein Entwurf viel zu lang ist, seitenweise Dialoge über Dialoge enthält, dass er um die Hälfte gekürzt werden könnte, weil er noch viel zu erklärend und zu wenig subtil ist.

Ich kenne das Gefühl, wenn man sein Manuskript an jemanden schickt und bangend auf das Urteil wartet, ich kenne es bestens. Deshalb habe ich mir bei jedem Autor Zeit für ein ausführliches Feedback genommen. Mir ist klar, dass es trotzdem hart ist, wenn man gesagt bekommt: Das ist gut, aber noch nicht gut genug. Andererseits bin ich ein Verfechter von konstruktiver Kritik, weil ich glaube, dass sie einen weiterbringt, wenn man das Ego beiseiteschiebt und sich wirklich damit auseinandersetzt. Ich musste selbst schon krasse Rückmeldungen aushalten, und mein Buch ist dadurch besser geworden. Ich bin sehr erleichtert, dass auch meine Autoren durch die Bank positiv reagiert haben: Ich weiß das sehr zu schätzen, habe ich als Antwort bekommen, Ich bedanke mich herzlich für dein Engagement und: Vielen Dank für den angenehmen, freundlichen Kontakt. Darüber freue ich mich vor allem deshalb, weil meine Mails schon sehr direkt waren mit einer konkreten Aufzählung der Kritikpunkte, weil ich, wie ihr wisst, nicht um den heißen Brei herumrede und weil man sowas leicht in den falschen Hals bekommen kann. Deshalb auch von meiner Seite: Vielen Dank an euch fünf, dass ihr cool geblieben seid und so professionell reagiert habt. Ich wünsche euch von Herzen viel Erfolg für eure Projekte, ihr werdet euren Weg machen!

Für mich bedeutet das aber nun, dass ich nur noch zwei verbliebene Manuskripte habe. Die werde ich heute und morgen lesen, dann wird meine Entscheidung fallen, mit welchem Roman ich beim Blogbuster antrete bzw. ob ich überhaupt antrete. Denn ich werde nur mitmachen, wenn mich ein Manuskript tatsächlich völlig überzeugt, wie es letztes Jahr mit Heike Dukens Rabenkinder der Fall war. Drückt mir die Daumen!

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Snacks für zwischendurch

AzzouziFikry El Azzouzi: Wir da draußen
„Man muss mit Stil und Selbstbewusstsein unterwegs sein hier auf der Straße“
Es kann schon mal vorkommen, dass Ayoub zuhause rausfliegt und sich dann die Nacht auf der Straße um die Ohren schlagen muss. Aber zum Glück bleibt er nie lang allein, den anderen Drarries geht es auch so, den Jungs, die aus Maghreb stammen, und sie hängen zusammen im Waschsalon ab oder essen Döner oder suchen eine Frau, der sie ein bisschen Angst machen können. Drei beste Freunde hat Ayoub, den Wichtigtuer Fouad, der ständig seine Muskeln aufpumpen will, den Halbafrikaner Maurice, der bei einem Junkie wohnt, und Kevin, der konvertiert ist, sich Karim nennt und sich noch wahnsinniger aufführt als die echten Drarries.

Meine Freunde und ich haben in diesem zurückgebliebenen Kaff die größte Klappe von allen. Auf alles haben wir eine Antwort. Wir sind die größten Besserwisser. Blitzschnell, scharfsinnig, witzig. Notfalls auch aggressiv. Gespräche sind uns zu mühsam, so als hätten wir das nie gelernt.

Fikry El Azzouzi ist selbst marokkanischer Herkunft und gehört, so heißt es, zu den wichtigsten Stimmen Belgiens. Seine Romane sind politisch, drastisch, authentisch. Das gilt auch für diesen, der hart ist und rau, absurd, verstörend. Er handelt von jungen Männern, die immer irgendwo draufhauen müssen, die gefrustet sind und in einem Zwischenstadium, nicht fremd und auch nicht integriert, voller Hormone, voller Träume. Etwas klischeehaft finde ich die Zuspitzung auf die Radikalisierung, eh, als hätte das halt sein müssen, als fiele all diesen jungen Menschen mit Migrationshintergrund nichts anderes ein, das kam sehr künstlich daher. Ansonsten aber ein lesenswertes, gut gemachtes Buch, das ein Fenster des Verständnisses öffnet bei einem Thema, bei dem die Wogen hochgehen.

Wir da draußen von Fikry El Azzouzi ist als Taschenbuch erschienen bei Dumont (ISBN 978-3-8321-9829-9, 224 Seiten, 10 Euro).

 

FrankArno Frank: So, und jetzt kommst du
Ich hatte so viele begeisterte Stimmen gehört, dass ich dieses Buch einfach lesen musste. Und es hat sich gelohnt, den Empfehlungen zu folgen, denn dieser Roman – nach einer wahren Geschichte, wie betont wird – ist tatsächlich hochgradig faszinierend. Arno Frank erzählt darin von seinem Leben und dem Leben seiner Familie, von seinen Eltern, die mit drei Kindern auf der Flucht vor den Behörden waren, quer durch Europa. Ohne Rücksicht auf die Befindlichkeiten der Kinder, ohne Rücksicht auf die Gefahren, die Entbehrungen. Der Vater ist ein charmanter Schwindler, ein Trickser, ein Betrüger. Der Sohn, als Ich-Erzähler, ist immer wieder aufs Neue überrumpelt von der Art des Vaters, dessen Weisheiten und Sprüchen, die er nur zur Hälfte versteht.

Mein Vater ist eine geologische Gegebenheit. Gemeinsam bilden die Eltern eine Einheit, die sich jeder Frage entzieht – wie man einem Gebirge keine Fragen stellt.

Und doch türmen die Fragen sich mit der Zeit auf, denn bei dem Lebensstil der Eltern reicht das erbeutete Geld nicht lange, die Familie gerät in arge Bedrängnis, und Arno Frank merkt: Um nicht ins Gefängnis zu müssen, würde der Vater alles tun, wirklich alles. Das ist spannend und mitreißend erzählt, immer wieder grüble ich über den Antrieb, der die Eltern dazu bringt, so etwas zu tun, lese mit staunend großen Augen und fürchte mich vor dem Moment des Absturzes, der, so scheint es, unweigerlich kommen muss. Gut gemacht, ich stelle mich in die Reihe jener, die dieses Buch empfehlen!

