Bücherwurmloch

„Die Reue macht die Dinge schwer, gleichzeitig einzigartig“
Stella hadert mit ihrem Leben, nicht viel, nur ein bisschen, gerade genug, dass das große Glück außer Reichweite scheint. Jason hat sie im Flugzeug kennengelernt, er hat ihre Hand gehalten und nun sind sie zusammen, sie haben ein nettes Haus, die gemeinsame Tochter Ava ist süß. Stella arbeitet als Altenpflegerin und ist nicht zufriedener oder unzufriedener als andere. Jason ist oft beruflich unterwegs, und dann haben die beiden Mädels ihre Routine. Die jäh unterbrochen wird: Vor der Tür steht ein Mann mit dem unglaublich dämlichen Namen Mister Pfister. Er wolle mit Stella reden, sagt er, und sie verweigert es ihm. Von da an kommt er jeden Tag, klingelt, legt einen Brief oder eine Karte in den Postkasten und geht wieder. Es bedeutet vielleicht nichts und ist dennoch beunruhigend, es wirft Stella aus der Bahn. Sie erzählt Jason davon, der typisch männlich-aggressiv reagiert. Es beginnt mit einem Finger auf einem Klingelknopf – und es eskaliert.

Judith Hermann ist bekannt für ihre klare, kräftige Sprache, die leise und vorsichtig daherkommt und dabei langsam Fahrt aufnimmt. In diesem schmalen Band sammelt sie Holz für ein Feuer, sammelt Worte für ein fulminantes Ende, sammelt Gefühle für ein Überkochen. Die Erzählung ist seltsam verstörend, nicht spannend, nicht thrillermäßig, sie hat keinen Drive und keine Krimi-Elemente, aber man folgt ihr trotzdem aufgeregt und nervös. Es ist klar: Da wird etwas geschehen. Da ist etwas nicht in der Norm, und das kann nicht gutgehen. Nicht alles, was die Protagonisten tun und empfinden, ist für mich nachvollziehbar, und irgendwie wirkt das Buch auf mich wie eine Studie: Wenn ich einen Mann erfinde, der täglich zum Haus einer Frau geht und ihr eine Botschaft hinterlässt, wann knallt es – und in welcher Form? Als wären Mister Pfisters Briefe die Tropfen der chinesischen Wasserfolter. Und Stella, ja, die ist doch sowieso nicht ganz zurechnungsfähig, die ist doch eh nicht im Gleichgewicht, das war sie nie, bisschen frustrierte Hausfrau, bisschen unglückliche Mutter – die perfekte Kombination, um eine kleine Vorstadtbombe zu zünden. Missverständlich ist allein der Titel: Eine Liebe ist das letzte, was hier anfängt.

Aller Liebe Anfang von Judith Hermann ist als Taschenbuch erschienen bei S. Fischer (ISBN 978-3-596-19641-8, 224 Seiten, 9,99 Euro).

Bücherwurmloch

„Um zu hassen, müsste man erst mal wissen, worauf es ankommt“
Britta und Badak sind schon seit ewigen Zeiten Freunde, und nicht nur das: Gemeinsam haben sie eine Agentur gegründet. Niemand weiß, was die beiden dort treiben, und das soll auch so bleiben – denn im Geheimen betreiben sie ein ebenso ungewöhnliches wie lukratives Geschäft mit dem Tod. Britta ist eine abgeklärte Frau, sie hat einen Mann und ein Kind und keine Illusionen. Es geht ihr gut. Ihre Geschäftsidee setzen sie und Badak ohne Skrupel um, sie verlassen sich auf ihr ausgeklügeltes System, Geld ist genug vorhanden, und sie führen ein süßes kleines Spießbürgerleben.

„Auf die Frage, wie es ihr gelinge, in der heutigen Zeit immer so fröhlich zu sein, hat Janina einmal geantwortet: Ich genieße es in vollen Zügen, dass mich die allermeisten Dinge nichts angehen.“

Bis plötzlich die Konkurrenz auf den Plan tritt. Jemand, der auch ein Stück vom Kuchen will – oder am liebsten den ganzen Kuchen. Und der dabei vor nichts zurückschreckt.

