Fikry El Azzouzi: Wir da draußen
„Man muss mit Stil und Selbstbewusstsein unterwegs sein hier auf der Straße“
Es kann schon mal vorkommen, dass Ayoub zuhause rausfliegt und sich dann die Nacht auf der Straße um die Ohren schlagen muss. Aber zum Glück bleibt er nie lang allein, den anderen Drarries geht es auch so, den Jungs, die aus Maghreb stammen, und sie hängen zusammen im Waschsalon ab oder essen Döner oder suchen eine Frau, der sie ein bisschen Angst machen können. Drei beste Freunde hat Ayoub, den Wichtigtuer Fouad, der ständig seine Muskeln aufpumpen will, den Halbafrikaner Maurice, der bei einem Junkie wohnt, und Kevin, der konvertiert ist, sich Karim nennt und sich noch wahnsinniger aufführt als die echten Drarries.
Meine Freunde und ich haben in diesem zurückgebliebenen Kaff die größte Klappe von allen. Auf alles haben wir eine Antwort. Wir sind die größten Besserwisser. Blitzschnell, scharfsinnig, witzig. Notfalls auch aggressiv. Gespräche sind uns zu mühsam, so als hätten wir das nie gelernt.
Fikry El Azzouzi ist selbst marokkanischer Herkunft und gehört, so heißt es, zu den wichtigsten Stimmen Belgiens. Seine Romane sind politisch, drastisch, authentisch. Das gilt auch für diesen, der hart ist und rau, absurd, verstörend. Er handelt von jungen Männern, die immer irgendwo draufhauen müssen, die gefrustet sind und in einem Zwischenstadium, nicht fremd und auch nicht integriert, voller Hormone, voller Träume. Etwas klischeehaft finde ich die Zuspitzung auf die Radikalisierung, eh, als hätte das halt sein müssen, als fiele all diesen jungen Menschen mit Migrationshintergrund nichts anderes ein, das kam sehr künstlich daher. Ansonsten aber ein lesenswertes, gut gemachtes Buch, das ein Fenster des Verständnisses öffnet bei einem Thema, bei dem die Wogen hochgehen.
Wir da draußen von Fikry El Azzouzi ist als Taschenbuch erschienen bei Dumont (ISBN 978-3-8321-9829-9, 224 Seiten, 10 Euro).
Arno Frank: So, und jetzt kommst du
Ich hatte so viele begeisterte Stimmen gehört, dass ich dieses Buch einfach lesen musste. Und es hat sich gelohnt, den Empfehlungen zu folgen, denn dieser Roman – nach einer wahren Geschichte, wie betont wird – ist tatsächlich hochgradig faszinierend. Arno Frank erzählt darin von seinem Leben und dem Leben seiner Familie, von seinen Eltern, die mit drei Kindern auf der Flucht vor den Behörden waren, quer durch Europa. Ohne Rücksicht auf die Befindlichkeiten der Kinder, ohne Rücksicht auf die Gefahren, die Entbehrungen. Der Vater ist ein charmanter Schwindler, ein Trickser, ein Betrüger. Der Sohn, als Ich-Erzähler, ist immer wieder aufs Neue überrumpelt von der Art des Vaters, dessen Weisheiten und Sprüchen, die er nur zur Hälfte versteht.
Mein Vater ist eine geologische Gegebenheit. Gemeinsam bilden die Eltern eine Einheit, die sich jeder Frage entzieht – wie man einem Gebirge keine Fragen stellt.
Und doch türmen die Fragen sich mit der Zeit auf, denn bei dem Lebensstil der Eltern reicht das erbeutete Geld nicht lange, die Familie gerät in arge Bedrängnis, und Arno Frank merkt: Um nicht ins Gefängnis zu müssen, würde der Vater alles tun, wirklich alles. Das ist spannend und mitreißend erzählt, immer wieder grüble ich über den Antrieb, der die Eltern dazu bringt, so etwas zu tun, lese mit staunend großen Augen und fürchte mich vor dem Moment des Absturzes, der, so scheint es, unweigerlich kommen muss. Gut gemacht, ich stelle mich in die Reihe jener, die dieses Buch empfehlen!
So, und jetzt kommst du von Arno Frank ist erschienen bei Klett-Cotta (ISBN 978-3-608-50369-2, 352 Seiten, 22 Euro).
Markus Flohr: Alte Sachen
Rieke trifft durch einen Zufall auf Lior, den geheimnisvollen, dunkelhaarigen Lior aus Israel, es ist Sommer, sie hat gerade Abitur gemacht, sie zieht mit ihrer besten Freundin Iza durch die Clubs, und was die Zukunft bringen soll, das weiß Rieke nicht genau. Das ist der Auftakt dieses Romans, der dann jedoch in eine ganz andere Richtung führt: Wir gehen zurück in die Dreißigerjahre, und jeder weiß, was das bedeutet, es bedeutete Pogrome, Judenverfolgung, Gefahr. Das alles erlebt der junge Otto, der in Selma verliebt ist, die Jüdin Selma, der nicht glauben will, was da geschieht in seiner Heimatstadt. Otto, der Beobachter, selbst kein Jude, aber emotional verstrickt, ein Heranwachsender in einer extremen Zeit. Das ist interessant, natürlich, gut geschrieben ist es auch, nur hätte ich mir mehr Wechsel gewünscht, schnellere Schritte, das Buch wird plötzlich zäh, langatmig, beschwerlich. Was sich zwischen Rieke und Lior abspielt, verkommt zur reinen Rahmenhandlung, wird mit einem Mal abgekanzelt und zu einer reinen Spurensuche umgewidmet, denn dass Otto und Selma etwas zu tun haben mit Liors Vorfahren, das ist schnell klar. Ich habe sehr gekämpft mit diesem Roman, fand ihn stellenweise schön, wollte ihn dann wieder abbrechen, habe letztlich bis zum Ende durchgehalten und habe einen enttäuschten Nachgeschmack behalten. Sehr schön ist aber, das muss ich erwähnen, das Cover mit dem gestickten Etikett in Anlehnung an den Inhalt, denn die Juden, um die es in der Geschichte geht, waren Schneider.
Alte Sachen von Markus Flohr ist erschienen im Rowohlt Verlag (ISBN 978-3-463-40653-4, 496 Seiten, 19,95 Euro).
Hach, da bin ich froh, dass du Grantlerin den Arno auch gut findest. 😉
Liebe Grüße
Marc
Grantlerin, pff. Ja, doch, sehr!
War aber lieb gemeint, weißt 😊
Eh!
Das Zitat von Arno Frank klingt schon sehr vielversprechend! Wenn das der Stil der ganzen Buchs ist, könnte ich mich mit dieser Erzählerstimme bestimmt anfreunden 🙂 Die anderen Figuren, vor allem der Vater, klingen auch spannend!
Es ist wirklich schräg und eigenartig, vor allem, weil man ja weiß, dass da einer sein echtes Leben erzählt. Manchmal kann man gar nicht glauben, dass ihm sowas wirklich passiert ist …