So, und jetzt kommst du von Arno Frank ist erschienen bei Klett-Cotta (ISBN 978-3-608-50369-2, 352 Seiten, 22 Euro).

 

FlohrMarkus Flohr: Alte Sachen
Rieke trifft durch einen Zufall auf Lior, den geheimnisvollen, dunkelhaarigen Lior aus Israel, es ist Sommer, sie hat gerade Abitur gemacht, sie zieht mit ihrer besten Freundin Iza durch die Clubs, und was die Zukunft bringen soll, das weiß Rieke nicht genau. Das ist der Auftakt dieses Romans, der dann jedoch in eine ganz andere Richtung führt: Wir gehen zurück in die Dreißigerjahre, und jeder weiß, was das bedeutet, es bedeutete Pogrome, Judenverfolgung, Gefahr. Das alles erlebt der junge Otto, der in Selma verliebt ist, die Jüdin Selma, der nicht glauben will, was da geschieht in seiner Heimatstadt. Otto, der Beobachter, selbst kein Jude, aber emotional verstrickt, ein Heranwachsender in einer extremen Zeit. Das ist interessant, natürlich, gut geschrieben ist es auch, nur hätte ich mir mehr Wechsel gewünscht, schnellere Schritte, das Buch wird plötzlich zäh, langatmig, beschwerlich. Was sich zwischen Rieke und Lior abspielt, verkommt zur reinen Rahmenhandlung, wird mit einem Mal abgekanzelt und zu einer reinen Spurensuche umgewidmet, denn dass Otto und Selma etwas zu tun haben mit Liors Vorfahren, das ist schnell klar. Ich habe sehr gekämpft mit diesem Roman, fand ihn stellenweise schön, wollte ihn dann wieder abbrechen, habe letztlich bis zum Ende durchgehalten und habe einen enttäuschten Nachgeschmack behalten. Sehr schön ist aber, das muss ich erwähnen, das Cover mit dem gestickten Etikett in Anlehnung an den Inhalt, denn die Juden, um die es in der Geschichte geht, waren Schneider.

Alte Sachen von Markus Flohr ist erschienen im Rowohlt Verlag (ISBN 978-3-463-40653-4, 496 Seiten, 19,95 Euro).

Snacks für zwischendurch

CanalAnne von Canal: Whiteout
Sie sind drei Kinder, aber sie haben nur einen Schatten, so scheint es, nur eine Seele: Hanna, ihr Bruder und ihre Freundin Fido. Das ist lange her, Hanna ist längst erwachsen, und Fido ist tot. Das erfährt sie, als sie gerade in der Antarktis ist, auf einer anstrengenden, gefährlichen Expedition, die ihr auch ohne dieses Wissen an die Nieren geht. Ein Sturm zieht auf, mit den Bohrungen im Eis gibt es Probleme, und Hanna kann nicht verhindern, dass ihre Gedanken in die Vergangenheit wandern, zurück zu Fido, der Pfarrerstochter, die wild war und anders und besonders. Freundschaft kann wie Liebe sein, kann der Liebe sehr ähnlich sein, einhergehen mit Herzklopfen und Sehnsucht und vor allem: mit einem gebrochenen Herzen. Denn Hanna weiß nicht, was geschehen ist, warum Fido sie eines Tages ohne ein Wort verlassen hat. Anne von Canal ist eine raffinierte Schriftstellerin, eine genaue Beobachterin, die auf den Feinheiten der Sprache spielt wie auf einer Harfe, virtuos, begabt, mit Gefühl. Schon ihr Debüt Der Grund hat mich herausgefordert und beeindruckt. Whiteout ist ebenso gut, ein schmales, kraftvolles, lesenswertes Buch über Freundschaft und Verrat, über Trauer und Ratlosigkeit – und über das endlose Weiß in der Antarktis.

Whiteout von Anne von Canal ist erschienen bei mare (ISBN 78-3-86648-247-0, 192 Seiten, 20 Euro).

 

DorianAda Dorian: Schlick
Mit ihrem Debüt Betrunkene Bäume hat Ada Dorian aufhorchen lassen, und ich habe es nicht gelesen, irgendwie aus Trotz nicht, aus Prinzip nicht, weil alle es hatten. Neugierig war ich dann aber auf ihr aktuelles Buch, das zweite – auch wenn es heißt, die emsige Autorin habe vier Romane in der Pipeline –, das Buch nach dem Hype, das jetzt vielleicht nicht mehr alle haben. Es geht darin um zwei Frauen, die zu unterschiedlichen Zeiten leben, und um das Haus, in dem sie sich aufhalten. Beide sind aus unterschiedlichen Gründen auf sich gestellt, ohne ihre Männer, die eine im Krieg, die andere in der trägen Langeweile des Friedens. Was sie verbindet, ist ein Foto. Svea findet ein Bild in diesem Haus und wird neugierig, will etwas herausfinden über die Familie, die darauf zu sehen ist, über Helene, die hier einst gelebt hat. Helene dagegen, siebzig, achtzig Jahre früher, will nur überleben. Sich selbst und ihre Tochter durchbringen, vergessen, was sie getan hat.

„Mut ist etwas, das sich wie eine Narbe auf einer Wunde bildet. Je tiefer die Wunde, desto wulstiger die Narbe.“

Ada Dorian ist sehr sicher in ihrem Schreiben, gefestigt, unerschütterlich. Ich mag ihre klaren Sätze, die tönen, die aber auch zart sein können. Ich mag auch die unaufgeregte, geradlinige Geschichte. Bestes Zitat:

„Das Leben ist ein Glücksspielautomat. Du wirfst etwas hinein, so lange, bis du etwas gewinnst. Was du dabei verloren hast, ist schnell vergessen.“

 

StancanelliElena Stancanelli: Die nackte Frau
„Keine Beziehung ist besonders. Die Liebe ist nie etwas Besonderes“
Ich bin der Meinung: Das Internet ist noch viel zu wenig präsent in der Literatur, genau wie das Smartphone. In Büchern wird nicht so gestalkt und gechattet und gesurft wie im echten Leben, das finde ich realitätsfern, ein bisschen altbacken, verschämt. Umso interessierter war ich an diesem Buch, denn es handelt von einer Frau, die ihren Freund nicht einfach ziehen lassen kann, die ihn im Internet ausspioniert, seine Accounts hackt, seine Mails und Nachrichten liest, sich selbst fertigmacht mit dem, was sie findet.