„Globalisierung bedeutet, nirgendwohin fliehen zu können. Weil alles immer schon überall ist. Da wird Selbstmord zum letzten Notausgang.“

Leere Herzen von Juli Zeh ist ein wirklich gut gemachter Unterhaltungsroman, der vor allem von seiner originellen Idee lebt. Die Agentur, die Britta und Badak haben, ist das Herzstück dieser Geschichte, und so abwegig das alles vielleicht klingt – so glaubwürdig ist es gleichzeitig. Gut möglich, dass es Menschen gibt, die tatsächlich auf diese Weise viel Geld verdienen, ich kann es mir vorstellen. Juli Zeh kann ausgezeichnet schreiben, in diesem Fall liegt das Gewicht aber nicht auf ihrer Sprache. Das muss es auch nicht, weil das Buch von seiner Handlung angetrieben wird, vom Inhalt, von der Story – und ihrer Entwicklung. Das ist spannend, mit klugen Wendungen und einem absolut gelungenen Ende. Ich habe Leere Herzen im Urlaub gelesen, und dafür war das Buch ideal: flüssig und schnell zu lesen, nichts zu Hochtrabendes, aber auch nicht zu seicht. Am meisten mochte ich Brittas sarkastischen Ton, ihre allgemeine Abneigung gegen Menschen, ihren rabenschwarzen Blick auf das Leben. Perfekt für alle, die sich auf gutem Niveau unterhalten lassen wollen.

„Aber vielleicht ist Britta mit ihrem Nihilistenstolz auch nur ein Dinosaurier, der sich für den Größten hält, während er ausstirbt.“

Leere Herzen von Juli Zeh ist erschienen bei Luchterhand (ISBN 978-3-630-87523-1, 352 Seiten, 20 Euro).

Bücherwurmloch

Eine Liebe durch die Jahrzehnte
„Ich warte nie auf jemanden, schon gar nicht auf einen wie dich“, dieser Satz gehört zu den ersten Worten, die Louise an Léon richtet. Das ist noch während des Ersten Weltkriegs, im französischen Umland, wo sie einander kennenlernen – Léon arbeitet am Bahnhof, Louise für den Bürgermeister, während die Front immer näher rückt. Das wird ihnen zum Verhängnis, denn kaum haben sie sich verliebt, reißt ein Angriff sie auseinander und sie finden sich viele Jahre lang nicht wieder. Erst als Léon in Paris lebt, längst verheiratet ist und Kinder hat, trifft er unvermutet auf Louise, die er tot geglaubt hat. Und damit geht etwas weiter, das man nicht Beziehung nennen kann, auch nicht Freundschaft oder Affäre, vielmehr ist es eine lebenslange Verbundenheit, eine Liebe, die nicht verschwindet – nicht im Zweiten Weltkrieg, nicht durch Distanz, nicht durch Kontaktlosigkeit, einfach gar nicht.

So viel habe ich bereits über Alex Capus gehört, so oft wurde mir von ihm vorgeschwärmt – und nie habe ich etwas von ihm gelesen. Jetzt, wo ich Léon und Louise kenne, frage ich mich: Warum bitte nicht? Das ist perfekte Wohlfühlliteratur auf annehmbarem Niveau. Das ist schön und süß und grade so bitter, dass man ein bisschen weinen muss, aber auch versöhnlich genug, dass man glücklich ist am Ende. Das ist so ein Hach-Seufzer-Buch, ein Ach-wie-wunderbar-Buch, ein charmantes, entzückendes Buch. Besonders, weil der Ich-Erzähler der Autor selbst ist und Léon und Louise seine Großeltern sind. Was könnte es Tragischeres und Bewegenderes geben als zwei Liebende, die nicht zueinanderfinden können, weil die äußeren Umstände es verhindern? Das ist der Stoff von vielen Geschichten der Weltliteratur ebenso wie von SAT1-Schnülzchen. Viele Leute haben mir geschrieben, dass sie dieses Buch lieben, und hej, ihr, ich gehöre jetzt zu euch.

