Anne von Canal: Whiteout
Sie sind drei Kinder, aber sie haben nur einen Schatten, so scheint es, nur eine Seele: Hanna, ihr Bruder und ihre Freundin Fido. Das ist lange her, Hanna ist längst erwachsen, und Fido ist tot. Das erfährt sie, als sie gerade in der Antarktis ist, auf einer anstrengenden, gefährlichen Expedition, die ihr auch ohne dieses Wissen an die Nieren geht. Ein Sturm zieht auf, mit den Bohrungen im Eis gibt es Probleme, und Hanna kann nicht verhindern, dass ihre Gedanken in die Vergangenheit wandern, zurück zu Fido, der Pfarrerstochter, die wild war und anders und besonders. Freundschaft kann wie Liebe sein, kann der Liebe sehr ähnlich sein, einhergehen mit Herzklopfen und Sehnsucht und vor allem: mit einem gebrochenen Herzen. Denn Hanna weiß nicht, was geschehen ist, warum Fido sie eines Tages ohne ein Wort verlassen hat. Anne von Canal ist eine raffinierte Schriftstellerin, eine genaue Beobachterin, die auf den Feinheiten der Sprache spielt wie auf einer Harfe, virtuos, begabt, mit Gefühl. Schon ihr Debüt Der Grund hat mich herausgefordert und beeindruckt. Whiteout ist ebenso gut, ein schmales, kraftvolles, lesenswertes Buch über Freundschaft und Verrat, über Trauer und Ratlosigkeit – und über das endlose Weiß in der Antarktis.
Whiteout von Anne von Canal ist erschienen bei mare (ISBN 78-3-86648-247-0, 192 Seiten, 20 Euro).
Ada Dorian: Schlick
Mit ihrem Debüt Betrunkene Bäume hat Ada Dorian aufhorchen lassen, und ich habe es nicht gelesen, irgendwie aus Trotz nicht, aus Prinzip nicht, weil alle es hatten. Neugierig war ich dann aber auf ihr aktuelles Buch, das zweite – auch wenn es heißt, die emsige Autorin habe vier Romane in der Pipeline –, das Buch nach dem Hype, das jetzt vielleicht nicht mehr alle haben. Es geht darin um zwei Frauen, die zu unterschiedlichen Zeiten leben, und um das Haus, in dem sie sich aufhalten. Beide sind aus unterschiedlichen Gründen auf sich gestellt, ohne ihre Männer, die eine im Krieg, die andere in der trägen Langeweile des Friedens. Was sie verbindet, ist ein Foto. Svea findet ein Bild in diesem Haus und wird neugierig, will etwas herausfinden über die Familie, die darauf zu sehen ist, über Helene, die hier einst gelebt hat. Helene dagegen, siebzig, achtzig Jahre früher, will nur überleben. Sich selbst und ihre Tochter durchbringen, vergessen, was sie getan hat.
„Mut ist etwas, das sich wie eine Narbe auf einer Wunde bildet. Je tiefer die Wunde, desto wulstiger die Narbe.“
Ada Dorian ist sehr sicher in ihrem Schreiben, gefestigt, unerschütterlich. Ich mag ihre klaren Sätze, die tönen, die aber auch zart sein können. Ich mag auch die unaufgeregte, geradlinige Geschichte. Bestes Zitat:
„Das Leben ist ein Glücksspielautomat. Du wirfst etwas hinein, so lange, bis du etwas gewinnst. Was du dabei verloren hast, ist schnell vergessen.“
Elena Stancanelli: Die nackte Frau
„Keine Beziehung ist besonders. Die Liebe ist nie etwas Besonderes“
Ich bin der Meinung: Das Internet ist noch viel zu wenig präsent in der Literatur, genau wie das Smartphone. In Büchern wird nicht so gestalkt und gechattet und gesurft wie im echten Leben, das finde ich realitätsfern, ein bisschen altbacken, verschämt. Umso interessierter war ich an diesem Buch, denn es handelt von einer Frau, die ihren Freund nicht einfach ziehen lassen kann, die ihn im Internet ausspioniert, seine Accounts hackt, seine Mails und Nachrichten liest, sich selbst fertigmacht mit dem, was sie findet.
„Das war keine Liebesgeschichte mehr zwischen uns, sondern ein psychotischer Apparat, der mich in einem fort erniedrigte.“
Davide hat eine andere, nicht nur eine, und Anna weiß das, doch beiden gelingt es nicht, die Beziehung zu beenden, sie drehen sich in einer Abwärtsspirale. Anna isst nicht mehr, klickt und wischt und sucht, drückt alle drei Minuten auf ihr Handy, um den Punkt der Smartphone-Suche von Davide zu verfolgen.
„Es ist eine Krankheit. Sie hat sogar einen Namen: Anankasmus. Du glaubst nachzudenken, und stattdessen verstrickst du dich immer mehr.“
Sprachlich ist dieses Buch gut, solide, keine Glanzleistung, ein wenig wirr und – typisch italienisch – überzogen, dramatisch, inhaltlich aber sehr interessant, schonungslos und, wie ich finde, wichtig. Denn oft tun wir Menschen Dinge, die wir selbst kaum verstehen, die nicht logisch erscheinen, die furchtbar schmerzen.
Die nackte Frau von Elena Stancanelli ist erschienen im Berlin Verlag (ISBN 978-3-8270-1347-7, 224 Seiten, 18 Euro).
Mir hat “White Out” ebenfalls sehr gut gefallen, nicht nur weil ich Geschichten, die im ewigen Eis spielen, so spannend finden. “Schlick” würde ich sehr gern lesen, weil ich “Betrunkene Bäume” wunderbar fand, vor allem die Grundidee der Geschichte. Viele Grüße
Zu beiden Büchern hab ich grad kürzlich wieder einige negative Stimmen gehört … aber ich war zufrieden damit 😊