„Das war keine Liebesgeschichte mehr zwischen uns, sondern ein psychotischer Apparat, der mich in einem fort erniedrigte.“

Davide hat eine andere, nicht nur eine, und Anna weiß das, doch beiden gelingt es nicht, die Beziehung zu beenden, sie drehen sich in einer Abwärtsspirale. Anna isst nicht mehr, klickt und wischt und sucht, drückt alle drei Minuten auf ihr Handy, um den Punkt der Smartphone-Suche von Davide zu verfolgen.

„Es ist eine Krankheit. Sie hat sogar einen Namen: Anankasmus. Du glaubst nachzudenken, und stattdessen verstrickst du dich immer mehr.“

Sprachlich ist dieses Buch gut, solide, keine Glanzleistung, ein wenig wirr und – typisch italienisch – überzogen, dramatisch, inhaltlich aber sehr interessant, schonungslos und, wie ich finde, wichtig. Denn oft tun wir Menschen Dinge, die wir selbst kaum verstehen, die nicht logisch erscheinen, die furchtbar schmerzen.

Die nackte Frau von Elena Stancanelli ist erschienen im Berlin Verlag (ISBN 978-3-8270-1347-7, 224 Seiten, 18 Euro).

Snacks für zwischendurch

LjubicNicol Ljubić: Ein Mensch brennt
„Im Boxsport heißt es, nur der Schlag, den man nicht kommen sieht, kann einen umhauen“

Hanno ist acht Jahre alt, als Hartmut Gründler als Untermieter ins Haus seiner Eltern einzieht. Gründler, ein unbeugsamer Politkämpfer, einer, der sich engagiert für eine Sache, von der andere nicht einmal ahnen, der Briefe schreibt, Hunderte Briefe, an den Bundeskanzler, an die Presse, ist einer, den niemand so recht ernst nimmt. Außer Hannos Mutter. Sie scheint Hartmuts Stimme als eine Art Weckruf wahrzunehmen.

„Die Geschichte, die ich über Hartmut erzähle, ist eine andere als die, die meine Mutter erzählt hätte.“

Und dann gibt es da noch den Vater, einen dicken, gemütlichen Mann, der gern hätte, dass alles so bleibt, wie es ist, der es nicht brauchen kann, dass seine Frau politische Ideen verfolgt – und sich emanzipiert. Hartmut Gründler hat es wirklich gegeben, und er war tatsächlich ein sehr politischer Mann, der sich, um ein Zeichen zu setzen, selbst verbrannt hat. Dieses Buch widmet Nicol Ljubić ihm wie eine Art Denkmal, das in erster Linie sehr trocken und nüchtern erzählt, was sich abgespielt haben könnte im Leben dieses Mannes, das aber auch davon handelt, wie schnell er vergessen wurde und wie unwichtig sein Zeichen heute scheint. Das ist makaber, traurig, sehr irritierend. Inhaltlich eine gute, interessante Geschichte, eine Chronik, die ich jedoch merkwürdig emotionslos fand, und das, obwohl sie aus der Sicht eines Kindes geschildert wird. Besonders überrascht hat mich das in Hinblick darauf, wie intensiv Nicol Ljubić Buch Meeresstille ist.

Ein Mensch brennt von Nicol Ljubić ist erschienen im dtv (ISBN 978-3-423-28130-0, 336 Seiten, 20 Euro).

 

CamilleriAndrea Camilleri: Berühre mich nicht
Es hat eine Zeit gegeben, da habe ich Krimis verschlungen. Noch nicht mal zwanzig war ich da, ein großer Fan spannender Geschichten, und ja – Camilleri war natürlich ein Muss. Auch wenn ich das Genre heute meide wie eine Katze das Wasser, erinnere ich mich gern an Commissario Montalbano, an den Witz, das gute Essen, die interessanten Fälle. Ich bewundere Camilleri, der 1925 geboren ist, für seine Fähigkeit, sich im hohen Alter, in dem andere längst im wohlverdienten Ruhestand die Füße hochlegen, noch immer neue Geschichten auszudenken. Sein aktuelles Buch handelt von einer Frau, die verschwunden ist, und der talentierte, gewiefte Camilleri erzählt davon ausschließlich durch Gespräche. Keine einzige Beschreibung gibt es in diesem Roman, keine klassische Handlung, sondern Dialoge, Presseausschnitte, Nachrichten, Briefe. Aus diesen kleinen Schnipseln setzt sich die Story zusammen, das Rätsel um die schöne Laura, die mit einem berühmten Schriftsteller verheiratet ist und viele Affären hat, die vielleicht mit einem der Männer durchgebrannt ist oder entführt wurde oder alles nur inszeniert hat, um Aufmerksamkeit für ihr eigenes Buch zu bekommen, das bald erscheinen soll. Ein mit nicht mal 160 Seiten schmaler Roman, sehr gut zu lesen, ein kleines, originelles Highlight in der Flut der ewig gleichen Masse der Kriminalliteratur.

Berühre mich nicht von Andrea Camilleri ist erschienen bei den Hanser Literaturverlagen (ISBN 978-3-312-01034-9, 160 Seiten, 18 Euro).

 

MulitzerThomas Mulitzer: Tau
Das ist ein Buch, in dem ich mir viele Seiten markiert habe, neun an der Zahl, viele Sätze, die gut sind, die klar sind und meisterhaft geformt. Es ist aber auch ein Buch, bei dem ich am Ende denke: echt jetzt, bei dem ich das Gefühl habe, dass wir uns verzettelt und verloren haben, das Buch, der Autor und ich. Da gibt es einen, der zurückgeht in sein Bergdorf, in das Gasthaus seiner Großeltern, das einst Schauplatz war von einem Thomas-Bernhard-Roman, der Schimpf und Schande über das Dorf gebracht hat. Er will was herausfinden über damals, über den Schriftsteller, über das Buch, aber so recht gelingt ihm das nicht, eigentlich gelingt ihm gar nichts so recht, er ist ein ruheloser, unsicherer Mensch, unstrukturiert, leicht abzulenken. „Bis jetzt hatte ich so gut wie nichts erreicht“, sagt er auf Seite 144. Und das ist auch der Ton, das ist auch die Struktur, die den Roman des Österreichers Thomas Mulitzer, der zudem Musiker ist und Texter, bestimmt. Etwas seltsam Ruheloses, Zerfahrenes, das sich nicht recht greifen lässt. Aber die Sätze, die teile ich mit euch:

Das Schreiben besteht ja nicht nur aus dem Hirnwichsen und den Bewegungen der Hand, aus dem ewigen Grübeln, dem Zermartern und Zweifeln, es besteht wirklich nicht nur aus der stolzen Einsamkeit und dem Flüchten in eine Fantasiewelt.