Léon und Louise von Alex Capus ist als Taschenbuch erschienen bei dtv (ISBN ISBN 978-3-423-14128-4, 320 Seiten, 10,90 Euro).

Für Gourmets: 5 Sterne

„Wenn das Grauen an dich glaubt, kannst du nichts dagegen tun“
Alles beginnt mit einer Aufnahme, die Seth eines Tages in New York macht, er fängt eine Stimme ein, einen Sänger, den er gar nicht gesehen hat, und gemeinsam mit seinem Freund Carter filtert er den Gesang heraus. Die beiden sind in der Branche bekannt für ihren einzigartigen Sound, sie können alles so klingen lassen, als sei es alt, sehr alt – der schwerreiche Carter sammelt wertvolle Bluesplatten, Seth ist ein Computerfreak, sie kennen sich vom College.

„Klar, ich hörte die ganze Zeit Bluesmusik, aber dass ich diese alten Songs so mochte, diese geisterhaften Stimmen, die aus der Vergangenheit zu mir sprachen, lag unter anderem daran, dass ich in ihnen Zuflucht vor der Welt suchte.“

Doch als sie den geheimnisvollen Bluesgesang veröffentlichen, geraten sie plötzlich in einen Strudel höchst seltsamer Ereignisse: Carter verschwindet, und für Seth, der ihn sucht, verschwimmen Gegenwart und Vergangenheit immer mehr, er weiß nicht mehr, was real ist und was nicht. Wird er verfolgt? Ist ihm ein rachsüchtiger Geist auf den Fersen? Blutrünstige Morde, Rassismus und ein New York, das es auf diese Weise schon sehr lange nicht mehr gibt: Davon handelt dieser unglaublich spannende Roman von Hari Kunzru.

„Ich habe das Gefühl, nicht mehr Herr über mein Leben zu sein. Nichts von dem, was ich tue, kann mich in meinem Innersten berühren. Meine Erinnerungen sind ein Geflecht aus verschwörerischen Verbindungen. Alles ist schon passiert.“

Über JEDEN Thriller wird gesagt, dass man ihn „atemlos“ lese und er „eine Sogwirkung“ besitze, deshalb sind diese Formulierungen extrem abgelutscht, aber Leute: Ich hab dieses Buch inhaliert, ich war sowas von gefesselt, ich war ernsthaft angefixt, und das passiert mir fast nie. Ich wollte lesen, lesen, lesen. Was für eine abstruse, gespenstische, großartige Geschichte! Zuerst denkt man, es gehe um diese beiden Freunde, die ein Tonstudio betreiben, obwohl sie so unterschiedlich sind, dann merkt man: Es geht um Musik, um Klänge, um Sound. Und plötzlich ist da diese Wut. Eine alte, tiefe, begründete Wut – die die beiden Jungs unabsichtlich entfesseln. Auf einmal tun sich Schichten auf, mit denen man nicht gerechnet hat, Abgründe, die nach Blut und Moder riechen: Rassismus, Sklaverei, Ausbeutung, Gewalt. Hari Kunzru erzählt nicht mehr linear, lässt alles zerfließen und vermischt irreale mit realen Elementen – es ist unmöglich, dieses Buch einzuordnen. Es ist kein Krimi, kein Thriller, kein reiner Roadmovie, es ist alles davon und doch viel mehr, das macht es so unglaublich bemerkenswert. Und so gut!

White Tears von Hari Kunzru ist erschienen bei Liebeskind (ISBN 978-3-95438-078-7, 352 Seiten, 22 Euro).