Wenn man in diesem Land geboren wird, hat man naturgemäß eine Affinität zum Dunklen, Feuchten, Modrigen, man strebt nie nach oben, auch wenn es für Außenstehende so aussehen mag, sondern immer nach unten, tief, tief unten, die Leute steigen ja niemals Karriereleitern hoch, sie schürfen an ihrem Fundament und schaufeln ihr Grab, sie stecken ihren Kopf in ein Erdloch und lassen sich in den Arsch ficken.

Oktober ist mein Lieblingsmonat, er zieht verblühten Flieder in die Erde, mischt Gedächtnis und Begierde und tränkt das Land mit spätem Regen.

Österreich, in deinem dunklen Bauch schlummert immer noch der Holocaust.

Am Ende bereitet einem jeder Mensch Kummer.

Ich hab mir die Realität da draußen angeschaut und weiß nicht recht, ob sie mir lieber ist als die Realität in meinen Büchern.

Wenn man ein Buch von ihm gelesen hat, dann hat man alle Bücher von ihm gelesen. Das kann ich bedenkenlos sagen, denn ich habe alle gelesen.

Ich hab gespürt, wie sich mein Schädel ausdehnt, um dem Schmerz irgendwie Platz zu schaffen, aber der Schmerz hat ja nie genug Platz, darum breitet er sich mit der Zeit auf alle Bereiche aus, die er erwischen kann.

Nichts war so tödlich wie die Frauen und der Frost.

Tau von Thomas Mulitzer ist erschienen bei Kremayr & Scheriau (ISBN 978-3-218-01080-1, 288 Seiten, 22,90 Euro).

 

 

Für Gourmets: 5 Sterne

Faye„Der Krieg findet für uns Feinde, ohne dass wir ihn darum gebeten haben“
Das lernt der kleine Gabriel, als plötzlich die Hölle über ihn und alle seine Landsleute hereinbricht. Bis zu dem Zeitpunkt, da der Krieg beginnt, hat er eine wilde, unkontrollierte, schöne Kindheit. Er klaut Mangos mit seinen Freunden, hört mit ihnen Musik, spielt draußen auf der Straße und ist in erster Linie eins: frei.

„In der Zeit davor, bevor das alles passierte, vor dem, was ich erzählen werde, und dem ganzen Rest, war es das Glück, das Leben, das man nicht erklären muss. (…) In der Zeit des Glücks antwortete ich auf die Frage „Wie geht’s?“ immer mit „Gut!“. Einfach so, zack.“

Später wird er das nicht mehr tun. Nie mehr. Denn später, das ist im Bürgerkrieg. Später, das ist während des Abschlachtens von Hutu und Tutsi, während der Massaker, während der Angst. Später weiß Gabriel nicht mehr, wie er jemals unbefangen und glücklich sein konnte. Und er weiß auch nicht, wie er diesem Schlachtfeld von einem Land entkommen soll.

„Wir wussten es noch nicht, aber die Zeit des Infernos war gekommen, und die Nacht ließ das Rudel der Hyänen und Wildhunde los.“

Gabriel hat keine Möglichkeit, zu verstehen, was in Burundi los ist. Warum töten Menschen einander, die gerade noch friedlich miteinander lebten? Was haben Leute wie sein Vater, der aus Frankreich stammt, damit zu tun? Und wie kann er sich fernhalten, sich in Sicherheit bringen?

„Obwohl ich neutral bleiben wollte, gelang es mir nicht. Ich war mit dieser Geschichte geboren. Sie lag mir im Blut. Ich gehörte ihr.“

Das zeigt sich auch, als der erst in der Ferne tobende Krieg näher kommt: Plötzlich ist Gabriels eigene Familie betroffen. Plötzlich werden Menschen ermordet, die ihm etwas bedeuten, und seine Mutter gerät zwischen die Fronten. Plötzlich ist von der Freundschaft, die ihn mit den Nachbarsjungen verband, nichts mehr übrig.

Gaël Faye ist nicht der Erste, der auf die Idee gekommen ist, aus der Sicht eines Kindes vom Krieg zu erzählen, natürlich nicht. Bestimmt fallen jedem von euch auf Anhieb mehrere Romane ein, die so funktionieren. Aber das ist unerheblich. Denn Kleines Land ist trotzdem anders und neu. Und es ist trotzdem sehr, sehr gut. Außerdem hat jede Geschichte, jedes Buch, jeder Roman über den Krieg eine Berechtigung, denn vom Krieg soll und muss erzählt werden, wieder und wieder. Gaël Faye findet dafür einen ganz eigenen Ton, einen leichten, melodischen Ton, durchbrochen von der Tiefsinnigkeit der Retrospektive. Denn er lässt seinen Protagonisten Gabriel, der wohl autobiografisch für den Autor selbst steht, aus der Ferne des Erwachsenenlebens von damals berichten. Dadurch sind wir zwar mit Gabriel in seiner Kindheit, sehen aber alles durch den Filter desjenigen, der viele Jahre später das nötige Wissen hat, das dem Kind einst fehlte. Und wir sehen durch den Filter Europas auf Afrika, aber mit jemandem, dessen Wurzeln dort liegen.

Es gibt keine Worte, um einen Krieg begreiflich zu machen. Aber Gaël Faye findet Worte, die beschreiben, wie zerstörerisch die Kräfte sind, die Menschen entfesseln. Wie schnell das Glück verschwinden kann, als hätte es nie existiert. Er berührt mich sehr mit diesem Roman, mit dieser großen Geschichte über sein kleines Land.