Für Gourmets: 5 Sterne

„Diese Auffassung hatte etwas Verführerisches für mich: schnell lieben, heftig und flüchtig. Ich war nicht in dem Alter, dem Treue etwas bedeutet. Rendezvous, Küsse, schließlich der Überdruss, das war alles, was ich von der Liebe wusste“
Denn Cécile ist erst siebzehn in jenem Sommer, den sie mit ihrem Vater an der Küste verbringt, in einem Haus am Meer. Dass sie durch die Prüfungen gefallen ist, kümmert sie nicht weiter, lieber geht sie segeln mit Cyril und vertreibt sich die Zeit mit allerlei Amüsements.

„Und wir sagten uns Liebesworte, die am Abend so süß klangen und die ich am nächsten Morgen vergessen hatte.“

Vater Raymond ist ein charmanter Casanova, seine Freundin, die er mitgebracht hat in den Urlaub, kaum älter als seine Tochter. Doch dann stößt die schöne Anne, eine Freundin von Céciles verstorbener Mutter, zu der heiteren kleinen Gesellschaft an der Côte d’Azur.

„Anne war nicht boshaft. Ich spürte, dass sie ganz und gar gleichgültig war, ihre Urteile besaßen nicht die Präzision, die Schärfe der Bosheit. Umso niederschmetternder waren sie.“

Plötzlich hat es ein Ende mit dem leichten Leben, es drohen Ernsthaftigkeit, Lernen und Sesshaftbleiben, denn Raymond trennt sich von dem Mädchen und wendet sich der Frau zu: Er möchte Anne heiraten.

„Um innerlich ruhig zu sein, brauchten mein Vater und ich äußerlichen Trubel. Und das würde Anne nicht zulassen können.“

Cécile mag Anne. Sie bewundert sie, sie hatte nie eine Mutter. Und doch geht es ihr gegen den Strich, dass sie umgemodelt werden soll, dass der Vater ihr entzogen wird, und sie beschließt, dass sie dagegen vorgehen muss. Sie beschließt es mit der Naivität und Grausamkeit jener, die jung sind – und setzt einen perfiden Plan in die Tat um.

Ein Buch, das so bekannt ist, dass sein Titel ein geflügeltes Wort geworden ist. Eine Geschichte, von der man wieder und wieder hört. Und die ich dennoch bisher nicht gelesen hatte. Als Bonjour tristesse mir letztens in einer Buchhandlung in die Hände fiel, habe ich sofort zugegriffen und gewusst: Jetzt aber. Dieser Klassiker ist mein. Und dann habe ich ihn innerhalb von zwei Tagen weggelesen mit vor Erstaunen aufgerissenen Augen, großem Interesse und dem vorherrschenden Gedanken: Verdammt, ist das gut. Es ist wirklich so gut, wie der Erfolg glauben macht. Und es hat sogar heute noch eine enorme Wirkung, obwohl es seinem zeitlichen Kontext, in dem es wie eine Bombe hochgegangen sein muss, enthoben ist. Sehr lesenswert ist in diesem Zusammenhang das kluge Nachwort von Sibylle Berg, das in dieser Ausgabe enthalten ist – sie zeigt, wie und warum Sagan damals Staub aufgewirbelt hat und auch, wie es der Autorin später erging. Ein kluges Buch mit mehr Lebensweisheit, als man einer Neunzehnjährigen zutraut, mit Sätzen und Einsichten für die Ewigkeit – Chapeau.

Bonjour Tristesse von Françoise Sagan ist als Taschenbuch erschienen bei Ullstein (ISBN 9783548290836, 176 Seiten, 12 Euro).

Bücherwurmloch

„St. Pauli ist eine riesige Melkmaschine!“

„Weißt du, Wolli, der Loddel, der ist die Hure der Huren, zumindest sollte er das sein. Er ist für seine Hure da, wenn sie ihn braucht, er beschützt sie, er erwartet sie, wenn sie von der Arbeit kommt, und er lebt von ihrem Geld. Er braucht selber nichts zu tun, aber er ist auch vollkommen abhängig.“

Wolli ist skeptisch, denn zum Loddel ist er eher zufällig geworden: Er hat sich in Maulwurf verliebt, und Maulwurf geht eben anschaffen. Überhaupt ist Wolli in das Meiste einfach so reingeraten – nach Jahren auf Wanderschaft und in beschissenen Jobs ist er in den Fünfzigern nach St. Pauli gekommen und hat erst einmal Fuß fassen müssen in dieser eingeschworenen Gemeinschaft, die sogar eine eigene Sprache hat. Aber er ist jung und flink und gewitzt, deshalb gelingt es ihm, Arbeit hinter dem Tresen zu finden und später sogar selbst eine Bar zu übernehmen. Er weiß, wie man die Leute unterhält, sie zum Trinken bringt, und auch wenn er von dieser Band, die stets in Hamburg spielt und von der alle angetan sind, nichts hält, weil aus den Beatles seiner Meinung nach sowieso nichts wird, beweist Wolli den richtigen Riecher.

„Ganz langsam dringt St. Pauli in Wolli ein, durchdringt sein Wesen und Handeln und füllt jede Pore in ihm aus.“

Rocko Schamoni hat ein wahnsinnig unterhaltsames Buch geschrieben über Wolfgang Köhler, genannt Wolli, der 2017 gestorben ist und mit dem er gut befreundet war. Nicht alles glaube ich ihm, ich bin sicher, dass er seinen Wolli mit Samthandschuhen angefasst hat und der garantiert nicht so unbedarft war, wie der Roman ihn darstellt – als jemand, der immer nur zusieht und nicht zuhaut, der immer nur ohne es zu wollen irgendwo reingerät, bringt man es in einer Dreckskaschemme wie St. Pauli nicht so weit, wie Wolli es gebracht hat. Nichtsdestotrotz habe ich mich mit diesem Buch wunderbar amüsiert, es ist leicht und witzig und nimmt den Leser an die Hand, um ihn durch die Gassen des damaligen Vergnügungsviertels zu führen – und zwar dorthin, wohin der normale Tourist nicht kommt. Das flutscht beim Lesen, der Ton stimmt, schönes Level, viele Schmunzler durch die Referenzen auf das Zeitgeschehen. Vom abrupten Ende war ich erst vor den Kopf gestoßen, bis Buchexperte Florian Valerius mir gesagt hat, dass es einen weiteren Teil geben wird. Jetzt bin ich versöhnt und freu mich sogar drauf, mehr über Wolli zu erfahren.

„Wenn es eine Kiezregel gibt, dann die, sich nicht lumpen zu lassen. Geiz ist Todsünde Nummer eins. Geiz ist Kleinheit, Geiz ist Schwäche, Geiz ist Jämmerlichkeit. Jede Mark, die zu viel ausgegeben wird, ist eine Provokation des Schicksals, Sicherheit ist der Tod.“

Große Freiheit von Rocko Schamoni ist erschienen bei hanserblau (ISBN 978-3-446-26256-0, 288 Seiten, 20 Euro).

Bücherwurmloch

„Zwischen morgens und abends kann jemandem, den man liebt, so viel passieren“
Katsuro ist ertrunken. Er war der beste Karpfenfischer im Dorf Shimae, und deshalb durften seine Karpfen sogar an den Kaiserlichen Hof in Heian-kyo: Das war nicht nur eine große Ehre, sondern auch finanziell wichtig für alle Dorfbewohner. Doch am meisten trifft Katsuros Tod seine Frau Miyuki, die ihn sehr geliebt hat. Sie mochte seinen Geruch, seine Haut, sein Geschlecht, sie hat gern für ihn gekocht und gesorgt, und dass er fort ist, reißt ein gewaltiges Loch in ihr Leben. Die letzten Karpfen, die Katsuro dem Fluss gestohlen hat, soll sie nach Heian-kyo bringen – in der Hoffnung, dass der Kaiser ihr noch einmal genug Geld für das Dorf gibt. Und so macht Miyuki sich mit zwei Reusen auf ihren Schultern auf einen ebenso weiten wie beschwerlichen und vor allem gefährlichen Weg, auf dem Stürme und Wegelagerer, Piraten und Wassermangel sie jederzeit das Leben kosten können.