Kleines Land von Gaël Faye ist erschienen im Piper Verlag (ISBN 978-3-492-05838-4, 224 Seiten, 20 Euro).

 

Gut und sättigend: 3 Sterne

Knobelsdorff„Intuition ist die Stimme für unsere Selbst-Bestimmung“
Ich habe schon lange kein Sachbuch mehr gelesen, und als mir dieses ins Haus flatterte, war ich sogleich sehr interessiert: Was hat es mit der menschlichen Intuition auf sich? Was ist sie eigentlich, ein Gefühl, ein Instinkt, wieso kann man sie nicht messen, sichtbar und begreifbar machen?

Céline von Knobelsdorff ist Beraterin, Coach und Trainerin und hat sich aus persönlichem Antrieb mit dem Thema Intuition auseinandergesetzt. Sie hat sich gefragt, woraus Intuition besteht, ob man sie lernen kann, warum sie funktioniert und weshalb so wenig Leute an sie glauben. Dieses Buch beschreibt sozusagen ihren Weg der Erkenntnis, ihre Recherche.

„Wer etwas beherrschen möchte, muss zunächst einmal sich selbst beherrschen“,

schreibt die Autorin, und überhaupt gibt es viele Sätze in diesem Buch, die ich mir unterstreiche, weil sie klug und prägnant sind, weil sie wichtige Gedanken auf den Punkt bringen.

„Wir können bis heute selbst instinktives Verhalten nicht bis ins Letzte logisch erklären, und doch profitieren wir vom Reich instinktiver Lebensformen für unsere eigene Weiterentwicklung. So vieles haben wir uns von der Natur abgeschaut, weil wir als denkende Wesen nicht darauf gekommen sind. Die Libelle als Vorlage für Hubschrauber, Termitenbau als Vorlage für klimatisierte Räume, Haihaut als Vorlage für Folien im Flugzeug- und Bootsbau (…). Wie hat es die Natur ohne Vernunft, ohne Forschung, ohne Analyse, ohne Denken geschafft, diese Wunder hervorzubringen? Alles nur zufällige Anpassung? Und wenn der Zufall zu einer solchen Perfektion mit beigetragen hat, warum nehmen wir ihn dann nicht viel ernster?“

Was ich an diesem Buch gut finde: dass es zum Nachdenken anregt. Dazu, sich zu fragen, wie man es eigentlich mit der eigenen Intuition hält. Ob man ihr vertraut und wenn nein, warum nicht, was für Erfahrungen man damit gemacht hat, wer einem eingeimpft hat, dass nur der Verstand seine Berechtigung hat, nicht aber der Instinkt?

„Ohne unsere Intuition sind wir steuerbare Hüllen, deren Denken und Fühlen von Trends und Angeboten befüllt werden. Ohne Intuition lassen wir uns leichter Bedürfnisse einreden, die wir weder hinterfragen, noch sie dahingehend überprüfen, inwiefern sie uns weiterbringen, gerade wenn sie mit dem Anschluss zur Massendynamik locken.“

Und ist es da nicht eigentlich logisch, dass uns eingeredet werden soll, dass Intuition nichts taugt, dass sie dumm ist, irrational, ja, dass sie gar nicht existiert?

„Wer Intuition verstehen möchte, der braucht in erster Linie eine kräftige Portion Mut, sich auf Erfahrungen und Erlebnisse einzulassen, die ihm zunächst vielleicht völlig unverständlich sind.“

Und ist das etwas, das man aufbringen will? Ich weiß es nicht – auch nach der Lektüre nicht. Denn ich glaube sehr wohl an die Intuition, absolut. An das, was wir Bauchgefühl nennen, eine Verbindung. Die Autorin zeigt, ohne ins Esoterische abzurutschen, was an Intuition gut und wichtig ist, und gibt am Ende Beispiele und Tipps, wie man ein intuitiver Mensch werden kann. Ein Ratgeber ist dieses Buch jedoch keiner – man lernt damit nicht, intuitiv zu werden. Deshalb steht für mich am Ende eine Erkenntnis, die ich eigentlich schon zuvor hatte und die die Lage perfekt auf den Punkt bringt:

„Dass Intuition mal funktioniert und mal nicht, liegt nicht an ihrem launenhaften Wesen, sondern an unserem unbeholfenen Umgang mit ihr.“

Intuition für Rationalisten. Mehr Wissen für Mutige von Céline von Knobelsdorff ist erschienen bei tredition (ISBN 978-3-7439-1723-1, 240 Seiten, 14,50 Euro).

Bücherwurmloch

Bildschirmfoto 2017-10-22 um 14.03.57Was ist eigentlich los beim Blogbuster? Allerhand, Leute! Die Einreichfrist ist vorbei, jetzt geht es ans Eingemachte. Erst mal vielen Dank an alle, die mir ihre Leseproben haben zukommen lassen, ich danke euch vor allem für euer Vertrauen. Ich habe eure Werke sorgfältig gelesen und mich dann entschieden. Das Gute ist: Wer durch meinen Filter gefallen ist, ist noch lange nicht raus. Wir haben einen Pool, in den wir solche Leseproben legen und auf den alle Blogger zugreifen können. Das bedeutet: Was mich nicht ganz überzeugt hat, bekommt vielleicht bei einem anderen Blogger eine wohlverdiente Chance. Im letzten Jahr waren da durchaus Kandidaten dabei, die es dann auf die Shortlist geschafft haben.

Sieben Manuskripte haben mich neugierig gemacht und ich habe die Autoren gebeten, mir die guten Stücke zu schicken, denn die Leseprobe umfasst ja nur 30 Seiten. Nun möchte ich sehen: Hält der Roman, was der Anfang verspricht? Trägt die Geschichte über all die Seiten? Und fügen sich die Fäden am Ende zusammen? Sieben Manuskripte werden demnach in den nächsten Wochen von mir auf Herz und Nieren geprüft, bis Ende Februar muss mein Favorit feststehen.