Zwölf Jahre hat Didier Decoin an diesem Buch geschrieben, zwölf Jahre hat er recherchiert und gearbeitet und gesucht. Das merkt man dem Roman an, er ist akribisch und detailliert und lässt eine Epoche Japans aufleben, die fremd und faszinierend zugleich ist: ein ungezähmtes, ungestümes Land, gebeutelt von Überschwemmungen und Erdbeben, voller räuberischer Banden und zeremonieller Rituale. Der französische Autor bleibt dicht an seiner Protagonistin Miyuki, erkundet ihren Körper, ihre Gefühle, ihre Liebe und ihren Geruch, den ganz besonders – selten habe ich ein Buch gelesen, in dem Düfte derart stark thematisiert werden. Das ist interessant bis ekelerregend, und so wartet Das Ministerium der Gärten und Teiche auch mit höchst kuriosen Sexszenen auf, die mir, ich gebe es zu, regelrecht Übelkeit verursacht haben. Am meisten mochte ich an diesem Roman, dass er mich in eine Zeit katapultiert hat, in der ich eine geradezu obsessive Liebe zu allem Japanischen gehegt habe: An der Uni habe ich versucht, Japanisch zu lernen, ich hab mich in Kalligraphie geübt und viel über dieses Land und seine Kultur gelesen, auch belletristische Werke, die mich in ihren Bann gezogen haben. Mit Decoins Buch ist das zum ersten Mal wieder geschehen und ich habe mich an dieses besondere Gefühl erinnert, wenn man so begeistert von etwas ist. Wer sich also für Japan im Mittelalter interessiert und einmal eine wahrhaft ungewöhnliche Geschichte lesen will, ist hiermit sehr gut beraten!

Das Ministerium der Gärten und Teiche von Didier Decoin ist erschienen bei Klett-Cotta (ISBN 978-3-608-96237-6, 348 Seiten, 22 Euro).

Für Gourmets: 5 Sterne

„Unter der glatten Oberfläche des Vertrauten wartet etwas anderes darauf, die Welt in Stücke zu reißen“

„Das Zusammenleben mit ihm war, als betrachte man das Meer. Jeden Tag hatte es eine andere Farbe, waren die schaumbedeckten Wellen unterschiedlich hoch, aber es zog mit der immer gleichen rastlosen Stärke in Richtung Horizont.“

Das sagt Circe über Odysseus, und damit sind wir gleich bei der Stärke dieses Buchs: Es erzählt die Sagen, die wir kennen, aus der Sicht einer Frau. Endlich hat jemand diesen Stoff, diesen mythischen, uralten, in Tausenden Unterrichtsstunden durchgekauten Stoff genommen, umgedreht, von der anderen Seite beleuchtet – und dadurch so zum Strahlen gebracht, dass das golden glänzende Cover mehr als nur passend ist. Ich bin durch dieses Buch geflogen wie im Rausch, denn ich konnte – und obwohl ich so viel lese, geschieht das nur selten – nicht aufhören, mich nicht lösen, ich wollte wissen, wie es weitergeht. Und das ist umso kurioser, weil ich es ja eigentlich sowieso WUSSTE, weil ich sie kenne, die Geschichten von Odysseus und Athene, von Hermes und Poseidon und Zeus und Medea, ich kenne sie alle und gut: In der Schule waren es mir die liebsten Stunden, in denen uns die Lateinlehrerin einfach nur die alten Mythen vorlas. Umso großartiger war es jetzt, dank Madeline Miller zu ihnen zurückzukehren, und mehr als das: Sie besser kennenzulernen, sie klarer zu sehen – durch die Augen einer Frau. Denn alle diese Heldensagen handeln von Männern, erheben Männer, lobpreisen Männer, und sämtliche Ehefrauen und Nymphen sind nichts als Ablenkung, Spieleinsatz, Beute.

„Als Bräute wurden Nymphen bezeichnet, aber das war es nicht, was die Welt in uns sah. Wir waren ein nie enden wollendes Festmahl, dargeboten auf einem Tisch, wunderschön und sich ständig erneuernd. Und so furchtbar schlecht im Weglaufen.“

Female empowerment ist ein Schlagwort der Stunde, und das hat einen Grund: Es fehlen die Heldinnensagen. Es fehlen die Gefühle von Penelope, als Odysseus nach zwanzig Jahren zurückkam und ein anderer war. Es fehlt der Blick auf die Beweggründe der weiblichen Figuren, der Fokus liegt stets nur auf den Kerlen. Strophen über Strophen wird gesungen über ihren Mut und ihre Muskeln, Kampf und Krieg. Aber ganz ehrlich? Ich bin Circeist viel interessanter. Es nimmt all die Mythen und fügt Emotionen dazu, die endlich einmal nicht von Testosteron durchzogen sind. Sondern von Mitgefühl und Voraussicht, von Ehrlichkeit, Angst und Weisheit. Female empowerment plus griechische Mythologie – das ist eine großartige, wahnsinnig schlaue Kombination, und deshalb MÜSST IHR DIESES BUCH LESEN. Lasst euch becircen!

„Wir sind hier. So fühlt es sich an, wenn man in der Flut schwimmt, wenn man auf dem Antlitz der Erde wandert und spürt, wie sie unsere Füße berührt. So fühlt es sich an, wenn man lebt.“

Ich bin Circe von Madeline Miller ist erschienen im Eisele Verlag (ISBN 9783961610686, 528 Seiten, 24 Euro), hervorragend übersetzt von Frauke Brodd.

Bücherwurmloch

Bei Dunkelgrün fast schwarz habe ich berichtet über diesen Entstehungsprozess, über das Schreiben und Scheitern und das Hoffen, das sich insgesamt über zwanzig Jahre gezogen hat. Ich habe damals lange überlegt, ob ich das überhaupt auf dem Blog veröffentlichen soll, aber dann habe ich gedacht, dass es andere vielleicht inspiriert, ihnen zeigt, dass es lohnt, durchzuhalten und weiterzumachen, einfach weiterzumachen – und plötzlich war dieser Beitrag mein meistgelesener Post.

Heute erscheint der neue Roman, und es ist das zweite Buch, wir wissen alle, dass das heikel ist, sprechen wir es halt mal aus. Beim zweiten gilt’s. Da zeigt sich, ob du nur zufällig kurz ein bisserl gehyped warst oder ob du doch was kannst. Angeblich ist das zweite auch das schwierigste Buch, aber Leute, ganz ehrlich? Jedes Buch ist das schwierigste. Jedes Buch ist neu und verwirrend und man weiß nicht, wie sich das alles zusammenfügen soll, wie man sich durch diese Stunden und Stunden des Schreibens hangeln soll, ohne aufzugeben, wie man die Worte finden soll und die Kraft.

Ich habe Das Licht ist hier viel heller zum Großteil im Jahr 2017 geschrieben, und die Geschichte hat sich parallel zum Zeitgeschehen entwickelt. Wegen all dieser Dinge, über die vorher zu wenig gesprochen wurde, die immer verschwiegen wurden. Wegen des Aufschreis und der Wut und der vielen, vielen Stimmen, die plötzlich laut wurden. Und als ich das habe einfließen lassen, hab ich Angst bekommen. Das wird mir um die Ohren fliegen, hab ich gedacht, das ist zu schonungslos, zu entlarvend, zu arg. Und genau aus diesem Grund, genau wegen der Angst und wegen meinem Wunsch, lieber zu schweigen, habe ich mich entschlossen, mit dieser Geschichte zu gehen, mit Marlen und Zoey. Denn diese Furcht ist so in uns hineingeprügelt und hineinerzogen worden, dass sie unser gesamtes Handeln und Denken bestimmt und wir uns nicht trauen, den Mund aufzumachen.