Ganz unterschiedliche Geschichten sind es auch diesmal: Ich habe ein Kind, das bei einem Unfall stirbt, und das ist eigentlich ein No-Go für mich, weil ich sowas nicht ertrage, aber es ist so gut geschrieben, dass ich dem Roman trotzdem eine Chance geben wollte. Ich habe auch Heiteres, Komisches, von dem ich noch nicht recht weiß, wo es hinführt, ich habe ein Buch, das zugleich ein Theaterstück ist, außerdem habe ich crackrauchende Hühner und eine Frau, die ihre Stasi-Akte anfordert und eifersüchtig ist, weil ihre Schwester mit jenem Mann zusammen ist, den sie selbst einst verlassen hat. Ich sag euch was: Das wird sehr, sehr spannend!

Ich freu mich außerordentlich auf die Lektüre und werde berichten.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Ceci„Ist nicht alles im Leben nur Vorwand?“

„Washi bedeutet: Papier des Friedens und der Harmonie.“

Mit Papier kennt er sich aus, denn seit Jahrzehnten widmet er sich seiner Herstellung: Kurogiku, den alle Herr Origami nennen, lebt in der Toskana, in einer Ruine, allein. Eigentlich kam er von Japan nach Italien auf der Suche nach einer Frau, jener Frau, in die er verliebt war. Das ist lange her. Jetzt ist er alt, doch das macht nichts, denn er lebt im Jetzt, jeden Augenblick. Und das Jetzt besteht daraus, Papier zu machen, schönes, edles, wertvolles Papier, das für Origami verwendet werden kann. Als der junge Uhrmacher Caspari zu Kurogiku geschickt wird, weil er einen Unterschlupf braucht, reden sie nicht viel miteinander und erzählen einander doch das Wichtigste. Das, worauf es im Leben ankommt.

Mach mal langsam, sagt dieses Buch, ich mach es ja auch. Jean-Marc Ceci, ein Autor, der interessanterweise gar kein Japaner ist, sondern Italiener und Belgier, hat einen Roman aus lauter Miniaturen geschrieben. Mut zum Weißraum sagt man bei uns in der Werbung, in der Grafik, und daran hat auch er sich gehalten: Sehr viel von dem Papier, das dieses Buch enthält, ist nicht beschrieben. Manchmal stehen nur wenige Zeilen auf einer Seite. Das kommt einem als Leser dann freilich auch Japanisch vor, sieht es doch irgendwie aus wie ein Haiku, stilvoll, schlicht. Garniert wird das Ganze von japanischen Schriftzeichen. Und die wecken eine alte Sehnsucht in mir: Als ich Anfang zwanzig war, hab ich versucht, Japanisch zu lernen – und bin grandios gescheitert. Ich hab an der Uni einen Sprachkurs besucht und zuhause stundenlang die Schriftzeichen geübt. Doch der Kurs, eineinhalb Stunden die Woche, war zu wenig, am Ende konnte ich nur ein paar Sätze, meinen Namen schreiben und eine Handvoll Zeichen lesen, meine Pflichtveranstaltungen kamen mir in die Quere, und ich trauere bis heute, weil ich diese faszinierende Sprache nicht beherrsche.

Umso schöner war es für mich, mit diesem Buch mal wieder einen Ausflug ins Japanische zu machen. Noch dazu einen so entspannten: Wenn ihr relaxed ins neue Jahr starten möchtet, ist Herr Origami genau das Richtige für euch. Denn die Entschleunigung stellt sich beim Lesen ganz automatisch ein. Mit seiner Art, sich auf das Essenzielle zu beschränken, gibt Jean-Marc Ceci den wenigen Worten, die er verwendet, mehr Gewicht. Alles wirkt bedeutsam. Das ist natürlich einerseits fast schon ein billiger Trick, andererseits sehr angenehm, weil man nicht so viel ablenkendes Blabla ertragen muss. Qualität vor Quantität? Ja, absolut. Handlung gibt es, das versteht sich von selbst, dadurch auch nicht viel. Und das fand ich in diesem Fall regelrecht erholsam und wohltuend: Das ist ein Buch, das sich und anderen nichts beweisen muss. Nicht mit langen, anstrengenden Sätzen, nicht mit bemühten Wortspielen, nicht mit ach so kreativen Metaphern. Mut zum Weißraum hat der Autor, Mut zu einer ungewöhnlichen Herangehensweise auch. Sehr schön, sehr empfehlenswert.

Herr Origami von Jean-Marc Ceci ist erschienen bei Hoffmann & Campe (ISBN 978-3-455-00151-8, 18 Euro, 160 Seiten).

Bücherwurmloch

IMG_6877Dunkelgrün fast schwarz: Mein Roman, wie er entstand und warum das Lesen für das Schreiben so wichtig ist
Kennt ihr diese Blogposts, in denen Leute euch erzählen, dass ihr nicht aufgeben und eure Träume verfolgen sollt? Die mit #dreamscometrue und #motivation und #nevergiveup? Nerven die euch auch so wie mich? Sehr gut. Das hier ist nämlich so einer. Denn 2018 erfüllt sich für mich ein Traum, und zwar DER Traum meines Lebens. Davon möchte ich euch in diesem sehr persönlichen Ausnahme-Blogpost erzählen. Aber keine Sorge: Um ein Buch geht es auch. Um mein eigenes…

Ihr müsst euch das so vorstellen: Ich bin ein wandelndes Klischee. Als ich acht Jahre alt war, hab ich Michael Endes Unendliche Geschichte gelesen und mit ihm eine Welt betreten, die ich seither nicht mehr verlassen habe, nicht mal für einen Tag, und ich habe auch nie aufgehört, über sie zu staunen: DAS kann man mit Wörtern machen, das kann man erfinden, sich ausdenken, schreiben, kreieren? Ich will das auch. Ich habe unter der Bettdecke gelesen, mit einer Taschenlampe, und mir ganz klassisch die Augen ruiniert – ich bekam eine dicke Brille mit rosafarbener Fassung. Ich habe angefangen, Bücher zu fressen: Die fünf Freunde, Hanni und Nanni, die Knickerbockerbande. Und ich habe angefangen, selbst zu schreiben. In der Volksschule gab es einen Ordner mit ersten Sätzen für Geschichten – da konnten die Schüler, die mit den Aufgaben fertig waren, sich was aussuchen und sich was ausdenken. Irgendwann hab ich den Ordner mit nachhause genommen, außer mir hat sich eh niemand dafür interessiert.