Es ist „nur“ ein Buch, ich weiß das. Aber wenn es diesem Buch gelingt, bei einer Handvoll Lesern etwas zu bewirken, ein Nachdenken, ein Umdenken, ein Wütendwerden, ein So-nicht-mehr-Gefühl, dann ist das schon viel. Dann ist das alles, was ich mir wünsche. Erwartet also bitte keine Wohlfühlkuschellesezeit. Erwartet Zynismus und Biss und Witz und Traurigkeit und Bitterkeit. Ich weiß nicht, was diesem Roman und mir blüht und ob man unsanft mit uns umgehen wird, aber ich weiß: Es ist gut, dass ich ihn geschrieben habe. Weil Schluss sein muss damit, dass über diese Dinge geschwiegen wird.

 

Für Gourmets: 5 Sterne

„Unser Dorf hat tausend Augen, die sehen alles, alles, alles“

„Unser Dorf hat Nasen, die riechen sich bis in deine Seele, schnuppern das letzte Geheimnis aus dir heraus. Und was die Augen nicht sehen und die Nasen nicht riechen, das hören die Ohren.“

Und deshalb wissen sie alles von ihr, der Namenlosen, der Eselshure, der Ausgesetzten, deren Schritte verfolgt werden mit Spott und Spucke und Tritten – sie wohnt beim Bethaus-Vater, der sie aufgenommen hat als Baby, und ein Entkommen gibt es nicht, denn das Dorf ist auf einer Insel. Wohin könnte sie gehen überhaupt, sie, die nicht lesen kann, die nichts weiß vom Leben, weil das Lernen den Männern vorbehalten ist, die die Gesetze machen und über alles bestimmen, alles, sie, die nicht einmal weiß, woher sie kommt? Ihr Leben ist beschwerlich, schöne Momente gibt es kaum.

„Es gibt keinen Augenblick am Tag, der nicht ausgefüllt ist, keinen Augenblick, der nicht der Arbeit und der Angst vor dem Hunger gewidmet ist. Schmerz und Dreck schreiben sich mit jedem Lebensjahr tiefer in unsere Körper, so dass man uns leicht lesen kann. Wir belohnen uns mit unserem Glauben, unseren Festen und dem Wissen um die Erlösung nach dem Tod.“

Bis sie Yael kennenlernt. Bis sie Fragen stellt und Antworten sucht. Langsam wächst etwas in ihr. Wächst ein Zweifel und ein Wille und eine Wut. Weil man, wenn man immer nur unterdrückt wird, resigniert, und aus dieser Resignation entsteht Zorn, der zum Handeln zwingt. Weil man sich als Frau in einer männerregierten Welt nur nach einem sehnt: Freiheit.

„Ich möchte auch nur mir selbst gehören. Wenn du dir nicht selbst gehörst, bist du nicht frei.“

Karen Köhler hat ein Buch geschrieben, das wehtut. Sie hat so klare, dichte, schöne Worte gefunden für einen Freiheitskampf, für eine Emanzipation, dass ich viele Sätze zweimal, dreimal lese, einfach, weil sie perfekt austariert sind. Ich kann sehen, wie sie es gemacht hat, ich kann all die Mechanismen sehen, und ich ziehe meinen Hut vor ihr. Das ist ein Roman, er ist fiktiv und gleichzeitig nicht, eine Religion hat sie erfunden und ein Dorf und eine Frau, und gleichzeitig nicht: Alles davon ist wahr, ist so geschehen tausendfach auf dieser Welt. Es ist ein Buch, das Männer nie auf dieselbe Art lesen werden wie wir Frauen, nie auf dieselbe Art verstehen werden. Es rührt an einen tiefen, alten Urschmerz, den wir von unseren Müttern erben und in jeder Gesellschaft sehen und am eigenen Leib spüren. Es ist nur logisch, dass die alten weißen Männer sich jetzt ereifern, dass sie wettern und toben, denn Karen Köhler hat ihnen ihr geliebtes Patriarchat angezündet, und das macht ihnen Angst. Weil es ihnen zeigt, was noch kommen wird.

Miroloi von Karen Köhler ist erschienen bei Hanser (ISBN 978-3-446-26171-6, 464 Seiten, 24 Euro).