Im Gymnasium sagte die Deutschlehrerin zu mir, ich dürfe nicht so viel schreiben bei der Schularbeit, sie habe keine Lust, das alles zu korrigieren. Aber es war eben schwer, aufzuhören, wenn die Fantasie erst mal losgelassen war. Meine Geschichten waren wild und krude und ohne rechten Sinn, doch das Schöne daran war: Das war mir egal, ich war ja noch ein Kind. Das alles wurde nicht bewertet, noch nicht. Ich schrieb Theaterstücke und Drehbücher für meine Freunde und mich, die wir nachspielten. Und als ich dreizehn war, begann ich mit meinem ersten Buch. Ich tippte es auf der Schreibmaschine und weiß noch heute, wie sich dieses Klappern angehört hat. Mit welch heiligem Stolz ich an die Sache heranging. Das Buch hieß Lena Katzenauge.

Als ich fünfzehn war, mussten wir in der Schule einen englischen Roman lesen und darüber ein Referat halten. Ich wählte The God of small things von Arundhati Roy, und rückblickend kann ich sagen, dass dieses Buch mein Leben in eine ganz bestimmte Richtung geführt hat: Mit ihm wurde ich ein „richtiger“ Leser. Vergessen waren die Kinder- und Jugendbücher, die mich bis dahin begeistert hatten, ich entdeckte die Welt der Literatur. Ich schrieb seitenweise Sätze aus Arundhati Roys Roman ab und kaufte ihn mir von meinem Taschengeld auf Deutsch, um ihn in meiner Sprache nochmal zu lesen. Er verwirrte mich, wühlte mich auf, erschütterte mich. Und das ist es bis heute, was ich von Literatur will. Ich war angefixt, ich brauchte mehr. Ich las Javier Marias, John Irving, Imre Kertesz, José Saramago, meine ersten Erwachsenenbücher. Das Lesen prägt mein Leben. Ich kann mir nicht vorstellen, nicht zu lesen, ich wäre einsam und leer und desorientiert ohne die Literatur.

IMG_6876Immer schwang dabei der Versuch mit, durch das Lesen auch das Schreiben zu ergründen. Wie wird aus Worten Poesie? Wie transportiert man Humor, Sarkasmus, wie legt man Traurigkeit und Melancholie in Sätze? Durch das Lesen bin ich nicht nur als Mensch gewachsen und als Persönlichkeit gereift. Ich bin auch zur Autorin geworden. Denn wenn man etwas lernen will, hilft es immer, sich anzusehen, wie das die Besten machen. Und es dann zu üben. Dieses Üben ist eine Sache für sich: Niemand kann die vielen Stunden zählen, in denen ich um Worte gerungen habe. Niemand kann die schlechten Gedichte zählen, die ich verfasst habe. Die Romananfänge, die in Schubladen verschwunden sind. Und niemand die schiere Menge der Zweifel. Jetzt war ich kein Kind mehr, und die schöne Naivität, die Sicherheit, dass es gut war, was ich da tat, waren weg. Die Realität hatte mich fest im Griff. Was sollte ich tun? Wie konnte ich Schriftstellerin werden, wie davon leben? Wen würde mein Geschreibsel interessieren, wer sollte es veröffentlichen wollen, wer sollte es lesen wollen? Inzwischen wusste ich, dass das alles nicht so einfach war. Und dass es Tausende gab wie mich, die denselben Traum hatten – der nie in Erfüllung ging.

Mein Weg war klar, es musste etwas mit Sprache sein: Ich studierte Linguistik, ging nach München, wollte Lektorin werden, mit Büchern arbeiten. Doch nur das Geschriebene von anderen zu überarbeiten, war mir bald zu wenig, und so absolvierte ich das Textcollege, sammelte Erfahrung in einer Werbeagentur und machte mich als Texterin und Lektorin selbstständig. Mittlerweile bin ich seit zehn Jahren als Texterin, Konzeptionistin und freie Lektorin erfolgreich. Ich schreibe alles, was man schreiben kann, Headlines, Claims, Webtexte, Imagefolder, Treatments für Filme, Magazinartikel, Interviews, PR- und Pressetexte. Das brachte nicht nur das benötigte Geld, es war ebenfalls Übung. Wie schärft man den eigenen Stil? Wie bringt man etwas auf den Punkt, wie hört man auf zu schwafeln? Wie kann man den Leser neugierig machen, ihn reizen, ihn ködern? Ich lernte das, indem ich mich damit beschäftigte. 10.000 Stunden, heißt es in diesen elendigen Selbstmotivationsbüchern, müsse man etwas machen, um es zu beherrschen. Es ist sehr mühsam, besser zu werden. Und man lernt nie aus.

Das war Plan B, und er ging auf. Plan A habe ich aber nie vergessen: Ich wollte einen Roman schreiben. Ich probierte es auch, doch jede einzelne Idee versandete. Ich versuchte mich an einem Krimi, das war nicht meine Welt. Ich schrieb Liebessachen, die mir dann zu seicht waren. Ich versuchte es mit Drama, Melancholie, nichts funktionierte. Ich gab nicht auf. Aber ich produzierte ganz einfach viel Scheiße. Und ich war zum Glück klug genug, zu erkennen, dass das Scheiße war, und sie niemandem zu schicken.

Als mich 2012 der Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag fragte, ob ich ein Buch machen wolle, sagte ich zu, ohne zu wissen, wie mir das gelingen sollte. Ausgerechnet ein Frauenroman? Halleluja, ich las sowas ja nicht mal. Doch siehe da: Ich konnte das. Manche nennen den Roman heute meine Jugendsünde, aber ich geniere mich nicht dafür, er ist gut für sein Genre. Und ich weiß, wie wichtig es war, dass ich dieses Buch geschrieben habe. Denn als ich dann endlich an dem einen Roman saß, an dem, der es werden sollte, dem, der aus mir herausbrach, gab es viele Momente, in denen ich kurz davor war, alles hinzuschmeißen. Du schaffst das nicht, dachte ich, das ist einfach zu viel. Du kannst nicht arbeiten, Kinder haben, ein Buch fertigschreiben, du wirst scheitern, es wird in der Schublade bleiben wie alle anderen. Und dann sagte eine kleine Stimme: Nein. Schau doch, es gibt bereits ein Buch von dir. Du hast schon mal durchgehalten. Und weil dieser Beweis existierte, gelang es mir, weiterzumachen.

IMG_6882Im Herbst 2015 habe ich eine Szene beobachtet, die der Ursprung für alles war. Ich war auf dem Spielplatz und sah ein vierjähriges Kind, das von der Rutsche herunterkam und im Schwung seiner Bewegung mit voller Absicht brutal auf seinen Babybruder trat. Das Kind schaute mich an und wusste, dass ich alles bemerkt hatte. Ich kannte das Kind. Es war ein sogenanntes Arschlochkind. Ich sagte nichts, ich stand nur da, das Kind sah mich an und grinste. Dieser Moment hat mich nicht mehr losgelassen. Jedes Mal, wenn ich meine Sportrunde auf dem Berg absolvierte, dachte ich darüber nach. Das war die einzige Zeit, in der ich nichts anderes tun oder planen oder organisieren musste. Ich lief durch den Wald und fragte mich: Warum sind manche Kinder so, woher kommt das? Liegt das an den Eltern oder ist es angeboren? Und was wird aus ihnen, wenn sie erwachsen sind? Plötzlich formulierte sich eine fiktive Antwort auf diese Frage. Plötzlich tauchten Figuren in meiner Vorstellung auf, plötzlich entstand eine Geschichte. Ich habe eigentlich den gesamten Roman dort oben auf dem Berg geschrieben, im Wald. In meinem Kopf.

Ich hatte nicht viel Zeit, mich hinzusetzen und alles aus meinem Kopf auf Papier zu bringen, ich hatte zwei kleine Kinder, den Arsch voller Aufträge und jeden Tag sieben Millionen Dinge zu erledigen. Aber die Geschichte ging nicht wieder weg, sie machte sich breit und wurde immer mächtiger. Denn mit dem Schreiben ist es so: Man kann nicht darüber bestimmen, man kann es nicht verdrängen, nicht loswerden, nicht abschütteln. Daran musste ich denken, als Tobias Nazemi im Buchrevier (sehr amüsante) Gründe aufgelistet hat, warum er froh ist, kein Schriftsteller zu sein. Das mit dem Schreiben ist etwas, das man sich nicht aussucht, sondern vielmehr etwas, das man nicht verhindern kann. Ich habe nicht viel geschlafen. Ich habe geplottet, ein Storyboard entwickelt, nach den Stimmen der Figuren gesucht, geschrieben, umgeschrieben, neu geschrieben, mit Caterina Kirsten die beste Agentin gefunden. Und ich wusste: Mareike, jetzt oder nie.

Ich habe durchgebissen. Das war nicht immer leicht. Manche Szenen flutschten nur so, andere habe ich mir förmlich aus den Rippen geschnitten. Ich habe von diesem Buch geträumt. Ich habe beim Schreiben geweint. Ich habe mit diesen Figuren gelebt, sie in mein Herz gelassen, mich aufgerieben zwischen dem, was ich jeden Tag tun musste, und dem, was ich tun wollte, nämlich weiterschreiben. Manchmal hatte ich nur zwei, drei Stunden nebe all meinen anderen Pflichten, und ich musste auf Knopfdruck funktionieren. Aber das Gute an dem Weg, den ich gegangen bin, ist: Ich konnte das. Durch das Texten weiß ich, wie man von einer Sekunde auf die andere kreativ ist, durch die Kinder wusste ich, wie man überlebt, ohne zu schlafen. Alles, was ich gelernt und erlebt habe, alles, was ich gelesen und aufgesaugt und erfahren habe, hat sich in mir angesammelt und ich habe es destilliert. Denn auch wenn es zusammengenommen sechs Monate gedauert hat, diesen Roman fertigzustellen, habe ich in Wahrheit zwanzig lange Jahre darauf hingearbeitet. Und das bedeutet im Gegenzug auch: So sehr die Ungeduld mich gequält hat, ich hätte dieses Buch nicht früher schreiben können.

Und nun ist es fertig. Am 5. März 2018 erscheint Dunkelgrün fast schwarz bei der Frankfurter Verlagsanstalt – einem Verlag, den ich schon so lange kenne und schätze. Ich bin wahnsinnig stolz, dass ich mich neben die wunderbaren FVA-Autoren einreihen darf, allen voran Nino Haratischwili und Ruth Cerha, die ich seit Jahren verehre, und ich bin dankbar für die Wertschätzung und den Rückhalt, den ich von Joachim Unseld, Nadya Hartmann und Anne Michaelis erfahren habe. Sie haben sich mit viel Leidenschaft und Fingerspitzengefühl für diesen Roman eingesetzt und mich von Anfang an spüren lassen, dass sie genauso für diese Geschichte brennen wie ich.

IMG_6910Und dann hab ich das Päckchen mit dem Leseexemplar bekommen. Ich hab es aufgemacht und das Buch erst mal nur angeschaut. Ich hatte Gänsehaut. „Hej du“, hab ich mir gedacht, „ich hab mein ganzes Leben auf dich gewartet.“ Und das war nicht einmal übertrieben. Voller Ehrfurcht hab ich es aufgemacht und das schöne Vorsatzpapier gestreichelt, die Seiten vorsichtig umgeblättert, den einen oder anderen Satz gelesen und mich gefreut, ihn da zu finden, an dieser Stelle – in einem echten Buch.

Warum ich euch das alles erzählt habe? Weil ich mir wünsche, dass ihr an euch glaubt. An euer besonderes Talent, an euren Traum. Ganz egal, worin er besteht. Dass ihr, wenn die Angst sich meldet, wenn die Zweifel euch würgen, ruft: Fuck you, fear! Und einfach weitermacht. Weil es niemanden gibt, der euch daran hindern kann, etwas zu erreichen, außer euch selbst. Manchmal kommt man nicht auf direktem Weg dorthin, wo man hinwill, und das macht nichts. Denn jeder längere Weg bringt Erfahrungen mit sich, die euch nützen werden. Und vor allem zeigt jeder zurückgelegte Meter, dass ihr stark seid und mutig. Das neue Jahr wird euch viele neue Chancen bringen. Euch vor Herausforderungen stellen, manche Türen schließen und andere öffnen. Hinter einer davon wartet mein Buch! 😉 Und übrigens: #dreamscometrue #motivation #nevergiveup